Klinische Neurophysiologie 2023; 54(04): 251-252
DOI: 10.1055/a-2159-8750
In der Praxis

EMG und NLG in der neurologischen Praxis

Christian Bischoff

Ist die klinische Neurophysiologie in der Praxis eines Neurologen notwendig, wie sieht die Umsetzung aus, welche Anforderungen und welcher Zeitaufwand sind damit verbunden. Diese Fragen stellen sich sicherlich viele Kollegen, die in einer Klinik ausgebildet werden und sich mit dem Gedanken der Niederlassung tragen.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang sich klarzumachen, dass das Spektrum neurologischer Erkrankungen, das in einer ambulanten Praxis behandelt wird, sich ganz erheblich von dem unterscheidet, was in den neurologischen Kliniken während der Weiterbildung gesehen wird. Schlaganfälle und neurologische Intensivmedizin spielen in der ambulanten Versorgung so gut wie keine Rolle. Patienten mit akuten Schlaganfällen werden, wie sonst auch, schnellstmöglich auf eine Stroke-Unit überwiesen.

Was sind die wichtigsten Diagnosen bzw. Symptome, weshalb sich Patienten in eine neurologische Praxis begeben. Ganz vorne auf der Liste stehen Schwindel, Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Nervenkompressionssyndrome und sensible Störungen. Sehr häufig ist dabei auch eine Abgrenzung zu somatoformen Störungen wichtig.

Aus dieser Auflistung geht schon hervor, dass bei einer ganzen Reihe dieser Störungen neben der gründlichen Anamneseerhebung und der klinischen Untersuchung auch neurophysiologische Untersuchungen eine entscheidende Rolle spielen. Die Ausbildung in den neurophysiologischen Techniken spielt heute in vielen neurologischen Kliniken, unabhängig davon, ob es sich um Universitätskliniken oder Versorgungskrankenhäuser handelt, keine entscheidende Rolle mehr. Gründe dafür sind die zunehmende Belastung des ärztlichen Personals, der Zeitdruck und die Änderung im Diagnosespektrum. Die alten Anforderungen der Deutschen Gesellschaft für klinische Neurophysiologie, eine EMG Ausbildung 6 Monate ganztägig durchzuführen, werden heute aufgrund der praktischen Gegebenheiten und der hohen Anzahl von Assistenzärzten kaum zu realisieren sein. So bleibt die Ausbildung häufig rudimentär. Ein Großteil der Untersuchungen wird von MTA’s durchgeführt, Assistenten bringen sich die Untersuchungstechniken gegenseitig bei. Wie anders sieht die Situation in der Praxis aus, in der man die Patienten nicht einfach an ein „Labor“ delegieren kann.

Dies wirft die Frage auf, wie man die klinische Neurophysiologie in einer Praxis organisiert. Ähnlich wie in der Klinik werden EEG-Untersuchungen durch MTA‘s (medizinisch-technische Assistenten) oder darin ausgebildete MFA‘s (medizinische Fachangestellte) durchgeführt. Da besteht kein wesentlicher Unterschied zum Vorgehen in den Kliniken. Auch die Messung evozierter Potenziale wird in aller Regel durch technisches Assistenzpersonal durchgeführt. Anders sieht es bei der Elektroneurografie und der Elektromyografie aus. Bei der Elektroneurografie gibt es die beiden Möglichkeiten, die Untersuchung durch Assistenzpersonal durchführen zu lassen und die Befunde anschließend zu bewerten, oder die Untersuchung selbst durchzuführen. Für beide Verfahrensweisen gibt es gute Argumente. Viele Routineuntersuchungen, z. B. welcher Typ der Polyneuropathie vorliegt oder wie die Messwerte bei einem Karpaltunnel ausfallen, lassen sich durch gut geschulte technische Angestellte problemlos durchführen. Dies ist ein Konzept, wie es in vielen Kliniken aber auch in Abteilungen für klinische Neurophysiologie in anderen Ländern, z. B. in Schweden gehandhabt wird. Nur die elektromyografische Untersuchung wird dann durch den Arzt durchgeführt. Häufig wird dafür das Argument angeführt, dass dies schneller geht, als wenn der Arzt selbst die Untersuchung durchführt.

In meiner Praxis habe ich mich allerdings für ein anderes Vorgehen entschieden. Nach der klinischen Untersuchung des Patienten führe ich alle erforderlichen elektroneurografischen und elektromyografischen Untersuchungen selbst durch. Der häufig angeführte zeitliche Aspekt ist meines Erachtens hier zweitrangig. Da ich den Patienten vorher klinisch untersucht habe und das EMG Gerät direkt neben meiner Untersuchungsliege steht, kann ich notwendige elektrophysiologische Untersuchungen unmittelbar anschließen und habe das Ergebnis sofort zur Verfügung. Während der Durchführung der Untersuchung, insbesondere während der neurografischen Untersuchungen, steht außerdem Zeit zur Verfügung, um mit dem Patienten weitere Aspekte zu erörtern oder die Anamnese zu vervollständigen. Für den Patienten hat dieses Vorgehen den Vorteil, dass die Anzahl der Untersuchungen deutlich geringer ist, als wenn dies nach einem Standardprogramm durch Assistenzpersonal durchgeführt wird. Während meiner Ausbildungszeit in der Abteilung für klinische Neurophysiologie in Uppsala war es üblich, dass alle neurografischen Untersuchungen durch MTA mit Hochschulabschluss durchgeführt wurden. Diese hatten umfangreiche Standarduntersuchungsprogramme abzuarbeiten. Der zeitliche Aufwand und vor allem auch die Belastung für den Patienten durch viele, nicht unbedingt erforderliche, schmerzhafte Untersuchung war dadurch erheblich. Die im Anschluss an die klinische Untersuchung und der danach formulierten Verdachtsdiagnose selbst durchgeführte elektroneurographische Untersuchung kann zielgerichtet durchgeführt werden. Das weitere diagnostische Vorgehen kann während der Untersuchung in Abhängigkeit von den erhobenen Befunden geplant werden. Außerdem fallen mitunter notwendige Zweituntersuchungen weg, wenn die Ergebnisse, die durch Assistenzpersonal erhoben worden sind, nicht plausibel sind, oder aufgrund der Ergebnisse weitere Tests notwendig werden.

Mit diesem Vorgehen ist meines Erachtens auch in der Niederlassung eine gezielte und inhaltlich hochwertige Untersuchung möglich, die sich qualitativ nicht von den Untersuchungen in einer Klinik unterscheiden muss. Bei der Untersuchung „einmal alle Nerven“, kommt es häufig zu Ergebnissen, die den Befunder in Interpretationsschwierigkeiten bringen, wenn einzelne Werte nicht in das Bild passen. Dies ist ein Aspekt, der an anderer Stelle, nämlich Beurteilung von Normalwerten biologischer Werte erörtert werden muss.

Welche Untersuchungen notwendig sind, müssen in Abhängigkeit von der Anamnese und insbesondere dem klinischen Befund entschieden werden. Mitunter ändert sich auch das Vorgehen während der Untersuchung.

Ich möchte dies anhand des Beispiels einer Gefühlsstörung am Kleinfinger aufzeichnen. In diesem Fall kann man mit der sensiblen Neurografie des Nervus ulnaris am kleinen Finger beginnen. Gibt der Patient eine ausgeprägte Gefühlsstörung in dieser Region an und findet sich ein normales Potenzial, wobei dies immer im Seitenvergleich beurteilt werden sollte, ist eine postganglionäre Schädigung des Nervus ulnaris eher unwahrscheinlich. In diesem Fall kann gezielt die elektromyografische Untersuchung der C8/Th1 versorgten Kennmuskulatur erfolgen. Anders sieht es aus, wenn der Patient ein in der Amplitude erniedrigtes oder fehlendes sensibles Potenzial aufweist, in diesem Fall kann die Untersuchung mit der sensiblen Neurografie des Nervus cutaneus antebrachii medialis fortgesetzt werden, um differenzialdiagnostisch eine Aussage über eine Affektion des unteren Plexus brachialis zu erhalten. Dieses Vorgehen wäre bei der routinemäßig angewandten Neurografie durch technisches Assistenzpersonal sicherlich so nicht möglich, erspart dem Patienten aber unnötige Untersuchungsschritte.

Das Delegieren elektroneurografischer Untersuchungen an Assistenzpersonal führt auch dazu, dass unnötig viele neurografische Untersuchungen durchgeführt werden. Eine Vielzahl neuromuskulärer Erkrankungen in der Praxis ist mithilfe der Elektromyografie und nicht mithilfe der Elektroneurografie zu diagnostizieren, wobei zu betonen ist, dass beide Verfahren, ebenso wie die Nervensonografie sich ergänzende Methoden darstellen. Einige, wenn auch seltene Erkrankungen, wie solche aus dem myotonen Formenkreis sind nur mithilfe der Elektromyografie zu erfassen. Auch hier kann die Untersuchung relativ kurzgehalten werden, da der Nachweis myotoner Serienentladungen in einem Muskel das differenzialdiagnostische Spektrum eingegrenzt und gegebenenfalls weitere humangenetische Untersuchungen impliziert.

Auch bei der Untersuchung akut aufgetretener Lähmungen ist die Elektromyografie der Elektroneurografie überlegen. So kann bei einer hochgradigen Fallhand unmittelbar nach Auftreten des Ereignisses mithilfe des EMG nachgewiesen werden, ob eine periphere oder zentrale Läsion vorliegt. Nur bei Ausfall aller motorischen Einheiten ist eine elektroneurografische Untersuchung zusätzlich indiziert.

Für die Diagnosestellung am wichtigsten ist die sorgfältige Anamnese und die klinische Untersuchung, in Ergänzung dazu kann die elektrophysiologische und gegebenenfalls neurosonologische Untersuchung zusätzliche Aspekte liefern. Der hierfür benötigte Zeitaufwand ist für den erfahrenen Untersucher gering. So beträgt die Untersuchungszeit bei V.a. ein Karpaltunnelsyndrom mit beidseitiger vergleichender Untersuchung des Nervus medianus und Nervus ulnaris motorisch und sensibel für den geübten Untersucher weniger als 5 min. In diesem Fall ist die elektromyografische Untersuchung des Musculus abductor pollicis brevis in aller Regel entbehrlich, zumal dies für den Patienten eine unangenehme Untersuchung ist.

Sehr häufig wird auf eine elektromyografische Untersuchung verzichtet, da der Zeitaufwand als zu groß beschrieben wird, vor allem bei komplizierten Fragestellungen. Hier ist es gelegentlich notwendig, den Patienten zu einem anderen Zeitpunkt einzubestellen, um eine Untersuchung zu komplettieren oder zusätzliche Untersuchungen durchzuführen. Zeitlich am aufwändigsten sind die Fragestellungen nach Plexusläsionen, z. B. Thoracic Outletsyndrom, oder einer Motoneuron-Erkrankung. Dabei ist der zeitliche Aufwand für die Durchführung einer EMG-Untersuchung bei einem Patienten mit einer Motoneuron-Erkrankung um ein Vielfaches kürzer als der zeitliche Aufwand zur Aufklärung des Patienten und Besprechung des weiteren Vorgehens. Dies setzt allerdings voraus, dass die Untersuchungen zielführend und leitliniengerecht durchgeführt werden. Die elektrophysiologische Diagnostik bei V.a. Motoneuron-Erkrankung ist eine Zusatzuntersuchung, die sowohl im Rahmen der El-Escorial Kriterien als auch der Gold-Coast-Kriterien nur dann zum Einsatz kommen sollte, wenn klinisch keine eindeutigen Befunde wie eine Atrophie, schlaffe Parese und sichtbare Faszikulationen zu erkennen sind. Die Untersuchung aller klinisch bereits eindeutig betroffenen Muskeln, vor allem wenn sie von einem Nerv oder einer Wurzel versorgt werden, ist nicht nur zeitaufwendig, sondern sinnlos. Häufig ist vor allem im thorakalen Segment der Nachweis erforderlich, hier kann eine Untersuchung der thorakalen paravertebralen Muskulatur auch in mehreren Höhen in kurzer Zeit zu belastbaren Ergebnissen führen.



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Article published online:
07 December 2023

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