PiD - Psychotherapie im Dialog 2024; 25(02): 109
DOI: 10.1055/a-2124-0276
Lesenswert

Francesca Melandri: Eva schläft

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Wagenbachs Taschenbuch, 12. Aufl. 2022, Originalausgabe 2010, ISBN 9783453409361, 448 Seiten, 16 €

Zunächst eine Vorbemerkung: Warum besprechen wir ein Buch, das im Original bereits vor mehr als 10 Jahren und jetzt in der 12. Auflage erschienen ist? Wir wurden selbst durch einen Freund darauf aufmerksam gemacht, haben es inzwischen mehrfach im Bekannten- und Freundeskreis verschenkt. Niemand kannte es, es stieß aber immer auf große Lesefreude. Deswegen sind wir der Ansicht, dass das Buch einen größeren Bekanntheitsgrad verdient hat.

Der Roman nimmt uns Leser*innen auf zwei entgegengesetzte Zeitreisen mit: Vom Heimatort Evas in Südtirol geht es Kilometer für Kilometer im Zug nach Sizilien zum letzten Besuch des so wenig bekannten Ersatzvaters auf seinem Sterbebett, angereichert durch Zugbegegnungen und Facetten aus Evas Erwachsenenleben. Durchwoben wird diese Zeitreise durch einen zweiten Strang: Die politischen und familiengeschichtlichen Kontextfaktoren der Zeit vom ersten Weltkrieg (der Abtretung Südtirols an Italien) bis zur autonomen Provinz in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Auf Evas langer Zugreise von 1397 km in den äußersten Süden Italiens werden wir im Zeitraffer mit der Geschichte ihrer Heimat, mit Brüchen in Biografien und Tod, mit Säuberungen und Identitätsverboten konfrontiert. So verliert der Großvater der Erzählerin zeitgleich seine Eltern sowie seine Heimat – er wird von Mussolini, wie alle Südtiroler, vor die Wahl gestellt, sich zu italienisieren und dabei alles Deutschkulturelle radikal hinter sich zu lassen oder als Deutscher ins Hitlerreich zu ziehen und damit seine Heimat zu verlieren. Gleichzeitig beginnt die Italienisierung Südtirols mit zwangsweise umgesiedelten Menschen aus südlichen Regionen Italiens, die ebenfalls heimatlos werden und in ihrer neuen Heimat mit Anschlägen, Terrorakten und Feindseligkeit konfrontiert werden. Opfer sind auf allen Seiten zu betrauern.

Die Erzählung lebt zentral von der starken Frauenfigur Gerda, Evas Mutter, die ihre uneheliche Tochter über alles liebt, sie aber neben ihrer Arbeit in der Küche eines großen Hotels in Bozen kaum versorgen kann, sie an eine entfernt verwandte Familie abgeben muss, um ihre Arbeit zu behalten. Vito, ein italienischer Offizier, erweist sich als die glückliche Wendung in ihrem Leben, erstmals erfahren Gerda und ihre Tochter Zuneigung und echten Respekt, bis die politischen Bedingungen die Nicht-Lebbarkeit dieser Beziehung erzwingen. Tragischerweise ist es aber auch Gerda, die Jahre später die versuchte Kontaktaufnahme Vitos zu Eva untergräbt und damit die Dominanz gesellschaftlicher Kontextfaktoren über die Freiheit des Individuums akzeptiert. Diese Freiheit, und das ist ein hoffnungsgebender Aspekt dieses mitreißenden Romans, erobert sich Eva in ihrem facettenreichen Leben auch mit ihrer Entscheidung zurück, statt die Feiertage bei ihrer Mutter zu verbringen, die Reise zu ihrem nahezu unbekannten Ersatzvater kurz vor seinem Tod anzutreten. So wie Südtirol im Verlauf der jüngeren Geschichte nach seinen Wurzeln sucht, sucht auch Eva die Wurzeln ihrer Kindheit am Sterbebett von Vito.

Ein faszinierender Roman über Zerrissenheit, Verlust, gesellschaftliche Ächtung, ethnische Säuberungen einerseits und Anstand, Würde und Identität andererseits in einer Region, die uns seit Jahrzehnten fast ausschließlich friedlich-idyllisch-touristisch begegnet.

Andrea Dinger-Broda und Michael Broda, Bad Bergzabern



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Article published online:
27 May 2024

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