Schlüsselwörter
Typ-2-Diabetes - Frühe Nutzenbewertung - Zusatznutzen - Vergleichstherapie - type-2-diabetes
- early benefit assessment - additional benefit - appropriate comparator therapy
Hintergrund
Im Grunde stellt sich bei allen Dingen, die neu auf den Markt kommen und teurer als
die bislang verwendeten sind, die Frage: Steht den Mehrkosten auch ein entsprechender
Mehrwert gegenüber?
Bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln handelt es sich allerdings weniger um
eine persönliche Kaufentscheidung, sondern bis zur Therapieentscheidung erfolgt eine
Reihe anderer, externer Abwägungsprozesse, auf die der einzelne Patient nicht immer
direkt Einfluss hat. Um den Mehrwert eines Arzneimittels für eine bestimmte Patientenpopulation
bewerten zu können, wurde im Jahr 2011 das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG)
in §35a SGB V [1] eingeführt, das auf systematisch recherchierten Fakten und den Methoden der evidenzbasierten
Medizin gründet.
Seitdem werden alle in Deutschland neu eingeführten Wirkstoffe dahingehend bewertet,
ob sich aus den vorliegenden Studien ein Zusatznutzen gegenüber dem allgemein anerkannten
Therapiestandard – der zweckmäßigen Vergleichstherapie (zVT) – ergibt. Es handelt
sich dabei in der Regel um eine frühe (Zusatz-) Nutzenbewertung, denn nach der initialen
Bewertung zu Markteintritt werden Folgebewertungen nur bei Indikationserweiterungen,
Befristungen oder neuen Ergebnissen aus klinischen Studien durchgeführt.
Das Verfahren folgt strengen, formalen Regeln, die für Behandler aus der klinischen
Praxis oder für Patientinnen und Patienten nicht leicht nachzuvollziehen sind, besonders
wenn man durch Verordnungspraxis oder Anwendung der Wirkstoffe unmittelbar mit Wirkung,
Nebenwirkung und gegebenenfalls auch Kosten dieser Arzneimittel konfrontiert ist.
Eckpunkte des Verfahrens
Das Nutzenbewertungsverfahren beginnt mit der Einreichung eines Dossiers für das zu
bewertende Arzneimittel beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Der pharmazeutische
Unternehmer (pU) hat darin alle verfügbaren klinischen Daten zu dem Wirkstoff in der entsprechenden Indikation nach
einer vorgegebenen Struktur und vorgegebenen Fragestellung transparent aufzubereiten.
Die vorgelegten Unterlagen sind innerhalb von 3 Monaten methodisch zu bewerten. Dafür
beauftragt der G-BA in der Regel – außer bei Orphan Drugs – das Institut für Qualität
und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Dessen Dossierbewertung wird veröffentlicht
und der G-BA führt dazu anschließend ein schriftliches und mündliches Stellungnahmeverfahren
durch. In diesem Stellungnahmeverfahren wird sich nicht nur vom betroffenen pharmazeutischen
Unternehmen geäußert, sondern auch von Fachgesellschaften, klinischen Einzelsachverständigen,
der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) und Konkurrenzunternehmen.
Unter Einbeziehung aller Einlassungen, der Dossierbewertung, des Dossiers des pU und
unter Beteiligung von Patientenvertretern wird am Ende die abschließende Entscheidung
zum Zusatznutzen durch den G-BA getroffen. Der G-BA-Beschluss ist dann Grundlage
für nachfolgende Erstattungsbetragsverhandlungen des GKV-Spitzenverbandes mit den
Unternehmen. Auch für diese Verhandlungen gibt es seit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz
[2] sehr genaue Vorgaben.
Eckpunkte der Bewertung
Die Feststellungen zum Zusatznutzen sind graduiert. Einerseits gibt es Qualitätsunterschiede
im Ausmaß des Zusatznutzens gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie (erheblicher, beträchtlicher, geringer oder nicht quantifizierbarer Zusatznutzen;
Zusatznutzen ist nicht belegt; geringerer Nutzen) und andererseits wird mit den Begriffen Beleg, Hinweis oder Anhaltspunkt abgestuft,
wie sicher die Aussage zum Zusatznutzen ist. Die Aussagesicherheit ist abhängig von
der Qualität der klinischen Studie und methodischen Güte der Analysen. In der Regel
sind die Unsicherheiten in der Bewertung am geringsten, wenn direkt gegenüber der
zVT vergleichende RCTs vorliegen. Welche Bedingungen für die unterschiedlichen Kategorien
des Ausmaßes des Zusatznutzens erfüllt sein müssen, um beispielsweise einen geringen
oder beträchtlichen Zusatznutzen zu erreichen, ist in Eckpunkten in einer Rechtsverordnung,
der Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordung (AM-NutzenV) [3] geregelt. Die Höhe des Ausmaßes leitet sich aus der Gesamtschau der Effektgrößen
der Studienergebnisse im Vergleich zur zVT ab. Dabei werden den Wirksamkeitsendpunkten
die Schadensendpunkte gegenübergestellt. Wesentlich bei der Auswahl der betrachteten
Endpunkte ist gemäß AM–NutzenV die Bewertung der Patientenrelevanz. Die für Kliniker
in Bezug auf die weitere Therapieentscheidung relevanten Laborparameter sind für die
Patientinnen und Patienten in ihrem Alltag bedeutungslos, wenn damit keine Symptome
verbunden sind. Dies Endpunkte werden in der Regel für die Nutzenbewertung nicht herangezogen.
Festlegung der zweckmäßigen Vergleichstherapie
Festlegung der zweckmäßigen Vergleichstherapie
Dreh- und Angelpunkt bei den Bewertungen ist allerdings die Bestimmung der zweckmäßigen
Vergleichstherapie (zVT). Bei dieser muss es sich um einen fairen Vergleich im Anwendungsgebiet
des neuen Wirkstoffes handeln, denn an der zVT bemisst sich das Ausmaß des Zusatznutzens
und folglich später der Preis. Die zVT hat gemäß den Regelungen in der AM–NutzenV
vorgegebenen Kriterien zu entsprechen: Es muss sich um eine zugelassene, erstattungsfähige
Therapie handeln, die sich anhand der internationalen Standards der evidenzbasierten
Medizin bestimmen lässt. Sie muss eine nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen
Erkenntnisse zweckmäßige Therapie im Anwendungsgebiet sein, vorzugsweise eine Therapie,
für die Endpunktstudien vorliegen und die sich in der praktischen Anwendung bewährt
hat. Um diese Kriterien zu prüfen, wird neben einer Übersicht über zugelassene Arzneimittel
und einer systematischen Aufbereitung der Evidenzlage vor der Festlegung der zVT die
klinische Sichtweise in Bezug auf den Therapiestandard von den Fachgesellschaften
und der AkdÄ eingeholt. Auf Basis der Synthese dieser Informationen wird vom G-BA
schließlich die zu bewertende Patientenpopulation (oder auch mehrere Teilpopulationen
im Anwendungsgebiet) und die entsprechende zweckmäßige Vergleichstherapie festgelegt.
In der Nutzenbewertung werden die Studien daraufhin geprüft, inwiefern die festgelegte
zVT umgesetzt wurde.
Antidiabetika in der Nutzenbewertung
Antidiabetika in der Nutzenbewertung
Mittlerweile haben 23 Wirkstoffe oder fixe Wirkstoffkombinationen zur Behandlung des
Diabetes mellitus in insgesamt 50 Verfahren (Typ I und II) die frühe Nutzenbewertung
durchlaufen. Neben Wirkstoffen wie den DPP4-Inhibitoren – die zum Teil noch im Rahmen
der Bestandsmarktbewertung dem AMNOG Verfahren unterzogen wurden – ist mit den SGLT
2-Inhibitoren, Inkretinmimetika und neueren Insulinanaloga ein relevanter Teil der
in Deutschland verfügbaren Wirkstoffklassen nutzenbewertet. Für 5 Wirkstoffe oder
fixe Wirkstoffkombinationen der derzeit noch im Markt befindlichen und nutzenbewerteten
Wirkstoffe konnte mindestens in einer Patientengruppe ein Zusatznutzen gegenüber der
jeweiligen festgelegten zVT nachgewiesen werden (Dulaglutid, Sitagliptin, Empagliflozin,
Dapagliflozin, Dapagliflozin/Metformin [4]
[5]
[6]
[7]
[8]).
Ausgangspunkt für die Festlegung der Fragestellung für jede Nutzenbewertung ist grundsätzlich
das zugelassene Anwendungsgebiet. In der Indikation Diabetes mellitus Typ II ist das
Anwendungsgebiet in der Regel relativ einfach: die Behandlung des Typ II Diabetes
mellitus, wenn durch Diät und Bewegung keine angemessene Blutzuckerkontrolle erreicht
werden kann. Es wird in der Zulassung zudem je nach Arzneimittel die Monotherapie
– sofern die Einnahme von Metformin nicht angezeigt ist – und die Kombinationstherapie
mit anderen blutzuckersenkenden Arzneimitteln (inkl. Insulin) explizit adressiert.
Dieses scheinbar schlicht formulierte Anwendungsgebiet erlaubt den Einsatz der Arzneimittel
bei einer sehr breiten Patientenpopulation in unterschiedlichen Therapiesituationen
und führt dazu, dass die für die Nutzenbewertung relevante Fragestellung in verschiedene
Teilfragestellungen aufgeteilt wurde. Je nach konkretem Anwendungsgebiet wurde vom
G-BA in Patientinnen und Patienten unterschieden, die therapienaiv, mit ein oder zwei
Antidiabetika vorbehandelt oder insulinpflichtig sind. Hintergrund zur Unterteilung
von Patientengruppen für die Nutzenbewertung ist die im § 35a festgelegte Forderung,
dass der G-BA im Beschluss die Anzahl der Patienten und Patientengruppen, für die
ein therapeutisch bedeutsamer Zusatznutzen besteht, festzustellen hat. Somit ist vom
G-BA explizit zu identifizieren, welche Patientengruppen in welchem Ausmaß von dem
Arzneimittel profitieren und für welche ein Zusatznutzen nicht nachgewiesen wurde.
Losgelöst vom zugelassenen Anwendungsgebiet wurden nach Abschluss der kardiovaskulären
Endpunktstudien jeweils die Patientengruppen mit kardiovaskulären Erkrankungen bzw.
Risikofaktoren gesondert bewertet (z.B. für Empagliflozin nach Abschluss der EMPA-REG-Studie).
Die unterschiedlichen Patientencharakteristika der einzelnen Teilpopulationen sind
unmittelbar mit voneinander zu unterscheidenden Therapiealgorithmen verbunden und
erfordern somit jeweils verschiedene Therapievergleiche. Folglich sind von den pharmazeutischen
Unternehmen Nachweise separat für die jeweilige Patientengruppe für die Bewertung
des Zusatznutzens gegenüber der festgelegten zweckmäßigen Vergleichstherapie vorzulegen,
unabhängig davon, ob für die jeweilige Teilfragestellung klinische Studien vom pharmazeutischen
Unternehmer durchgeführt wurden oder nicht. Ist keine Evidenz für eine Patientengruppe
verfügbar, ist dies durch eine entsprechende systematische Evidenzrecherche nachzuweisen.
Die zweckmäßige Vergleichstherapie im Therapiegebiet Diabetes mellitus Typ 2
Die zweckmäßige Vergleichstherapie im Therapiegebiet Diabetes mellitus Typ 2
Die Nationale Versorgungsleitlinie aus dem Jahr 2013 [9] zur Behandlung des Diabetes mellitus Typ 2 zeigte auf, dass die vorhandene Evidenz
in der Indikation Diabetes mellitus Typ 2 unterschiedlich in Bezug auf Therapiekonsequenzen
bewertet werden konnte. Diese unterschiedlichen Interpretationen bezogen sich insbesondere
auf den Einsatz von Sulfunylharnstoffen, die Mehrfachkombination von oralen Antidiabetika,
die explizite Erwähnung von SGLT-2-Inhibitoren und GLP-1-Rezeptoragonisten und den
Zeitpunkt des Einsatzes von Insulin. Der G-BA hat sich bei der Bestimmung der Wirkstoffe
für die zVT vorwiegend an dem Vorliegen von Studien mit patientenrelevanten, insbesondere
kardiovaskulären Endpunkten orientiert. Erst nach positiver Nutzenbewertung von Empagliflozin
wurde beispielsweise dieser Wirkstoff für Patienten mit manifester kardiovaskulärer
Erkrankung als zVT bestimmt.
Mit der Konsultation und Veröffentlichung der Teilpublikation der Langfassung der
NVL Typ-2-Diabetes im Jahr 2021 [10] wurde der Paradigmenwechsel für die Versorgung insbesondere in Bezug auf den Einsatz
von SGLT-2-Inhibitoren und GLP-1-Rezeptoragonisten neben Sulfonylharnstoffen und DPP-4-Inhibitoren
in der Behandlung des Diabetes mellitus für den G-BA greifbar. So wird mittlerweile
Empagliflozin und Liraglutid nicht mehr ausschließlich für Patienten mit manifester
kardiovaskulärer Erkrankung empfohlen, sondern neben Sitagliptin und Sulfonylharnstoffen
auch bei Patienten ohne manifeste kardiovaskuläre Erkrankung benannt. Darüber hinaus
wird der Wirkstoff Dapagliflozin als weitere medikamentöse Option der zweckmäßigen
Vergleichstherapie bei Patienten mit manifester kardiovaskulärer Erkrankung genannt,
und die Kombination von Insulin mit weiteren Antidiabetika im Rahmen einer basal unterstützten
oralen Therapie oder konventionellen Insulintherapie ist nicht mehr ausschließlich
auf Metformin beschränkt [11]. Der frühe Einsatz von Empagliflozin, Liraglutid oder Dapagliflozin im Therapiealgorithmus
zur Vermeidung des Risikos für das Auftreten von kardiovaskulären und/oder renalen
Ereignissen spiegelt sich inzwischen auch im Versorgungsalltag wider.
Festzustellen ist, dass sich der therapeutische Standard in der Indikation Diabetes
mellitus über die letzten zehn Jahre kontinuierlich weiterentwickelt hat, und dass
ältere Studiendesigns oftmals nicht mehr ausreichen, um die aktuelle Fragestellung
zum Zusatznutzen zu beantworten. Die Erwartungen an neue Antidiabetika zum Nachweis
eines Zusatznutzens sind gestiegen. Dies liegt auch darin begründet, dass die neuen
Wirkstoffklassen mittlerweile Vergleichstherapie sind und sich die Behandlung des
Diabetes mellitus stetig verbessert hat. Zudem haben sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse
zur Bewertung einiger Endpunkte weiterentwickelt. Auch wenn aufgrund der neuen Therapieoptionen
die Vermeidung anderer Nebenwirkungen hinzugetreten ist, bleibt beispielsweise die
Vermeidung schwerer Hypoglykämien weiterhin für die Nutzenbewertung relevant. Heute
ist im Rahmen der Nutzenbewertung darüber hinaus nachzuweisen, ob tatsächlich die
durch die Grunderkrankung verursachten Folgeereignisse, wie mikro- und makrovaskuläre
Komplikationen, patientenberichtete Symptome oder die Lebensqualität der Patientinnen
und Patienten positiv und relevant beeinflusst werden können. Unterschiede in diesen
Endpunkten valide messbar zu machen, um in einer Bewertung entsprechend gewürdigt
zu werden und um eine evidenzbasierte Arzneimitteltherapie bei Typ-2-Diabetes mellitus
zu unterstützen, ist eine kontinuierliche Entwicklungsaufgabe.
Fazit zur Nutzenbewertung
Fazit zur Nutzenbewertung
Die frühe Nutzenbewertung nach § 35 a SGB V ermöglichte erstmals in Deutschland die
Veröffentlichung umfangreicher Daten, Auswertungen und Bewertungen für die interessierte
Fachöffentlichkeit. Die zur Verfügung gestellten Dokumente gehen über die in Zulassungsinformationen
und aus Fachpublikationen verfügbaren Kenntnisse hinaus und stellen eine neutrale
unbeeinflusste Informationsquelle dar. Darüber hinaus bietet das Verfahren die Möglichkeit
des Austausches und der Diskussion über die Daten im Rahmen eines öffentlichen Stellungnahmeverfahrens.
Aber auch bereits vor der Nutzenbewertung zur Planung von klinischen Studien werden
klinische Experten eingebunden, um die Sicht aus der klinischen Praxis in die G-BA-Beratungen
einzubringen. Bei allen Beratungen im G-BA sind Patientinnen und Patienten vertreten,
die insbesondere ihren Blickwinkel auf patientenrelevante Endpunkte einbringen oder
auf Herausforderungen mit Therapien in der Versorgungsprobleme hinweisen. Die Positionen
aus der klinischen Praxis in ein formales, standardisiertes Verfahren einzubringen,
bedeutet zweifelsfrei Mehraufwand, der sich aber lohnt, weil die Wissensgenerierung
und die Prozesse dadurch eine Dynamik erfahren und sich weiterentwickeln können.