CC BY-NC-ND 4.0 · Diabetologie und Stoffwechsel 2023; 18(05): 369-375
DOI: 10.1055/a-2160-7126
Originalarbeit

Kardiovaskuläre Effektivität und Sicherheit neuer Antidiabetika – Relevanz der Studiendaten für die deutsche Versorgungsrealität bezüglich Alters- und Risikostruktur

Cardiovascular efficacy and safety of new antidiabetic drugs – relevance of the study data for the German health care reality with regard to age and risk structure
Andreas Klinge*
1   Diabetes Schwerpunktpraxis Eidelstedt, Hamburg, Germany
,
Ulrich A. Müller
2   Praxis für Endokrinologie und Diabetologie. Ambulante Versorgung, Jena, Germany
,
Bernd Mühlbauer
3   Institut für Pharmakologie, Klinikum Bremen-Mitte gGmbH Institut für Pharmakologie, Bremen, Germany (Ringgold ID: RIN116969)
› Author Affiliations
 

Zusammenfassung

Eine evidenzbasierte ärztliche Versorgung beruht auf den Ergebnissen von interventionellen klinischen Prüfungen. Seit Bekanntwerden des negativen Nutzen-Risiko-Verhältnisses der Thiazolidindione bei Menschen mit Typ-2-Diabetes mellitus (DM-2) ist die Durchführung von Studien mit patientenrelevanten kardiovaskulären Endpunkten (CVOT) in Ergänzung zu den typischen Zulassungsstudien Standard geworden. In der Praxis stellt sich die Frage, ob die Rahmenbedingungen solcher CVOT die Versorgungsrealität abbilden, inwieweit also daraus abgeleitete therapeutische Empfehlungen auf den aktuellen Einzelfall mit DM-2 übertragbar sind.

Insbesondere Lebensalter und Komorbiditäten beeinflussen essenziell das individuelle kardiovaskuläre Risiko von DM-2-Patienten und damit das Ausmaß der zu erreichenden Unterschiede in CVOT. Daher wurden hinsichtlich dieser beiden Aspekte in der vorliegenden Arbeit die Patientenkollektive der aktuellen kardiovaskulären CVOT zu Glucagon-like Peptide 1 (GLP-1)-Analoga und SGLT2-Inhibitoren mit epidemiologischen Daten des deutschen DM-2 – Versorgungsalltags verglichen.

Hauptsächlich zeigten sich zwei relevante Ergebnisse. Bei den Patienten der CVOT bestand bei Studieneinschluss wesentlich häufiger eine kardiovaskuläre Erkrankung als in der epidemiologisch erfassten Gesamtpopulation der DM-2-Patienten in Deutschland (40–100 % vs. 18 %). Darüber hinaus waren die in die Studien eingeschlossenen Patienten deutlich jünger als die Patienten im hausärztlichen Versorgungsalltag (63,6 vs. 68,8 Jahre).

Als Schlussfolgerung ergibt sich, dass für einen relevanten Teil der in Deutschland in der Versorgungsebene 1 betreuten DM-2-Patienten die Endpunktergebnisse der CVOT zu antidiabetischen Wirkstoffen seit 2008 nicht ohne Einschränkung übertragbar sind. Für den vorrangigen Einsatz von SGLT2-Inhibitoren oder GLP1-Analoga besteht belastbare externe Evidenz derzeit nur für Patienten, die den Einschlusskriterien der Studien entsprechen. Dies sind Patienten bis etwa Mitte der 7. Lebensdekade mit bereits manifester kardiovaskulärer Erkrankung.


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Abstract

Evidence-based medical care relies on the results of interventional clinical trials. Since the negative benefit-risk ratio of thiazolidinediones in people with type 2 diabetes mellitus (DM-2) became known, the performance of studies with patient-relevant cardiovascular endpoints (CVOT) has become standard in addition to the typical pivotal studies. In practice, the question arises whether the framework conditions of such CVOTs reflect the reality of care, i.e. to what extent therapeutic recommendations derived from them are transferable to the current individual case with DM-2.

In particular, age and comorbidities have an essential influence on the individual cardiovascular risk of DM-2 patients and thus on the extent of the differences to be achieved in CVOT. Therefore, with regard to these two aspects, the present study compared the patient populations of the current cardiovascular CVOT on glucagon-like peptide 1- (GLP-1) analogues and SGLT2 inhibitors with epidemiological data of the German DM-2 daily care.

Mainly, two relevant results emerged. Patients in the CVOT were much more likely to have cardiovascular disease at study inclusion than the epidemiologically recorded total population of DM-2 patients in Germany (40–100% vs. 18%). In addition, patients included in the studies were significantly younger than patients in the general practitioner's everyday care (63.6 vs. 68.8 years).

In conclusion, the endpoint results of CVOT on antidiabetic agents since 2008 cannot be transferred without restriction for a relevant part of the DM-2 patients cared for in Germany in care level 1. For the priority use of SGLT2 inhibitors or GLP1 analogues, robust external evidence currently exists only for patients who meet the inclusion criteria of the trials. These are patients up to about the middle of the 7th decade of life with already manifest cardiovascular disease.


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Einleitung

Für eine evidenzbasierte Versorgung von Menschen mit Diabetes mellitus in Kliniken und Praxen müssen die diagnostischen und therapeutischen Entscheidungen auf den Ergebnissen der systematischen Forschung beruhen.

Nach den negativen Erfahrungen mit Rosiglitazon – in einer Metaanalyse bestätigte sich der seit Jahren befürchtete signifikante Anstieg des kardiovaskulären Risikos [1] durch das Medikament selbst – legte die FDA im Jahr 2008 neue Richtlinien zur Bewertung der kardiovaskulären Sicherheit von neuen Antidiabetika fest. Kernpunkt war die Auflage zur Durchführung von Sicherheits-Endpunktstudien (CVOT) bereits um den Zeitpunkt der Zulassung eines neuen antidiabetischen Wirkstoffes herum, um die bei den Glitazonen beobachtete Erhöhung des kardiovaskulären Risikos auszuschließen. Seitdem wurden für alle neu eingeführten antidiabetischen Wirkstoffe solche CVOT durchgeführt. Primäres Ziel der Studien war dann nicht mehr der Nachweis der Verminderung diabetischer Folgeerkrankungen. Auch wurden in die CVOT-Studien jetzt ältere und kränkere Patienten eingeschlossen. In den Langzeitstudien zu diabetischen Endpunkten wie Retinopathie oder Nephropathie wurden Patienten mit manifesten kardiovaskulären Erkrankungen ausgeschlossen, während dies für die CVOT-Studien ein Einschlusskriterium war.

Die erste Wirkstoffgruppe, die unter diesen neuen Richtlinien zugelassen wurden, waren die Dipeptidyl-Peptidase-4 (DPP-4)-Inhibitoren. Die CVOT zeigten, dass von ihrer Anwendung kein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko ausgeht. Allerdings konnten sie – als add-on zur Basistherapie (v.a. Metformin) auch keine Reduktion der kardiovaskulären Ereignisse zeigen [2] [3].

Dagegen zeigten sich bei dem Glucagon-like Peptide 1 (GLP-1)-Analogon Liraglutid und bei den SGLT2-Inhibitoren (Empagliflozin, Dapagliflozin und Canagliflozin) bei Patientengruppen mit manifesten kardiovaskulären Erkrankungen oder einem sehr hohen kardiovaskulären Risiko eine signifikante und relevante Senkung der kardiovaskulären Morbidität und Mortalität, teilweise auch der Gesamtmortalität [4] [5]. Diese Effekte zeigen für beide Substanzklassen auch zwei aktuelle Metaanalysen [6] [7].

Allerdings wurden in diese Studien durchweg Patienten mit manifester kardiovaskulärer Erkrankung oder erhöhtem kardiovaskulärem Risiko eingeschlossen. Studien mit Einschluss von Patienten mit niedrigem oder normalem Risiko wären für das Abbilden des normalen Versorgungsalltags wünschenswert. Die Studiendauer müsste dann etwa 10 Jahre betragen, bis in den beiden Studiengruppen ausreichend viele Endpunkte erreicht sind. Solche großen und langen Studien sind aber, vorwiegend aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten, kaum durchführbar.

Damit stellt sich die Frage, ob die Bedingungen der klinischen Studien die Versorgungsrealität abbilden, ob also klare und einheitliche Definitionen für die Beschreibung der untersuchten Patientengruppen bestanden und ob diese auf die aktuelle individuelle Patientensituation in Deutschland übertragbar sind. Allgemein gehaltene, weiche Definitionen wie „manifeste kardiovaskuläre Erkrankung“ oder „erhöhtes kardiovaskuläres Risiko“ sind problematisch, da sie einer großen ärztlichen Interpretationsbreite unterliegen.

Da das Ausmaß der Verringerung der kardiovaskulären Ereignisse maßgeblich vom Grund- Risiko der Studienpopulation beeinflusst wird, kommt der exakten Definition des kardiovaskulären Risikos vor Studienbeginn eine entscheidende Bedeutung zu. Da auch das Lebensalter einen großen Einfluss auf das individuelle Risiko hat, stellt sich die Frage der Relevanz von Studienergebnissen für den Versorgungsalltag ebenso für die Altersstruktur der Studienpopulation im Vergleich zur deutschen Bevölkerung.

Dieselbe Problematik tritt auf, wenn Effektivität und Sicherheit von Antidiabetika indirekt verglichen werden sollen, also anhand von Daten, die in unterschiedlichen Studien gewonnen wurden. Heterogene Definitionen der Einschlusskriterien für kardiovaskuläre Erkrankungen bedeuten ein sehr unterschiedliches Ausgangsrisiko und lassen allein dadurch unterschiedliche Effekte auf die Ereignisraten erwarten. Chronische Erkrankungen wie Diabetes mellitus Typ 2 und arterielle Hypertonie treten in der Mehrzahl der Menschen ab der 6. Lebensdekade auf. Um im Sinne der evidenzbasierten Medizin (EbM) verlässliche Aussagen und Empfehlungen für die medikamentöse Therapie geben zu können, muss daher ein relevanter Anteil von Menschen im höheren Lebensalter in die klinischen Studien eingeschlossen werden.

Vor diesem Hintergrund sollen die Studienpopulationen der zuletzt in den Versorgungsalltag eingetretenen antidiabetischen Wirkstoffgruppen der SGLT2-Inhibitoren und der GLP-1-Analoga dargestellt und sowohl miteinander als auch mit den Patienten im deutschen Versorgungsalltag verglichen werden.


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Makrovaskuläre Komplikationen und sehr hohes kardiovaskuläres Risiko

Für diese Arbeit wurden alle CVOT ausgewertet, die seit dem Erscheinen der FDA-Richtlinie als Auflage der Zulassungsbehörden durchgeführt wurden und Substanzen untersuchten, die in Deutschland verordnungsfähig sind, oder waren. Neben den Studien zu SGLT2-Inhibitoren und GLP1-Rezeptor-Agonisten finden sich hierunter auch zwei Studien zu den DPP4-Inhibitoren Saxagliptin und Sitagliptin. Diese wurden ebenfalls in die Untersuchung eingeschlossen, da von diesen Wirkstoffen bekannt ist, dass sie zwar nachweisbar die Blutglukosekonzentration verringern, dies aber nicht mit einem signifikanten kardiovaskulären Benefit für die Patienten einhergeht. Sie fungierten somit als „Negativkontrolle“.

Es wurden die folgenden Studien betrachtet: EMPA-REG Outcome (Empagliflozin) [2}, CANVAS (Canagliflozin) [8], LEADER (Liraglutid) [5], SUSTAIN-6 (Semaglutide) [9], DECLARE TIMI-58 (Dapagliflozin) [10] HARMONY Outcome (Albiglutid) [11], sowie TECOS (Sitagliptin) [2], SAVOR-TIMI 53 (Saxagliptin) [3].

Zur Erhebung der Altersstruktur der Patienten in den klinischen Studien wurden die Original-Publikationen sowie die verfügbaren Appendizes gesichtet. Anhand der publizierten Einschlusskriterien wurde das kardiovaskuläre Risiko der Studienpopulation erhoben. Hierbei wurde unterschieden zwischen dem Bestehen einer manifesten kardiovaskulären Erkrankung und dem Vorliegen eines oder mehrerer der Kriterien für ein erhöhtes kardiovaskuläres Risikos ohne Anamnese kardiovaskulärer Ereignisse.

Zur Beschreibung des Versorgungsalltages wurden einerseits die Bevölkerungsdaten des Statistischen Bundesamts (DeStatis) herangezogen. Zur Beschreibung der Population der Patienten mit Diabetes mellitus wurden die epidemiologischen Daten der aktuellen NVL Diabetes mellitus herangezogen. Diese reflektiert (mit Stand 2020) auf 571 338 Menschen in der KV-Region Nordrhein, die im DMP Diabetes mellitus Typ 2 betreut werden.

Kriterien des kardiovaskulären Risikos in den Studienpopulationen

Insgesamt wurden in den hier untersuchten Studien mehr als 30 unterschiedliche Kriterien verwendet, um eine manifeste kardiovaskuläre Erkrankung oder ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko zu beschreiben. Im Folgenden stellen wir vergleichend die Einschlusskriterien für Patienten mit einer manifesten kardiovaskulären Erkrankung dar. Hierbei vergleichen wir je zwei Studien, die SGLT2-Inhibitoren oder GLP1-Agonisten untersucht haben, um dann cross-over eine Studie zu einem SGLT2-Inhibitor mit einer Studie zu einem GLP1-Agonisten zu vergleichen.

Der Vergleich der Einschlusskriterien einer manifesten kardiovaskulären Erkrankung unterscheidet sich zwischen den Endpunktstudien für Empagliflozin und Dapagliflozin [4] [10] ([Tab. 1]).

Gleiches gilt für den Vergleich zwischen den Endpunktstudien der GLP1-Agonisten Liraglutid und Dulaglutid [5] [16] ([Tab. 2]) und den Vergleich zwischen zwei Endpunktstudien zwischen je einem SGLT2-Inhibitor und einem GLP1-Agonisten [4] [5] ([Tab. 3]).

Tab. 1 Vergleich Einschlusskriterien manifeste kardiovaskuläre Erkrankung für Studien mit SGLT2-Inhibitoren (weiß=Kriterien sind identisch/sehr ähnlich, kursiv=Kriterium unterscheidet sich).

EMPAREG Outcome (Empagliflozin)

DECLARE TIMI 58 (Dapagliflozin)

Z.n. Herzinfarkt

Z.n. Herzinfarkt

Mehrgefäß KHK, ≥2 große Koronararterien mit Intervention

≥50 % Stenose in 2 Gefäßterritorien

Z.n. PCI, Z.n. ACVB-OP

1-Gefäß KHK plus positiver, nicht-invasiver Stresstest, oder Hospitalisierung wg. instabiler AP i.d. letzten 12 Monaten

instabile AP (aktuell)

Z.n. ischämischem Schlaganfall

Z.n. ischämischem Schlaganfall

Z.n. hämorrhagischem Schlaganfall

Z.n. Stenting Carotis oder Endarteriektomie

PTA oder Bypass-OP am Bein

PTA oder Bypass-OP am Bein

Z.n. Amputation an Bein/Fuß bei Ischämie

Z.n. Amputation a.d. unteren Extr. wg. Ischämie

≥50 % Stenose in Angiografie oder Duplex

ABI <0,9 auf einer Seite

Symptomatische Claudicatio intermittens plus ABI <0,9

Tab. 2 Vergleich Einschlusskriterien manifeste kardiovaskuläre Erkrankung für Studien mit GLP1-Agonisten (weiß=Kriterien sind identisch/sehr ähnlich, kursiv=Kriterium unterscheidet sich).

LEADER Trial (Liraglutid)

REWIND Trial (Dulaglutid)

Alter ≥50 Jahre + ≥1 weiteres Kriterium:

Alter ≥50 + ≥1 weiteres Kriterium

Z.n. Herzinfarkt

Z.n. Herzinfarkt

Z.n. koronarer Revaskularisation

Z.n. koronarer Revaskularisation

≥ 50% koronare Stenose

Hospitalisierung wg. instabiler AP mit EKG-Veränderungen. pathol. Bildgebung oder koronarer Intervention

symptomatische KHK plus positiver Stresstest, pathologische kardiale Bildgebung, instabile AP mit EKG-Veränderungen

NYHA II-III

Z.n. Schlaganfall ischämisch

Z.n. Schlaganfall ischämisch

Z.n. Schlaganfall hämorrhagisch

Z.n. TIA

Z.n. Revaskularisation zerebral

Z.n. Revaskularisation zerebral

≥ 50 % zerebrale Stenose

Z.n. Revaskularisation untere Extremität

Z.n. Revaskularisation untere Extremität

Chron. Niereninsuffizienz (eGFR < 60 ml/min)

Tab. 3 Vergleich Einschlusskriterien manifeste kardiovaskuläre Erkrankung einer Studie mit SGLT2-Inhibitor mit einer Studie mit GLP1-Agonisten. (weiß=Kriterien sind identisch/sehr ähnlich, kursiv=Kriterium unterscheidet sich).

EMPAREG (Empagliflozin)

LEADER (Liraglutid)

Z.n. Herzinfarkt

Z.n. Herzinfarkt

Mehrgefäß KHK, ≥2 große Koronararterien mit Intervention

Z.n. koronarer Revaskularisation ≥1 Gefäß

≥ 50% koroanare Stenose

1-Gefäß KHK plus positiver, nicht-invasiver Stresstest, oder Hospitalisierung wg. instabiler AP i.d. letzten 12 Monaten

symptomatische KHK plus positiver Stresstest, pathologische kardiale Bildgebung, instabile AP mit EKG-Veränderungen

instabile AP (aktuell)

NYHA II-III

Z.n. ischämischem Schlaganfall

Z.n. Schlaganfall ischämisch

Z.n. hämorrhagischem Schlaganfall

Z.n. Schlaganfall hämorrhagisch

Z.n. TIA

Z.n. Revaskularisation zerebral

≥50 % zerebrale Stenose

PTA oder Bypass-OP am Bein

Z.n. Revaskularisation untere Extremität

Z.n. Amputation an Bein/Fuß bei Ischämie

≥50 % Stenose Bein in Angiografie oder Duplex

ABI <0,9 auf einer Seite

Chron. Niereninsuffizienz (eGFR <60 ml/min)

Eine Systematisierung der Kriterien durch Sponsoren der Studien bzw. Autoren der Studienprotokolle ist mit dem Überblick über die 7 betrachteten Studien kaum erkennbar. In der Natur der Sache liegt es, dass die verwendeten Kriterien gleich oder ähnlich sind (Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörung, Nephropathie, Niereninsuffizienz, Herzinsuffizienz). Die Definitionen, die den Einschluss der Patienten in die Studien definieren, unterscheiden sich im Detail aber teilweise deutlich.

Alle verwendeten Kriterien sind in der Sache richtig. Nur sind sie teilweise unscharf oder sehr unterschiedlich definiert und durch das Fehlen einer einheitlichen Parametrisierung oder Systematik zwischen den verschiedenen Studienpopulationen kaum vergleichbar.

Durch die notwendige Ausrichtung der CVOT auf Patienten mit einer manifesten kardiovaskulären Erkrankung oder zumindest mit einem hohen bis sehr hohen kardiovaskulären Risiko liegt die Vermutung nahe, dass die in der Versorgungsrealität betreuten Patienten andere Charakteristika aufweisen.

In der Auswertung des bundesweiten DMP-Berichts der gesetzlichen Krankenkassen finden sich die Anteile von Patienten mit manifesten kardiovaskulären Erkrankungen zum Zeitpunkt des Eintritts ins DMP [12]. Für [Tab. 4] wurden die publizierten Endpunkte bewusst weit gefasst. Lediglich sicher mikrovaskuläre Endpunkte wurden nicht aufgenommen.

Tab. 4 Medizinische Endpunkte manifester kardiovaskulärer Erkrankungen im DMP Typ-2-Diabetes ganz Deutschland [12].

Medizinische Endpunkte bereits zum Beitritt dokumentiert

Endpunkt

Patienten mit Ereignis Anteil (%)

Herzinfarkt

4,11

Schlaganfall

3,92

Amputation

0,62

Diabetische Nephropathie

5,18

Nierenersatztherapie

0,26

Koronare Herzkrankheit

16,44

periphere arterielle Verschlusskrankheit

5,35

Im Vergleich betrug in den CVOT der Anteil von Patienten mit einer manifesten kardiovaskulären Erkrankung zwischen 55 und 100 %.

Hinsichtlich der Studienpopulationen bestehen somit zwei grundlegende Problem:

  1. Durch unterschiedliche Kriterien für kardiovaskuläre Erkrankungen und kardiovaskuläres Risiko sind die Ergebnisse unterschiedlicher CVOT kaum vergleichbar.

  2. Durch eine deutliche Überrepräsentanz von Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen und hohem kardiovaskulärem Risiko ist eine Übertragung der Studienergebnisse auf die Realität der hausärztlichen Versorgungsebene deutlich erschwert, bzw. nur für eine sehr kleine Patientengruppe direkt möglich.


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Lebensalter und Einschluss geriatrischer Patienten in kardiovaskulären Endpunktstudien

Die Ermittlung des Lebensalters der Teilnehmer in den CVOT war nur sehr eingeschränkt möglich, da die meisten Studien lediglich das mittlere Alter publiziert haben. Für die CVOT zum Canagliflozin war dies auch der einzige Parameter zum Alter [8].

Ansonsten wurde der Anteil der eingeschlossenen Patienten oberhalb eines bestimmten Alters angegeben. 7 von 10 Studien haben hierfür eine Altersgrenze von ≥65 Jahren verwendet, eine Studie ≥60 Jahre und eine Studie ≥75 Jahre. Angaben zur Untersuchung unterschiedlicher Alterskohorten finden sich nicht.

In der Kohorte der DMP-Teilnehmer im Bereich der KV Nordrhein, lag 2019 der Anteil von Patienten mit einer kardiovaskulären Erkrankung bei 18,8 % [13] ([Tab. 5]).

Die Teilnehmer an den hier betrachteten CVOT zeigten ein ähnliches mittleres Alter [2] [3] [4] [5] [8] [9] [10] [14] [15] [16] [17], ([Tab. 6]).

Tab. 5 Charakterisierung der Patienten im DMP Typ-2-Diabetes im KV-Bereich Nordrhein 2019 [13].

Komorbidität

Endpunkt

Patienten mit Ereignis Anteil (%)

keine/andere

46,7

kardiovaskulär

18,8

mikrovaskuläre/diab. Folgeschäden

17,7

kardiovaskuläre und diab. Folge.

16,9

Tab. 6 Publikationsjahr, Studiendauer und Altersverteilung von CVOT.

Publikations-jahr

Substanz

Studien-Akronym

Mittlere Studiendauer (Jahre)

mittleres Alter (Jahre)

TN ≥60 Jahre (%)

TN ≥65 Jahre (%)

TN ≥75 Jahre (%)

*es wurde ≥66 Jahre verwendet

2013

Saxagliptin

SAVOR-TIMI 53[3]

2,1

65

14

2015

Empagliflozin

EMPAREG OUTCOME[4]

3,1

63

44

2015

Sitagliptin

TECOS[2]

3,0

65

45

14

2015

Lixisenatide

ELIXA[14]

2,1

60

34

2016

Liraglutid

LEADER[5]

3,8

64

75

2016

Semaglutid

SUSTAIN-6[9]

2,0

64

48

2017

Canagliflozin

CANVAS[8]

3,6

63

2017

Exenatide

EXSCEL[15]

3,2

62

40

2018

Dapagliflozin

DECLARE TIMI 58[10]

4,2

64

46

2019

Dulaglutid

REWIND[16]

5,4

66

47*

2020

Ertugliflozin

VERTIS-CV[17]

3,5

64

65

Einzig bei der Studie zu Lixisenatide lag das Alter relevant niedriger [14]. Die Studienpopulation unterscheidet sich aber ebenfalls von den anderen Studien, da nur Patienten mit einem akutem Koronarsyndrom untersucht wurden.

Altersstruktur der Patienten mit Diabetes mellitus

Der Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung in Deutschland ist im internationalen Vergleich relativ hoch. Aktuell sind 15 % der Bevölkerung über 70 Jahre alt, die Gruppe der über 65-Jährigen macht mehr als 21 % der Bevölkerung aus [18]. Ohne grundlegende Veränderung der Geburtenrate oder relevante Migrations-Effekte wird die Tendenz zur Überalterung der Bevölkerung in Deutschland in den kommenden Jahren zunehmen [18].

Die Ermittlungen von Daten aus der Gesamt-Population von Menschen mit einem Typ-2-Diabetes gestaltet sich schwierig, da es in Deutschland hierfür keine Registerdaten gibt. Wir verwenden daher in dieser Arbeit Daten aus dem DMP Typ-2-Diabetes. Eine Quelle sind die regelmäßig von der KV-Region Nordrhein veröffentlichten DMP-Daten. Anders als in anderen Regionen werden hier seit vielen Jahren Daten in Jahresberichten veröffentlicht. Sie werden auch in der Nationalen Versorgungleitlinie Typ-2-Diabetes zur Abschätzung der Zahlen in der Gesamtbevölkerung herangezogen [19].

Eine weitere Quelle ist der „Bericht der strukturierten Behandlungsprogramme der gesetzlichen Krankenkassen – Indikation Diabetes mellitus Typ 2“ der bundesweite Daten enthält.

Die DMP-Auswertung der KV-Nordrhein (zitiert in der NVL) enthält eine differenzierte Auswertung der Alters-Kohorten [19] ([Tab. 7]).

Die Aufteilung der Alterskohorten in der Gesamt-Bevölkerung in Deutschland kann Auswertungen des Statistischen Bundesamts entnommen werden [12] ([Tab. 8], [Tab. 9]).

Das durchschnittliche Lebensalter im Vergleich zwischen Gesamt-Bevölkerung, Teilnehmern an CVOT und dem DMP-Auswertungen zeigt [Tab. 10].

Tab. 7 Patientendaten DMP-Auswertung KV-Nordrhein aus NVL [19].

Anzahl der im DMP betreuten Menschen

571.338

Entsprechend einem Anteil der mutmaßlich Betroffenen (GKV)

89–97 %

Anteil mit hausärztlicher Betreuung im DMP

91,3 %

Mittleres Alter

68,6 Jahre (±12,7)

Alter <65 Jahre

39,2 %

Alter 66–75 Jahre

26,9 %

Alter ≥76 Jahre

33,9 %

Tab. 8 Altersverteilung in der Gesamt-Bevölkerung in Deutschland 2022 [18].

Alterskohorten Deutschland

Alter ≥60 Jahre

Alter ≥65 Jahre

Alter ≥70 Jahre

Alter ≥75 Jahre

29 %

21 %

15 %

10 %

Tab. 9 Altersverteilung von allen Teilnehmern am DMP Diabetes mellitus Typ 2 [12].

Alterskohorten TN DMP Typ-2-Diabetes

Alter 60 Jahre

Alter ≥70 Jahre

Alter ≥80 Jahre

62 %

32 %

8 %

Tab. 10 Durchschnittliches Alter in Gesamtbevölkerung, CVOT und DMP.

Mittleres Alter (Jahre)

Gesamtbevölkerung

CVOT

DMP Typ-2-Diabetes

44,7

63,5

68,8

Die Betreuung von Menschen mit einem Typ-2-Diabetes ist vorrangige Aufgabe der hausärztlichen Versorgungsebene. Über 90 % der Betroffenen werden hier behandelt und im DMP geführt. Zwischen dem mittleren Alter in den CVOT und denen in der DMP-Population liegen gut 5 Jahre Unterschied (CVOT 63,5 vs. DMP-Patienten 68,8 Jahre [13]). Wären die in die CVOT eingeschlossenen Patienten ein repräsentativer Querschnitt der Menschen mit einem Typ-2-Diabetes, müsste man erwarten, dass die untersuchten Patienten ein ähnliches, wenn nicht gar ein höheres mittleres Alter aufweisen. Denn die schweren makrovaskulären Komplikationen treten zumeist erst nach einer längeren Diabetesdauer auf.

Mit den wenigen publizierten Angaben fällt es schwer, die Fragen zu beantworten, ob speziell geriatrische Patienten in relevantem Ausmaß in die Studien eingeschlossen wurden.

Die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG) definiert geriatrische Patienten durch eine „geriatrietypische Multimorbidität und Alter ≥70 Jahre“ oder durch „Alter ≥80 Jahre („oldest old“)“ [20]. Dabei hat die geriatrietypische Multimorbidität für die Definition Vorrang vor dem kalendarischen Alter. Bei den in die CVOT untersuchten Patienten kann sicherlich davon ausgegangen werden, dass die betagten und hochbetagten Teilnehmer im ganz überwiegenden Anteil die Definition eines „geriatrischen Patienten“ erfüllen. Da die Definition der DGG aber bei einem Alter von ≥70 Jahren beginnt, erscheint der in der Mehrzahl der Studien gewählte cut-off von 65 Jahren als zu niedrig angesetzt.

Eine wichtige Limitation dieser Arbeit besteht darin, dass Daten aus prospektiven randomisierten Studien mit statistischen Zahlen aus Bevölkerungs- und Versorgungsdatenbanken verglichen werden. Für zukünftige Untersuchungen könnten Daten aus der Versorgungsforschung und emulierten Studien unter Verwendung von Registerdaten diese Einschränkungen zumindest reduzieren. Ein bereits mehrfach von den Fachgesellschaften gefordertes nationales Diabetes-Register wäre hierfür eine wichtige Voraussetzung.


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

* Für die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft



Korrespondenzadresse

Dr. Andreas Klinge, MD
Diabetes Schwerpunktpraxis Eidelstedt
Lohkampstrasse 11
22523 Hamburg
Germany   

Publication History

Received: 10 July 2023

Accepted after revision: 24 August 2023

Article published online:
12 October 2023

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