Nervenheilkunde 2023; 42(12): 895-897
DOI: 10.1055/a-2106-0341
Leserbrief

Walter H, Haaf R, Köhler S. Therapiemöglichkeiten der Depression nach Non-Response

Nervenheilkunde 2023; 42 (7): 419–429

Wir danken den Herausgebern und Autoren für den insgesamt gut recherchierten und auf dem Hintergrund der deutschen Leitlinie (LL) zur unipolaren Depression verfassten Artikel. Die Anlehnung an die LL führt leider auch zu einer bedauerlichen speziellen Ausblendung bei der Diskussion “… weiterer Therapieoptionen sowie Basismaßnahmen jenseits der Standardtherapien ….“ Dies betrifft die inzwischen doch recht starke Evidenz der antidepressiven Wirksamkeit manueller Therapieverfahren und insbesondere verschiedener Formen der Massage, mit der sich unsere Arbeitsgruppe seit vielen Jahren theoretisch und empirisch-klinisch beschäftigt [1] und die z. B. in einem neuen Buch zur therapieresistenten Depression ihren positiven Niederschlag gefunden hat [2]. Uns leitet dabei eine Konzeption von Depression, die diese im Sinne von Merleau-Ponty, v. Gebsattel, Tellenbach, Fuchs u. a. [3], [4] primär als eine Leibkrankheit ansieht. Auf diesem Hintergrund werden die vielfachen somatischen Erscheinungsweisen der Depression, wie sie z. B. die Psychoanalytikerin und Körpertherapeutin Helga Pohl eindrucksvoll beschrieben und daraus eine spezifische Körpertherapie abgeleitet hat, bedeutsam [5], auch im Rahmen des Embodiment-Konzepts [6] und der vielfach diskutierten theoretischen und praktischen Ansätze , welche die Depression primär als eine Störung interozeptiver Prozesse ansehen [7]. Der klinische Psychologe Moyer kam schon 2004 in einem Literaturreview zum Ergebnis, dass sich aus den seinerzeit vorhandenen Massagestudien bei Depression und Angsterkrankungen eine Effektstärke ergibt, die der von Psychotherapie vergleichbar ist [8]. In einem systematischen Literaturreview haben wir alle zwischen 1995 und 2011 publizierten kontrollierten Studien sorgfältig analysiert und kamen zum Ergebnis, dass sich in ihrer Mehrheit eine eindeutige antidepressive Wirksamkeit verschiedener Massagetherapien ergibt, wie es auch aus den zahlreichen Studien von Tiffany Field, Leiterin des Touch Research Institute in den USA schon hervorging [9]. Neben unserer eigenen kontrollierten Studie [10] sind inzwischen in Deutschland 2 weitere kontrollierte Studien erschienen, die allesamt auf der Anwendung psychoaktiver Massagen mit dem Schwerpunkt „affective touch“ beruhen und jeweils eine statistisch signifikante Überlegenheit der Massagetherapie gegenüber geeigneten Kontrollbedingungen überzeugend gezeigt haben. Die besonderen Eigenschaften des affective touch sind inzwischen vielfach neurophysiologisch und psychologisch untersucht worden, dies ist der wissenschaftliche Schwerpunkt z. B. der IASAT (International Association for the Study of Affective Touch). Es mag eingewandt werden, dass die meisten dieser Studien nicht an therapieresistenten Depressiven durchgeführt wurden, was aber für einen Teil, der im besagten Artikel aufgeführten komplementärmedizinischen Alternativen auch gelten mag. Dies sollte uns jedoch angesichts des oft großen Leids, das therapieresistente Depressive zu ertragen haben, nicht davon abhalten einen Therapieversuch mit einem berührungsmedizinischen Verfahren, das seine antidepressive und wissenschaftlich begründbare Wirksamkeit längst unter Beweis gestellt hat, zu initiieren. Es ist schon früher aufgefallen, dass depressive Patienten, wenn sie in ihrer Verzweiflung alternativen Verfahren sich zuwenden, dabei insbesondere Massagen präferieren [11].

Univ.-Prof. em. Dr. med. Bruno Müller-Oerlinghausen, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Berlin Medizinische Hochschule Brandenburg Theodor Fontane, Neuruppin Michael Eggart, Medizinische Hochschule Brandenburg Theodor Fontane, Neuruppin



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
13. Dezember 2023

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  • Literatur

  • 1 Müller-Oerlinghausen B. et al Berührungsmedizin – ein komplementärer therapeutischer Ansatz unter besonderer Berücksichtigung der Depressionsbehandlung. Dtsch Med Wochenschr 2022; 147: e32-e40
  • 2 Juckel G, Berghöfer A, Hoffmann K.. Komplementärmedizinische Verfahren bei therapieresistenten Depressionen. In: Bauer M, et al. Hrsg. Therapieresistenz bei Depressionen und bipolaren Störungen. Berlin: Springer; 2022
  • 3 Fuchs T. Depression, intercorporeality, and interaffectivity. Journal of Consciousness Studies 2013; 20: 219-238
  • 4 Fuchs T. Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie. 2. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta; 2018
  • 5 Pohl H. Unerklärliche Beschwerden? Chronische Schmerzen und andere Leiden körpertherapeutisch verstehen und behandeln. München: Knaur; 2010
  • 6 Storch M. et al Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen. 3. Aufl. Bern: Hogrefe; 2017
  • 7 Eggart M. et al Major depressive disorder is associated with impaired interoceptive accuracy: a systematic review. Brain Sci 2019; 09: 131 DOI: 10.3390/brainsci9060131.
  • 8 Moyer CA, Rounds J, Hannum JW. A meta-analysis of massage therapy research. Psychol Bull 2004; 130: 3-18
  • 9 Baumgart S, Müller-Oerlinghausen B, Schendera CF. Wirksamkeit der Massagetherapie bei Depression und Angsterkrankungen sowie bei Depressivität und Angst als Komorbidität – Eine systematische Übersicht kontrollierter Studien. Phys Med Rehab Kuror 2011; 21: 167-182
  • 10 Müller-Oerlinghausen B. et al Effects of slow-stroke massage as complementary treatment of depressed hospitalized patients. Results of a controlled study (SeSeTra). Dtsch Med Wochenschr 2004; 129: 1363-1368
  • 11 Wu P. et al Use of complementary and alternative medicine among women with depression: results of a national survey. Psychiatr Serv 2007; 58: 349-356
  • 12 Bschor T. Antidepressiva. Wie man sie richtig anwendet und wer sie nicht nehmen sollte. München: Südwest Verlag; 2018
  • 13 Rink L. et al Dose-response relationship in selective serotonin and norepinephrine reuptake inhibitors in the treatment of major depressive disorder: A meta-analysis and network meta-analysis of randomized controlled trials. Psychother Psychosom 2022; 91: 84-93
  • 14 Sørensen A, Ruhé HG, Munkholm K. The relationship between dose and serotonin transporter occupancy of antidepressants – A systematic review. Mol Psychiatry 2022; 27: 192-201
  • 15 Baethge C. et al Dose effects of tricyclic antidepressants in the treatment of acute depression – A systematic review and meta-analysis of randomized trials. J Affect Disord 2022; 307: 191-198
  • 16 Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression – Langfassung, Version 3.0., 2022 www.leitlinien.de/depression
  • 17 Hiemke C. et al Consensus guidelines for therapeutic drug monitoring in neuropsychopharmacology: Update 2017. Pharmacopsychiatry 2018; 51: 9-62
  • 18 Henssler J. et al Combining antidepressants vs antidepressant monotherapy for treatment of patients with acute depression: A systematic review and meta-analysis. JAMA Psychiatry 2022; 79: 300-312
  • 19 Bschor T. et al Switching the antidepressant after nonresponse in adults with major depression: a systematic literature search and meta-analysis. J Clin Psychiatry 2018; 79 (01) 16r10749
  • 20 Henssler J. et al Combining Antidepressants vs Antidepressant Monotherapy for Treatment of Patients With Acute Depression: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA Psychiatry 2022; 79 (04) 300-312