Gesundheitswesen 2024; 86(04): 315-321
DOI: 10.1055/a-2144-5841
Zur Diskussion

Pandemie-Management in Unterkünften für Geflüchtete – Ergebnisse einer mixed methods-Studie während der COVID-19-Pandemie.

Management Of Covid-19 Pandemic In Shelters For Asylum Seekers: Results From A Mixed Methods Study.
Amand Führer
1   Institut für Medizinische Epidemiologie, Biometrie und Informatik, Profilzentrum Gesundheitswissenschaften, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), Germany
2   Lehrstuhl für Versorgungsforschung, Fakultät für Gesundheit, Department für Humanmedizin, Universität Witten/Herdecke, Witten, Germany
,
Latife Pacolli-Tabaku
2   Lehrstuhl für Versorgungsforschung, Fakultät für Gesundheit, Department für Humanmedizin, Universität Witten/Herdecke, Witten, Germany
,
Paula Kompa
1   Institut für Medizinische Epidemiologie, Biometrie und Informatik, Profilzentrum Gesundheitswissenschaften, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), Germany
,
Yüce Yılmaz-Aslan
2   Lehrstuhl für Versorgungsforschung, Fakultät für Gesundheit, Department für Humanmedizin, Universität Witten/Herdecke, Witten, Germany
3   Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universität Bielefeld, Bielefeld, Germany
,
Patrick Brzoska
2   Lehrstuhl für Versorgungsforschung, Fakultät für Gesundheit, Department für Humanmedizin, Universität Witten/Herdecke, Witten, Germany
› Author Affiliations

Zusammenfassung

Hintergrund Geflüchtete sind in Deutschland oft in Sammelunterkünften untergebracht, in denen ihr Einfluss auf die Alltagsgestaltung stark beschränkt ist. Während der COVID-19-Pandemie standen die Sammelunterkünfte daher in der besonderen Verantwortung, Maßnahmen zu ergreifen, um die Gesundheit der Bewohner zu schützen. Im Rahmen einer mixed methods-Studie wurde untersucht, wie diese Aufgabe bewältigt wurde und wie sich die Pandemie auf den Alltag in Sammelunterkünften ausgewirkt hat, um daraus Empfehlungen für die Praxis abzuleiten.

Methoden In einem ersten Schritt wurde die Literatur zum Umgang mit Ausbrüchen infektiöser Erkrankungen in Sammelunterkünften für Geflüchtete in einem Scoping Review analysiert. Auf den Ergebnissen des Reviews aufbauend, wurde dann das Pandemie-Management in einem Online-Survey und parallel dazu in Interviews mit Experten und Bewohnern von Sammelunterkünften untersucht. In einem dritten Schritt wurden die Ergebnisse der vorangehenden Schritte zusammengefasst und mit einem Experten-Panel diskutiert. In zwei Diskussionsrunden im Abstand von zwei Monaten wurden mit dem Experten-Panel Empfehlungen für die Praxis entwickelt.

Ergebnisse Die in der Untersuchung erfassten Sammelunterkünfte waren unzureichend auf die Pandemie vorbereitet und haben oft erst im Verlauf der Pandemie Krisenpläne entwickelt. Häufig sahen die Krisenpläne die Etablierung von Krisenstäben vor, in denen die Interessen und Perspektiven der Bewohner der Einrichtungen jedoch in der Regel nicht vertreten waren. Dies hat in der Folge zu Problemen geführt: Pandemiemaßnahmen wurden häufig nicht rechtzeitig oder nicht ausreichend verständlich kommuniziert; durch Maßnahmen entstehende Versorgungslücken wurden nicht erkannt und nicht adressiert; und mit der Pandemie und Quarantänemaßnahmen einhergehende psychosoziale Belastungen wurden nicht ausreichend abgefedert.

Schlussfolgerung
• Sammelunterkünfte für Geflüchtete sollten unabhängig von der Pandemie Mechanismen etablieren, um die Interessen und Perspektiven der Bewohner strukturiert in Entscheidungsprozesse zu integrieren.
• Je nach Art der Sammelunterkunft sollte dies durch Einbindung von Bewohnern in Entscheidungsgremien oder eine andere geeignete Interessenvertretung verwirklicht werden.
• Während der Pandemie eingeführte Maßnahmen, die sich negativ auf die psychosoziale Situation der Bewohner auswirken können, sollten beendet werden, sobald ihre seuchenhygienische Rechtfertigung nicht mehr gegeben ist.

Abstract

Background Refugees in Germany are often housed in shelters, where their influence on the organization of everyday life is severely limited. During the COVID-19 pandemic, these shelters therefore had a special responsibility to take measures to protect the health of their residents. The aim of this research project was to examine how this task was managed and how the pandemic affected daily life in refugee shelters, with the aim to formulate recommendations for practice.

Methods Using a mixed-methods study, the first step was a scoping review of the literature on the management of infectious disease outbreaks in refugee shelters. Building on the findings of the review, management of the pandemic was then explored in an online survey and in interviews with experts and residents of shelters. In a third step, the results of the preceding steps were summarized and discussed with a panel of experts. Recommendations for practice were developed with the expert panel in two discussion rounds two months apart.

Results The refugee shelters included in the study were inadequately prepared for the pandemic and often did not develop contingency plans until the pandemic was underway. In many cases, the contingency plans included the establishment of crisis teams, but the interests and perspectives of facility residents were generally not represented by these teams. This subsequently led to problems: Pandemic measures were often not communicated in a timely or sufficiently understandable manner, gaps in care resulting from measures were not identified or addressed, and psychosocial stresses associated with the pandemic and quarantine measures were not adequately mitigated.

Conclusion
• Refugee shelters should establish mechanisms to integrate residents’ interests and perspectives into decision-making processes in a structured manner, regardless of the pandemic.
• Depending on the type of shelter, this should be realized through resident involvement in decision-making bodies or other appropriate representation of interests.
• Measures introduced during the pandemic that may have a negative impact on the psychosocial situation of residents should be terminated as soon as the epidemic justification for the measures no longer applies.



Publication History

Article published online:
10 October 2023

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