Z Sex Forsch 2023; 36(03): 178-179
DOI: 10.1055/a-2133-1021
Bericht

Wir und die Anderen? Binarität und Identität in der Herausforderung

Bericht von der Jahrestagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft
Jule Räuchle
Institut für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
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Zu ihrer Jahrestagung „Jenseits der Binarität? Sexuelle Identitäten in der Herausforderung“ lud die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft (DPG) vom 8. bis 11. Juni 2023 nach Weimar ein. Es galt, „dem Unbehagen nach[zu]spüren, das mit der zunehmenden Infragestellung der Geschlechtergrenzen und der tendenziellen Auflösung der Geschlechtergewissheiten einhergeht“; dabei hoffe man auf einen lebendigen Austausch – so Klaus Grabska, ehemaliger DPG-Vorsitzender, und Ada Borkenhagen, Leiterin der Vorbereitungsgruppe, in der Tagungseinladung. Nicht zuletzt durch die Nähe zum KZ Buchenwald mengte sich in dieses Unbehagen auch die Schuld gegenüber queeren und trans* Personen aufgrund diskriminierender und ausschließender Praktiken psychoanalytischer Fachgesellschaften allgemein sowie der DPG im Besonderen, die während der NS-Zeit in Zusammenarbeit mit dem faschistischen Regime Konversionstherapien durchführte. Erwähnt, doch weitgehend undiskutiert blieben die Folgen, wie das Fehlen queerer, nicht-weißer Perspektiven und der Einfluss dieses Erbes auf die stattgefundenen Reflexions- und Denkversuche von Gender und Körperlichkeit jenseits des Binären. Prägnant zeigte sich die diskursive Spannung der Tagung zwischen Queer-Theorie und Psychoanalyse in Bezügen der Vortragenden auf die Kritik des Queertheoretikers Paul Preciado, der 2019 auf der Jahreskonferenz der École de la Cause Freudienne die Transfeindlichkeit psychoanalytischer Theorie und Fachgesellschaften thematisierte. Die Tagung theoretisch ebenso kennzeichnend waren die vielgestaltigen Bezüge auf Jean Laplanche und dessen Arbeiten zu Geschlechtlichkeit in seiner allgemeinen Verführungstheorie.

Im Eröffnungsvortrag sprach Eckehard Pioch, erster Vorsitzender der DPG, direkt das thematisch zentrierte Unbehagen und die Unsicherheit der Psychoanalyse bzgl. trans* und Genderqueerness an, welche er allgemeiner als Spezifikum unserer Gegenwart und Gesellschaft betrachtet. Im Zuge der emotionalen Aufladung des Diskurses um trans* sprach Pioch sich gegen eine therapeutische Haltung der unkritischen Affirmation aus. Vielmehr seien Ambivalenzen auszuhalten und sei sich weiterhin auch für das „Warum“ sowie die Wünsche und Ängste gendernonkonformer Personen zu interessieren. Es gelte, die technische Neutralität zu wahren, gleichsam offen, z. B. für individuelle Pronomen, wie wachsam zu bleiben, wenn Patient*innen in der Behandlung einen Safe Space forderten, denn eine Psychoanalyse sei inhärent verunsichernd. Obwohl diese Haltung Piochs vielen der Anwesenden zu entsprechen schien, erfuhr der aus soziologischer Perspektive vorgetragene Widerspruch, wonach die beschriebene Verunsicherung weder ein Spezifikum der Moderne noch allgemein geteilt sei, ebenso großen Zuspruch. Vielmehr seien (sexuelle) Freiheitsgewinne schon immer präsent und für jene außerhalb hegemonialer Positionen eher versichernd wirksam. Ebenso kritisch und gleichzeitig undogmatisch fuhr Dagmar Herzog, Historikerin am Graduate Center der City University of New York, fort, indem sie mit den Beiträgen psychoanalytischer Dissident*innen das Potenzial des Widerständigen der Psychoanalyse betonte. Oft seien es die wenig anerkannten Außenseiter*innen – z. B. Karen Horney, Robert Stoller, Fritz Morgenthaler, oder Paul Parin – gewesen, die das psychoanalytische Gedankengebäude mit ihrem Blick über den Tellerrand retteten. Denn als eine zentrale Erkenntnis ihrer historischen Analysen benannte Herzog die Ausblendung gesellschaftspolitischer Verhältnisse aus dem Mainstream psychoanalytischer Theorie und Praxis, mit denen jene allerdings profund und chaotisch verstrickt sei. Mit Herzog lässt sich für eine Politisierung des Psychischen werben. So bezeichnete sie die Psychoanalyse als eine unverzichtbare Ressource für die Kämpfe der Gegenwart. Dagmar Herzogs Analysen der Geschichte der Psychoanalyse, „Cold War Freud: Psychoanalyse in einem Zeitalter der Katastrophen“, erinnern an ihr subversives Potenzial und wirken so ihrer Selbst-Mystifizierung auf wohlwollende Art entgegen. Hierfür wurde Herzog mit dem Sigmund-Freud-Kulturpreis ausgezeichnet.

Den nächsten Kongresstag zum Thema Gender eröffnete Paula-Irene Villa-Braslavsky, Soziologin der LMU München, mit einem Vortrag, der Leid und Lust der chronischen Liminalität, d. h. der gleichzeitigen Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit, von Körper und Gender darlegte, welche die Moderne im Kern trage. Demnach sei die menschliche Positionalität immer eine zweifache, einerseits zentrische, aktiv steuerbare, andererseits passiv eigensinnige, was eine gleichzeitig hochdynamische wie träge Subjektivität bilde. Diese Dynamik schaffe simultan Gestaltungsspielräume und Freiheitsgewinne wie Zwänge zur Selbstgestaltung und kränkende Autonomieverluste. Gender bezeichnete Villa-Braslavsky als „eigentlich uneigentlich“, als „Chimäre der modernen Gesellschaft“. Der starke, auch libidinös erregte Affekt gegenwärtiger Debatten sei deshalb ernst zu nehmen, denn er verweise auf die substanzielle Eigentlichkeit. Auch der Vortag von Esther Hutfless, Psychoanalytiker*in und Philosoph*in aus Wien, zeigte eine kritisch-theoretische Prägung, indem Hutfless aus queerer, non-binärer Perspektive und mit Preciado die allgemeine Verführungstheorie in ihren Implikationen für Gender und Identität präzisierte. Geschlecht sei mit Laplanche am ehesten im Sinne einer Frage ohne Antwort zu verstehen, die stets wiederkehrt. Jene Dekonstruktion führe zwar unweigerlich auch zu neuen Konstruktionen, die jedoch das Potenzial hätten, bewusst und komplexer und somit weniger starr und ausschließlich zu werden. Hutfless kritisierte die fehlende umfassende Revision psychoanalytischer Theorie nach der Entpathologisierung der Homosexualität und konstatierte eine Übertragung unredigierter Konzepte und Urteile auf trans* Personen. Hutfless schlug so erstens vor, das Sexuelle nach dem Sexualen Laplanches umzudenken, das ein dezentrales, gespaltenes Subjekt zeichnet und sich außerhalb von Binarität befindet. Zweitens ermutigte Hutfless anstelle einer Logik der Differenz zu einer „Ethik der différance“ im Sinne Jacques Derridas, die Spur, Aufschub und das sich Entziehende betont, um so bezüglich Gender im Fragen, Werden und im Rätselhaften zu bleiben.

Die New Yorker Analytikerin Avgi Saketopoulou eröffnete den Samstag, der unter dem Thema trans* stand, mit einer traumazentrierten Perspektive auf Laplanches allgemeine Verführungstheorie. Gender versteht sie als Erworbenes, von außen Gestiftetes, welches sich jedes Individuum kompromisshaft aneignet. Beziehungstraumatisierungen seien in diesen Prozess und so in die Identität eingewoben. Prägnant forderte Saketopoulou eine aktive Haltung bezüglich trans*, die keine rein affirmative, allerdings auch keine diskreditierende ist. Vielmehr solle die Psychoanalyse sich theoretisch wie praktisch auf die Möglichkeiten des aktuellen und zukünftigen Werdens von Personen und ihren Geschlechtlichkeiten einlassen, deren nuancierte Komplexität wertschätzen und ihnen „die Würde des Glaubens gewähren“ (übersetzt von JR). Inbegriffen heiße das, trans* Personen in analytischer Ausbildung nicht nur zu tolerieren und zu integrieren, sondern zu wollen und zu fördern. Es gelte für Analytiker*innen, auch introspektiv zu verstehen, wie das Sexuelle in und mit ihnen arbeite, z. B. in Momenten des Unverständnisses, Schocks und der Differenz mit trans* Patient*innen. Diese Momente markierten im Sinne des Sexualen eine „Begegnung mit dem Anderen“ (übersetzt von JR) in uns, welches, wenn wir uns ihm zuwenden, über die eigene Betroffenheit ein tieferes Erkunden und Verstehen von trans* und Genderqueerness ermöglichen könne. Auch Ulrike Kadi, Philosophin und Psychoanalytikerin aus Wien, erinnerte in ihrem Vortrag, der die Natur des Sexualen in Theorie und Manifestation im Traum ergründete, daran, dass eine Psychoanalyse stets eine Zustimmung in Erfahrungen mit dem eigenen und anderen Sexualen beinhalte, was Analysierende wie Analysand*innen vor die unlösbare Aufgabe stelle, einem nicht sprachlich fassbaren Zustand Worte zu verleihen. Das Sexuale als affektive, unsignifizierte Erfahrung werfe so immer wieder Fragen auf und bedürfe konzeptueller Ergänzungen, insbesondere seine Übersetzung betreffend.

„The most normal part about me is my transition“ – im Film „Genderation“ kamen queere und trans* Stimmen am Nachmittag selbst zu Wort. Regisseur*in Monika Treut zeichnet 20 Jahre nach „Gendernauts“ (1999) in einem filmischen Wiedersehen mit Freund*innen ein berührendes Porträt von deren kraftvoller Lebendigkeit und Zartheit bei gleichzeitiger Ermüdung angesichts der Kämpfe um gendernonkonformes Leben und queere Räume in den USA – ein Glanzlicht der Tagung.

Mit einem thematischen Sprung zur Triebtheorie eröffnete die Kulturwissenschaftlerin und Psychoanalytikerin Monika Gsell aus Zürich den Tagungssonntag zum Thema Homosexualität mit einer Ein- und Weiterführung von Judith Le Soldats Konzeption männlicher, promiskuitiver Homosexualität, die Gsell als trieborientierte Traumatheorie verstanden wissen will. In Le Soldats Beschreibung aggressiver, passiver Triebwünsche sieht sie den Versuch der triumphalen Bewältigung eines realen Traumas im Sinne Stollers. Gleichzeitig habe Sexualität auch immer eine nicht-traumatische Funktion. Um die individuelle Relevanz des Traumatischen sowie die Patient*innen in ihrer jeweiligen Gewordenheit zu verstehen, brauche es vielfältige Blickwinkel und Ansätze, die über das Triebtheoretische hinausreichten. Auch Almut Rudolf-Petersen und Falk Stakelbeck aus München unternahmen in ihrem gemeinsamen Vortrag zur Frage „Gibt es Homosexualität?“ den Versuch eines gegenseitigen Austauschens, Kritisierens und Beleihens triebtheoretischer und queertheoretischer Konzepte zu Geschlechtlichkeit und Sexualität. In der Diskussion zur Verbindung jener Ansätze wurde wiederum Laplanche benannt, jedoch auch auf Morgenthalers Primat der Technik verwiesen, wonach Patient*innen, nicht Konzepte im Vordergrund stehen müssten. Denn in einem waren sich beide einig: sich nie zu sicher zu sein. In diesem Sinne beendete auch Eckehard Pioch Tagung: Man sei stark ins Nachdenken gekommen. Angesichts jener Aufbrüche, die manche mit Hoffnung und andere mit Beunruhigung erfüllten, betonte Pioch die Einigkeit als Fachgesellschaft.

Die Tagung überzeugte durch die selbstkritische Auswahl interdisziplinärer Vortragender, und insbesondere die ersten beiden Tage zeichneten sich durch eine theoretische wie kritische Dichte aus. Die überwiegend queertheoretische Prägung machte als Gegengewicht zum allgemeinen psychoanalytischen Diskurs den Gewinn der Tagung aus. Produktive Auseinandersetzungen fanden vor allem zu Themen des Verstehens von und Sprechens mit und über Personen jenseits des Binären statt. Die Tagung lieferte wertvolle Denkanstöße zu jenen Fragen um Sexualität und Geschlechtlichkeit, die bleiben: Wie viel scheinbar Grundlegendes psychodynamischer Theorie sind wir bereit neu zu bewerten, zu modifizieren oder gar aufzugeben? Inwiefern lassen wir andere Perspektiven, seien es die gendernonkonformer Personen oder anderer Professionen, in unser Denken und Fühlen hinein? Und was macht das mit der psychoanalytischen und der eigenen Identität? Anders gefragt: Wie sehr wollen wir uns gemein oder gar betroffen machen – und letztlich politisieren?



Publication History

Article published online:
12 September 2023

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