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DOI: 10.1055/a-2165-8541
Welche Kontextfaktoren der ICF haben für die sozialmedizinische Begutachtung im Rahmen der Erwerbsminderungsrente eine Relevanz? Ergebnisse einer Delphi-Befragung
Which Contextual Factors of the ICF are Relevant for the Socio-Medical Assessment in the Con-Text of Disability Pension? Results of a Delphi SurveyZusammenfassung
Hintergrund Personbezogene Faktoren wurden von der Arbeitsgruppe „ICF“ der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) klassifiziert. Die Leitlinien zur sozialmedizinischen Beurteilung, das Sozialrecht und das dem zugrundeliegende biopsychosoziale Modell fordern deren Berücksichtigung. Auf dieser Basis sollte im Zuge einer Delphi-Befragung unter Expert:innen ein Konsens darüber gefunden werden, welche dieser person- und umweltbezogenen Faktoren, wichtig für die sozialmedizinische Begutachtung im Rahmen der Erwerbsminderungsrente bei muskuloskeletalen Erkrankungen sind.
Material und Methoden Es wurde eine online Delphi-Befragung in drei Wellen zur Konsensbildung unter Expert:innen durchgeführt, um relevante ICF-Kontextfaktoren in der sozialmedizinischen Begutachtung zu identifizieren. Um möglichst heterogene Perspektiven bei der Beantwortung der Fragestellung zu involvieren wurden Personen aus den Bereichen sozialmedizinische Begutachtung, Sozialrecht, Sozialmedizin, Wissenschaft, in der Rehabilitation tätige Mediziner:innen, in der Rehabilitation tätige Psycholog:innen und Patientenvertreter: innen rekrutiert.
Ergebnisse Für die Delphi-Befragung wurden N=76 Expert: innen aus dem Feld der sozialmedizinischen Begutachtung rekrutiert. Von den 91 Faktoren wurden 86 Faktoren im Konsens, d. h. mit einer Übereinstimmung von>80% der Teilnehmenden, als relevant bzw. sehr relevant für die sozialmedizinische Begutachtung bewertet. Lediglich der Faktor Sexualgewohnheiten wurde als kaum relevant bewertet.
Schlussfolgerungen Im Konsens als relevant bewertet wurden die meisten Faktoren in den Kapiteln Einstellungen, Kompetenzen und Gewohnheiten und das Kapitel Lebenslage. Dort wurden die meisten Faktoren als relevant konsensuiert. Die Expert:innen einigten sich trotz ihrer großen fachlichen und beruflichen Heterogenität. Das hebt die Relevanz dieser Kontextfaktoren in der sozialmedizinischen Begutachtung im Rahmen einer Beantragung einer Erwerbsminderungsrente hervor.
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Abstract
Objective Person-related factors have been classified by the “ICF” working group of the German Society for Social Medicine and Prevention (DGSMP). Their consideration is required by the guidelines for socio-medical assessment, social law and the underlying biopsychosocial model. In the context of the socio-medical assessment for the disability pension for musculoskeletal diseases, this Delphi survey among experts was conducted to find a consensus on which of the personal and environmental factors are important.
Materials & Methods An online Delphi survey was conducted in three waves to build consensus among experts in order to identify relevant ICF contextual factors in socio-medical assessment. In order to involve heterogeneous perspectives, persons from the fields of socio-medical assessment, social law, social medicine, science, physicians working in rehabilitation, psychologists working in rehabilitation and patient representatives were recruited.
Results For the Delphi survey N=76 experts from the field of socio-medical assessment were recruited. 86 of 91 factors were rated by consensus, with an agreement of>80% of the participants, as relevant or very relevant for the socio-medical assessment. Only the factor sexual habits was rated as hardly relevant.
Conclusion The most factors being rated as relevant are from the chapters on attitudes, competencies and habits and the chapter on living situation. It is particularly interesting that the experts were able to agree on these factors despite their great professional heterogeneity. This highlights the relevance of these contextual factors in the socio-medical assessment in the context of an assessment for a disability pension.
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Schlüsselwörter
berufliche Reintegration - sozialmedizinische Begutachtung - Erwerbsminderungsrente - ICF - personbezogene Kontextfaktoren - RehabilitationKey words
ICF - rehabilitation - vocational reintegration - Social medical appraisal - person relatetd contextual factorsEinleitung & Hintergrund
Die Leitlinien zur sozialmedizinischen Beurteilung fordern explizit die Berücksichtigung der International Classification of Function, Disability and Health (ICF) [1] [2] [3]. Dieser Appell wird von der allgemeinen Orientierung gesetzlicher Vorschriften im Sozialrecht, an den Begrifflichkeiten und dem Konzept der ICF [4] und dem ihr zugrundeliegenden bio-psycho-sozialen Modell untermauert. Zentraler Bestandteil eines umfassenden Verständnisses von Teilhabe sind die in der ICF benannten Kontextfaktoren – Umwelt- und personbezogene Faktoren – und ihre Wechselwirkungen in deren Folge Funktionsfähigkeit oder Behinderung erfahren wird.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat die personbezogenen Faktoren aufgrund vorhandener globaler soziokultureller Unterschiede nicht klassifiziert. Diese Faktoren werden in und für den jeweiligen soziokulturellen Rahmen, in dem sie zur Anwendung kommen, beschrieben [5]. Für den deutschen Sprachraum erarbeitete 2010 die Arbeitsgruppe „ICF“ der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) einen Entwurf, der 2020 aktualisiert wurde [5] [6] [7]. Diese Systematik soll es den Anwender:innen ermöglichen, „relevante Einflüsse aus dem Lebenshintergrund einer Person strukturiert zu beschreiben und zu dokumentieren“ [6]. Damit könnten die Einflüsse auf die Teilhabe eines Menschen auf Grundlage des bio-psycho-sozialen Modells im Rahmen des Rehabilitationsprozesses umfassend und transparent beschrieben werden.
Diese Systematik der DGSMP bildet die Grundlage für die Konsensbildung im Delphi-Verfahren der vorliegenden Studie. In dem Konsensverfahren sollen neben den personbezogenen auch die Umweltfaktoren in Bezug auf ihre Relevanz in der sozialmedizinischen Begutachtung im Rahmen der Erwerbsminderungsrente (EMR) bei Menschen mit muskuloskeletalen Erkrankungen bewertet werden. Dadurch soll sich herauskristallisieren, welche Faktoren aus Expert:innensicht relevant sind und in der Begutachtung berücksichtigt werden sollten und welche nicht. Diese Faktoren haben möglicherweise das Potenzial als fördernde oder hindernde Faktoren für ein kontinuierliches Erwerbsleben identifiziert zu werden und damit individuelle rehabilitative Behandlungsempfehlungen zu unterstützen [8] [9]. Dies gilt insbesondere auch für Personen mit einer zeitlich befristeten EMR, bei denen zwar zum Zeitpunkt der Begutachtung grundsätzlich ein Potenzial zur Wiedergewinnung der Erwerbsfähigkeit gesehen wird, die aber mehrheitlich nicht in den Arbeitsmarkt zurückkehren [10] [11].
Das Forschungsprojekt „Kontextfaktoren der ICF in der sozialmedizinischen Begutachtung im Rahmen der Erwerbsminderungsrente bei muskuloskeletalen Erkrankungen“ (KomBi-EMR) besteht aus zwei Analysen, die in einem späteren Projektbaustein in einer Synthese münden. So wird zum einen der derzeitige Berücksichtigungsgrad der umwelt- und personbezogenen Faktoren der ICF in sozialmedizinischen Begutachtung auf EMR bei Menschen mit muskuloskeletalen Erkrankungen analysiert. Zum anderen werden relevante Kontextfaktoren in der Begutachtung, basierend auf einem Expert:innenkonsens mittels Delphi-Methode, identifiziert. Letzteres ist Gegenstand dieser Publikation. Ziel ist es, die Kontextfaktoren zu identifizieren, die für die sozialmedizinische Begutachtung aus der Sicht von Expert:innen des Gesundheitswesens relevant sind.
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Methodik
Studiendesign
Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine prospektive Studie. Durchgeführt wurde eine online Delphi-Befragung in drei Wellen zur Konsensbildung unter der Expert:innen, um relevante ICF-Kontextfaktoren in der sozialmedizinischen Begutachtung zu identifizieren.
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Stichprobe
Für die Delphi-Befragung sollten Expert:innen aus dem Feld der sozialmedizinischen Begutachtung und angrenzenden Fachbereichen mit möglichst ausgeglichener Geschlechterzugehörigkeit einbezogen werden. Ziel war es, möglichst heterogene Perspektiven bei der Beantwortung der Fragestellung zu involvieren und dabei eine Mindestanzahl von N=30 nicht zu unterschreiten [12] [13]. Die Rekrutierung für die Delphi-Befragung erfolgte in vorab festgelegten Berufsgruppen [14] durch Kontaktaufnahme mit u. a. der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV), der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP), der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) und Patientenvertretungen. Es wurden Patientenvertreter:innen rekrutiert, um auch die Perspektive der Begutachteten abzubilden. Im Zuge der Rekrutierung wurde angestrebt Expert:innen mit ICF-Expertise aus 6 Bereichen zu inkludieren: sozialmedizinische Begutachtung (n=5), Sozialrecht (n=5), Sozialmedizin (n=5), Wissenschaft (n=5), in der Rehabilitation tätige Mediziner:innen (n=5), in der Rehabilitation tätige Psycholog:innen (n=5) und Vertreter:innen von Patientenverbänden (n=5). Die Kontaktaufnahme bei den oben aufgeführten Organisationen erfolgte telefonisch und per E-Mail. Interessierte Personen nahmen Kontakt mit der Studienkoordination auf und erhielten im Anschluss eine E-Mail inklusive eines Informationsschreibens und einer Einverständniserklärung. Nach Zurücksenden der unterschriebenen Einverständniserklärung wurden die Personen unter Berücksichtigung der Ein- und Ausschlusskriterien in die Studie aufgenommen.
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Einschluss- und Ausschlusskriterien
Eingeschlossen wurden Expert:innen im Alter von≥35 Jahren und ca. 10-jähriger Berufstätigkeit in einem der o.g. Bereiche, von denen eine schriftliche Einverständniserklärung vorlag.
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Datenschutz und Ethik
Kontaktdaten wie Name und E-Mailadressen wurden zur Versendung des Online-Delphi-Tools in der MHH erfasst und zum Projektende gelöscht. Die Datenerhebung durch die digitale Delphi-Befragung ist durch einen Token anonymisiert und lässt keine Rückschlüsse auf die teilnehmenden Personen zu. Das positive Ethikvotum der Ethikkommission der Medizinischen Hochschule Hannover (Nr. 9480_BO_K_2020) sowie ein entsprechendes Datenschutzkonzept lagen vor.
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Fragebogeninstrumente
In der Befragung wurden soziodemographische Daten erfasst wie Geschlecht, Alter, Berufsgruppen- bzw. Vertreterzugehörigkeit, Berufserfahrung, berufliches Setting und Erwerbsstatus.
Des Weiteren erfolgte eine Abfrage der bisherigen Erfahrungen der Befragten mit der ICF. Die Befragung beinhaltete Fragen darüber, inwieweit die Person mit der ICF vertraut ist, Erfahrung mit ihr im Bereich Forschung hat und sie in der Praxis anwendet. Alle Fragen konnten jeweils anhand von 4 Antwortoptionen beantwortet werden („Trifft überhaupt nicht zu“, „Trifft eher nicht zu“, „Trifft eher zu“ und „Trifft voll und ganz zu“).
Um die Relevanz der Kontextfaktoren zu bewerten, wurde die Systematik der DGSMP operationalisiert (6) ([Tab. 1]). Die Teilnehmenden wurden gebeten die Frage „Wie relevant schätzen Sie die nachfolgenden Faktoren in ihrer (hemmenden bzw. fördernden) Bedeutung hinsichtlich einer individuellen Erwerbsfähigkeitseinschätzung im Rahmen von Begutachtungsprozessen zur EMR ein?“ anhand von jeweils 7-Antwortoptionen beantworten („1=überhaupt nicht relevant, 2=nicht relevant, 3=kaum relevant, 4=relevant, 5=sehr relevant, 6=höchst relevant, 10=keine Angabe“). Diese Frage wurde auf alle 91 Faktoren (darunter 36 Umweltfaktoren und 55 personbezogene Faktoren) angewendet. Des Weiteren gab es die Möglichkeit bei der ersten Welle nach jedem Kapitel bis zu drei weitere, für die Begutachtung als relevant erachtete, Kontextfaktoren als Freitext anzugeben. Bei entsprechend häufiger Nennung, nach Diskussion im Projektteam und wenn keine Übereinstimmung mit einem anderen Faktor vorlag, wurden diese Faktoren in der zweiten Welle in die Delphi-Befragung aufgenommen und bezüglich seiner Relevanz bewertet werden.
Umweltfaktoren |
|
Umwelt-Kapitel 1 |
Produkte und Technologien |
Umwelt-Kapitel 2 |
Natürliche und vom Menschen veränderte Umwelt |
Umwelt-Kapitel 3 |
Unterstützung und Beziehungen |
Umwelt-Kapitel 4 |
Einstellungen |
Umwelt-Kapitel 5 |
Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze |
Personbezogene Faktoren |
|
Person-Kapitel 1 |
Allgemeine Merkmale einer Person |
Person-Kapitel 2 |
Physische Faktoren |
Person-Kapitel 3 |
Mentale Faktoren |
Person-Kapitel 4 |
Einstellungen, Grundkompetenzen und Verhaltensgewohnheiten |
Person-Kapitel 5 |
Lebenslage und sozioökonomische/kulturelle Faktoren |
Person-Kapitel 6 |
Andere Gesundheitsfaktoren |
Die online Delphi-Befragung wurde über das Open-Source-Programm LimeSurvey durchgeführt. Das Programm wurde von einer IT-Firma so programmiert, dass die Befragten bei der zweiten und dritten Welle für jede Frage die aggregierten Ergebnisse aus der vorherigen Runde graphisch als Balkendiagramm ansehen konnten. Die eigene ausgewählte Antwortkategorie der Vorrunde wurde durch einen Punkt oberhalb des Balkendiagramms dargestellt (siehe [Abb. 1]). Orientierend an dieser Graphik konnten die Teilnehmenden ihre Bewertung in der aktuellen Welle vornehmen.
Zur Bewertung vorgelegt wurden umwelt- und personbezogene Kapitel und die dahinterliegenden Faktoren ([Tab. 2] [3]).
ICF-Schlüssel |
Personbezogener Faktor |
---|---|
i110–119 |
Alter |
i110 |
Kalendarisches Alter |
i112 |
Psychosoziales Alter |
i114 |
Biologisches Alter |
i120–129 |
Geschlecht |
i120 |
Biologisches Geschlecht |
i122 |
Soziales Geschlecht (Gender) |
i210 |
Körpermaße, Körperform und Körperzusammensetzung |
i220 |
Bewegungsbezogene Faktoren |
i221 |
Faktoren des Herz-, Kreislauf- und Atmungssystems |
i222 |
Faktoren des Stoffwechsels |
i223 |
Faktoren der Sinnesorgane |
i310–349 |
Faktoren der Persönlichkeit |
i310 |
Extraversion |
i315 |
Faktoren der Emotionalität |
i320 |
Gewissenhaftigkeit |
i325 |
Offenheit |
i330 |
Umgänglichkeit |
i335 |
Selbstvertrauen |
i340 |
Optimismus |
i350–369 |
Kognitive und mnestische Faktoren |
i350 |
Faktoren der Intelligenz |
i355 |
Kognitive Faktoren |
i360 |
Mnestische Faktoren |
i410–429 |
Einstellungen |
i410 |
Weltanschauung |
i411 |
Einstellung zur eigenen Person |
i413 |
Lebenszufriedenheit |
i416 |
Einstellung zu Gesundheit, Krankheit und Behinderung |
i418 |
Einstellung zur Unterstützung durch andere Personen |
i419 |
Einstellung zu Interventionen und technischen Hilfen |
i420 |
Einstellung zu finanziellen Versicherungs- und Versorgungsleistungen |
i421 |
Einstellung zur Bildung |
i422 |
Einstellung zur Arbeit |
i425 |
Einstellung zum sozialen Leben und zur Gesellschaft |
i430–449 |
Handlungskompetenz |
i430 |
Sozialkompetenz |
i431 |
Sprachkompetenz |
i433 |
Methodenkompetenz |
i436 |
Selbstkompetenz (Empowerment) |
i438 |
Fachkompetenz |
i442 |
Medienkompetenz |
i450–475 |
Gewohnheiten |
i450 |
Ernährungsgewohnheiten |
i453 |
Gewohnheiten beim Konsum von Genussmitteln |
i456 |
Bewegungsgewohnheiten |
i459 |
Gewohnheiten in alltäglichen Routinen |
i460 |
Freizeitgewohnheiten |
i462 |
Sexualgewohnheiten |
i465 |
Kommunikationsgewohnheiten |
i468 |
Hygienegewohnheiten |
i471 |
Gewohnheiten im Umgang mit Geld und materiellen Gütern |
i510 |
Familiärer Status |
i513 |
Status im unmittelbaren und weiteren sozialen Kontext |
i515 |
Wohnsituation |
i520 |
Beschäftigungsstatus |
i525 |
Wirtschaftlicher Status |
i527 |
Rechtlicher Status |
i530 |
Gesellschaftlicher Status |
i535 |
Kultureller Status |
i540 |
Zugehörigkeit zu ethnischen Gruppen |
i550 |
Bildungsstatus |
ICF-Schlüssel |
Umweltfaktor |
---|---|
e110 |
Produkte und Substanzen für den persönlichen Verbrauch |
e115 |
Produkte und Technologien zum persönlichen Gebrauch im täglichen Leben |
e120 |
Produkte und Technologien zur persönlichen Mobilität drinnen und draußen und zum Transport |
e125 |
Produkte und Technologien zur Kommunikation |
e135 |
Produkte und Technologien für die Erwerbstätigkeit |
e150 |
Entwurf, Konstruktion sowie Bauprodukte und Technologien von öffentlichen Gebäuden |
e155 |
Entwurf, Konstruktion sowie Bauprodukte und Technologien von privaten Gebäuden |
e225 |
Klima |
e240 |
Licht |
e245 |
Zeitbezogene Veränderungen |
e255 |
Schwingungen |
e310 |
Engster Familienkreis |
e320 |
Freunde |
e325 |
Bekannte, Seinesgleichen (Peers), Kollegen, Nachbarn und andere Gemeindemitglieder |
e330 |
Autoritätspersonen |
e340 |
Persönliche Hilfs- und Pflegepersonen |
e355 |
Fachleute der Gesundheitsberufe |
e360 |
Andere Fachleute |
e410 |
Individuelle Einstellungen der Mitglieder des engsten Familienkreises |
e420 |
Individuelle Einstellungen von Freunden |
e425 |
Individuelle Einstellungen von Bekannten, Seinesgleichen (Peers), Kolleg:innen, Nachbarn und anderen Gemeindemitgliedern |
e430 |
Individuelle Einstellungen von Autoritätspersonen |
e440 |
Individuelle Einstellungen von persönlichen Hilfs- oder Pflegepersonen |
e450 |
Individuelle Einstellungen von Fachleuten der Gesundheitsberufe |
e455 |
Individuelle Einstellungen von anderen Fachleuten |
e460 |
Gesellschaftliche Einstellungen |
e465 |
Gesellschaftliche Normen, Konventionen und Weltanschauungen |
e535 |
Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze des Kommunikationswesens |
e540 |
Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze des Transportwesens |
e550 |
Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze der Rechtspflege |
e555 |
Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze von Vereinigungen und Organisationen |
e570 |
Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze der sozialen Sicherheit |
e575 |
Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze der allgemeinen sozialen Unterstützung |
e580 |
Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze des Gesundheitswesens |
e585 |
Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze des Bildungs- und Ausbildungswesens |
e590 |
Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze des Arbeits- und Beschäftigungswesens |
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Studienablauf
Zunächst wurde das Online-Tool in einem Pilottest bei 10 Mitarbeiter:innen eines Universitätsklinikums hinsichtlich der Praktikabilität getestet. Anhand des Feedbacks der Teilnehmenden wurde die Befragung entsprechend überarbeitet.
Zu Beginn der online Delphi-Befragung lagen unterschriebene Einverständniserklärungen von 76 Personen vor. Diese erhielten im April 2022 via E-Mail einen personalisierten Link zur Teilnahme an der ersten Befragungswelle.
Im Juni 2022 startete die zweite Befragungswelle, gefolgt von der dritten Welle im Juli 2022. Eine Erinnerungs-E-Mail zur Teilnahme wurde immer drei bis vier Wochen nach der jeweiligen Welle versendet. In der zweiten und dritten Welle wurde ausschließlich die Relevanz der Kontextfaktoren bewertet. Die Teilnehmenden hatten jederzeit die Möglichkeit das Forschungsteam telefonisch und per E-Mail für Rückfragen zu kontaktieren und ohne Angabe von Gründen ihre Teilnahme an der Befragung zu beenden.
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Auswertung und Definition von Konsens
Die Antworten der Teilnehmenden wurden mit Hilfe einer Syntax aus LimeSuvey in SPSS importiert und dort deskriptiv analysiert. In Anlehnung an Jünger et al. (2017) wird der Konsens mit statistischen Maßen wie dem Prozentsatz der Bewertungen und dem Medianwert auf der Bewertungsskala konzeptualisiert. Der Cut-off für (Nicht-)Konsens basiert auf dem Prozentsatz der Zustimmung von 80%. Dieser Wert wird mit dem Median als zusätzlichem Parameter kombiniert, um kaum relevante, relevante und sehr relevante Werte zu definieren [15]. In der vorliegenden Studie wurde ein Faktor im Konsens als relevant definiert, wenn≥80% der befragten Expert:innen den jeweiligen Faktor zwischen 4=relevant und 6=höchst relevant bewertet haben. Als irrelevant hingegen wurde ein Faktor definiert, wenn≥80% der Befragten einen Faktor zwischen 1=überhaupt nicht relevant und 3=kaum relevant bewertet haben. Zusätzlich wurde der Medianwert bestimmt, der den jeweiligen Faktor einer Antwortkategorie zuordnet, wodurch eine Rangfolge der Faktoren erstellt wurde.
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Ergebnisse
Zu Studienbeginn lagen die unterschriebenen Einverständniserklärungen von N=76 Expert:innen vor. Alle wurden zur ersten Welle eingeladen. An der ersten Welle nahmen 53 Expert:innen teil. Die Anzahl der Teilnehmenden im Verlauf der drei Wellen und weitere soziodemographische Charakteristiken werden in [Tab. 4] dargestellt.
Soziodemographische Daten |
1. Welle |
2. Welle |
3. Welle |
|
---|---|---|---|---|
Anzahl der Teilnehmenden |
53 |
48 |
43 |
|
Alter |
M; SD |
54,2; 9,5 |
54,1; 9,9 |
53,3; 9,8 |
Spannbreite |
35–77 |
35–77 |
35–77 |
|
Geschlecht |
Weiblich |
47,2% |
45,8% |
46,5% |
Männlich |
52,8% |
54,2% |
53,5% |
|
Expertengruppe n |
Gutachter:in |
9 |
9 |
7 |
Sozialrechtler:in |
6 |
6 |
6 |
|
Wissenschaftler:in |
8 |
8 |
7 |
|
Mediziner:in |
6 |
5 |
4 |
|
Psychotherapeut:in |
4 |
4 |
4 |
|
Sozialpädagog:in |
1 |
1 |
1 |
|
Ergotherapeut:in |
2 |
2 |
2 |
|
Physiotherapeut:in |
3 |
2 |
2 |
|
Patient:innen-Vertreter:in |
14 |
11 |
10 |
|
Berufserfahrung |
M; SD |
22,3 (11,3) |
21,8 (11,5) |
21,4 (11,4) |
Spannbreite |
3–55 |
3–55 |
3–55 |
|
Setting |
Ambulant |
39,6% |
39,6% |
39,5% |
Stationär |
22,6% |
20,8% |
20,9% |
|
Fehlend/andere Settings |
35,1% |
39,6% |
39,5% |
|
Erwerbsstatus |
Erwerbstätig |
81,1% |
81,3% |
81,4% |
Ruhestand |
7,5% |
8,3% |
7,0% |
|
Erwerbsgemindert |
5,7% |
4,2% |
4,7% |
|
Ehrenamtlich tätig |
3,8% |
4,2% |
4,7% |
|
Fehlend |
1,9% |
2,1% |
2,3% |
M=Mittelwert; SD=Standardabweichung
Erfahrung mit der ICF
Die persönliche Erfahrung mit der ICF, die die Teilnehmenden mitbrachten, blieb über alle drei Delphi-Wellen hinweg relativ gleich verteilt ([Tab. 5]). Mit der ICF vertraut waren ca. 77% der Teilnehmenden, wohingegen lediglich ca. 35% Erfahrung mit der ICF im Bereich Forschung angaben. Von den teilnehmenden Expert:innen wandten 32% die ICF in der Praxis an. Damit zeigt sich, dass ¾ der Befragten zwar vertraut mit der ICF waren, jedoch lediglich 1/3 von ihnen jeweils Erfahrungen in der Forschung und der Praxisanwendung hatten.
Fragen |
Antwortkategorien |
Häufigkeiten 1. Welle |
2. Welle |
3. Welle |
---|---|---|---|---|
Ich bin mit dem ICF-Konzept und den Komponenten vertraut |
Trifft überhaupt nicht zu |
7,5% |
8,3% |
9,3% |
Trifft eher nicht zu |
15,1% |
14,6% |
14,0% |
|
Trifft eher zu |
32,1% |
33,3% |
32,6% |
|
Trifft voll und ganz zu |
45,3% |
43,8% |
44,2% |
|
Ich habe Erfahrung mit ICF im Bereich Forschung |
Trifft überhaupt nicht zu |
28,3% |
27,1% |
25,6% |
Trifft eher nicht zu |
26,4% |
25,0% |
27,9% |
|
Trifft eher zu |
15,1% |
16,7% |
14,0% |
|
Trifft voll und ganz zu |
20,8% |
22,9% |
23,3% |
|
Ich wende die ICF in der Praxis an |
Trifft überhaupt nicht zu |
34,0% |
33,3% |
32,6% |
Trifft eher nicht zu |
30,2% |
31,3% |
32,6% |
|
Trifft eher zu |
18,9% |
18,8% |
18,6% |
|
Trifft voll und ganz zu |
13,2% |
14,6% |
14,0% |
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Relevanz der Kontextfaktoren
Die Relevanz der umwelt- und personbezogenen Faktoren wurde in drei Wellen erhoben. An der dritten Befragungswelle nahmen, von anfangs 53 Personen, noch 43 Personen teil. Für 86 Faktoren wurde ein Konsens zur Relevanz der Faktoren erzielt, d. h.≥80% der Expert:innen haben die Faktoren zwischen relevant bis höchst relevant bewertet. Es konnte kein Konsens gefunden werden bezüglich der (Nicht)Relevanz der Faktoren „Biologische Geschlecht“, „Soziales Geschlecht/Gender“, „Weltanschauung“ und „Zugehörigkeit von ethnischen Gruppen“. Als einziger Faktor wird der Faktor „Sexualgewohnheiten“ als kaum relevant bewertet. Neben der Erreichung eines Konsensus bildet der Median die Möglichkeit die Faktoren in ein Ranking zu bringen. Die folgenden Tabellen bilden die Mediane der Faktoren ab, zu denen ein Konsens erreicht wurde. Bei der Darstellung wurde zwischen umwelt- und personbezogenen Faktoren unterschieden ([Tab. 6] [7]). Die Ergebnisse der Faktorenbewertung werden detailliert im Supplement (Tab. Sup. 1) dargestellt. Dort sind die prozentualen Häufigkeiten aller Werte der Antwortoptionen abgebildet. Es zeigt sich, dass die von der AG der DGSMP entwickelten personbezogenen Faktoren zu einem sehr hohen Anteil als relevant für die sozialmedizinische Begutachtung bewertet werden. Die Expert:innen ergänzten weitere aus ihrer Sicht relevante Faktoren: Schlafhygiene, Geräusche/Lärm, Gesundheitskompetenz und Produkte und Technologien zur Barrierefreiheit, die allerdings nicht im Konsens als relevant bewertet wurden.
Umweltbezogene Faktoren |
|
---|---|
Faktoren mit Median=4 (relevant) |
Faktoren mit Median=5 (sehr relevant) |
1. Produkte und Substanzen für den persönlichen Verbrauch |
2. Produkte und Technologien zum persönlichen Gebrauch im täglichen Leben |
7. Entwurf, Konstruktion sowie Bauprodukte und Technologien von privaten Gebäuden |
3. Produkte und Technologien zur persönlichen Mobilität drinnen und draußen und zum Transport |
8. Klima |
4. Produkte und Technologien zur Kommunikation |
9. Licht |
5. Produkte und Technologien für die Erwerbstätigkeit |
10. Zeitbezogene Veränderungen |
6. Entwurf, Konstruktion sowie Bauprodukte und Technologien von öffentlichen Gebäuden |
11. Schwingungen |
12. Engster Familienkreis |
14. Bekannte, Seinesgleichen (Peers), Kollegen, Nachbarn und andere Gemeindemitglieder |
13. Freunde |
15. Autoritätspersonen |
16. Persönliche Hilfs- und Pflegepersonen |
18. Andere Fachleute |
17. Fachleute der Gesundheitsberufe |
20. Individuelle Einstellungen von Freunden |
19. Individuelle Einstellungen der Mitglieder des engsten Familienkreises |
21. Individuelle Einstellungen von Bekannten, Seinesgleichen (Peers), Kolleg:innen, Nachbar:innen und anderen Gemeindemitgliedern |
24. Individuelle Einstellungen von Fachleuten der Gesundheitsberufe |
22. Individuelle Einstellungen von Autoritätspersonen |
32. Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze der sozialen Sicherheit |
23. Individuelle Einstellungen von persönlichen Hilfs- oder Pflegepersonen |
33. Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze der allgemeinen sozialen Unterstützung |
25. Individuelle Einstellungen von anderen Fachleuten |
34. Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze des Gesundheitswesens |
26. Gesellschaftliche Einstellungen |
35. Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze des Bildungs- und Ausbildungswesens |
27. Gesellschaftliche Normen, Konventionen und Weltanschauungen |
36. Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze des Arbeits- und Beschäftigungswesens |
28. Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze des Kommunikationswesens |
|
29. Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze des Transportwesens |
|
30. Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze der Rechtspflege |
|
31. Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze von Vereinigungen und Organisationen |
Personbezogene Faktoren |
||
---|---|---|
Faktoren mit Median=3 (kaum relevant) |
Faktoren mit Median=4 (relevant) |
Faktoren mit Median=5 (sehr relevant) |
78. Sexualgewohnheiten |
37. Kalendarisches Alter |
38. Psychosoziales Alter |
42. Körpermaße, Körperform und Körperzusammensetzung |
39. Biologisches Alter |
|
45. Faktoren des Stoffwechsels |
43. Bewegungsbezogene Faktoren |
|
47. Extraversion |
44. Faktoren des Herz-, Kreislauf- und Atmungssystems |
|
48. Faktoren der Emotionalität |
46. Faktoren der Sinnesorgane |
|
49. Gewissenhaftigkeit |
52. Selbstvertrauen |
|
50. Offenheit |
55. Kognitive Faktoren |
|
51. Umgänglichkeit |
56. Mnestische Faktoren |
|
53. Optimismus |
58. Einstellung zur eigenen Person |
|
54. Intelligenz |
60. Einstellung zu Gesundheit, Krankheit und Behinderung |
|
59. Lebenszufriedenheit |
61. Einstellung zu Hilfen |
|
64. Einstellung zur Bildung hinsichtlich der eigenen Bildung und Bildung generell |
62. Einstellung zu Interventionen und technischen Hilfen |
|
68. Sprachkompetenz |
63. Einstellung zu finanziellen Versicherungs- und Versorgungsleistungen |
|
69. Methodenkompetenz |
65. Einstellung zur Arbeit |
|
71. Fachkompetenz |
66. Einstellung zum sozialen Leben und zur Gesellschaft |
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72. Medienkompetenz |
67. Sozialkompetenz |
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73. Ernährungsgewohnheiten |
70. Selbstkompetenz (Empowerment) |
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74. Gewohnheiten beim Konsum von Genussmitteln |
75. Bewegungsgewohnheiten |
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76. Gewohnheiten in alltäglichen Routinen |
85. Beschäftigungsstatus |
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77. Freizeitgewohnheiten |
86. Wirtschaftlicher Status |
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79. Kommunikationsgewohnheiten |
91. Bildungsstatus |
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80. Hygienegewohnheiten |
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81. Gewohnheiten im Umgang mit Geld und materiellen Gütern |
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82. Familiärer Status |
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83. Status im unmittelbaren und weiteren sozialen Kontext |
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84. Wohnsituation |
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87. Rechtlicher Status |
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88. Gesellschaftlicher Status |
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89. Kultureller Status |
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Diskussion
Häufig waren den Expert:innen die Kapitel Einstellungen, Kompetenzen und Gewohnheiten und das Kapitel Lebenslage wichtig, dort wurden die meisten Faktoren als relevant konsensuiert. Besonders ist hierbei interessant, dass sich die Expert:innen trotz ihrer großen fachlichen und beruflichen Heterogenität darauf einigen konnten. Das hebt die Relevanz dieser Kontextfaktoren in der sozialmedizinischen Begutachtung im Rahmen einer Beantragung einer Erwerbsminderungsrente hervor.
Von Kus et al. wird die Relevanz der person- und umweltbezogenen Faktoren noch unterstrichen. Sie zeigten, dass diese Faktoren in der Lage sind die Wahrscheinlichkeit einer Return to Work (RTW) vorherzusagen. Unter den Umweltfaktoren waren es der Berufsstand, laufende Rechtsstreitigkeiten und finanzielle Sorgen und unter den personbezogenen Faktoren Persönlichkeitsmerkmale, die Lebenszufriedenheit vor dem Unfall, die Lebenseinstellung und die Forderung nach Rentenansprüchen, die den RTW vorhersagen konnten [16]. Dies unterstreicht die Ergebnisse des Expert:innen-Konsens.
Es gibt bereits Projekte zur Entwicklung und Implementierung von ICF-basierten Tools für die berufliche Rehabilitation, die Unterstützung der Kommunikation und der Rückkehr ins Erwerbsleben zwischen den betroffenen Personen, dem klinischen Team und Ansprechpartner:innen des Jobcenters. Johansen et al. (2022) entwickelten einen ICF-basierten Fragebogen für Patient:innen und einen ICF-Bericht, der die Bewertung der ICF-Kategorien durch eine:n Kliniker:in unterstützt. Diese wurden den Ansprechpartner:innen des Jobcenters gesendet. Für die Jobcenter waren die darin enthaltenen Informationen sehr relevant und es entstand ein gemeinsames Verständnis von fördernden und hemmenden Faktoren für den RTW auf Basis der ICF. Die Arbeitsämter berichteten, dass der Bericht und der Fragebogen ihnen eine bessere Grundlage für Entscheidungen über weitere arbeitsbezogene Maßnahmen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt lieferten, um eine ganzheitliche Perspektive auf die Möglichkeiten für RTW zu erlangen [17]. Weitere Assessments sind derzeit in Arbeit. So haben de Wind et al. (2022) 20 ICF-Faktoren identifiziert, darunter sechs personbezogene Faktoren, aus denen ein Instrument zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit und Wiedereingliederungsmöglichkeiten erstellt werden soll [18]. Gemeinsam haben all diese Ansätze, dass sie zwar Instrumente und einzelne Abschnitte der ICF-Systematik anwenden, jedoch teils ausschließlich umweltbezogene Faktoren oder zumindest nie alle als relevant konsensuierten personenbezogenen Faktoren einbeziehen. Ähnlich sieht es auch auf europäischer Ebene aus. 2008 hat die Working Group of the European Union of Medicine in Assurance and Social Security (EUMASS) ein ICF-Core-Set für Funktionsbewertungen bei Anträgen und Erwerbsunfähigkeitsleistungen entwickelt. Diese enthält allerdings ausschließlich Kategorien der Körperfunktionen und Aktivitäten und Teilhabe. Umwelt- und personbezogene Faktoren fehlen hier [19].
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Rehabilitation (BAR) hat eine Arbeitshilfe mit haptischen Add-ons zum Thema Kontextfaktoren bei der Entwicklung von Teilhabebedarfen entwickelt. Das Ziel dieser Arbeitshilfe ist zum einen, die strukturierte Erfassung der Kontextfaktoren zu erleichtern, die Bedarfsermittlung zu optimieren und die Qualifizierung der Bedarfsermittler:innen zu fördern. Zum anderen ist es das Ziel „die individuellen Barrieren und Förderfaktoren für eine gelingende Teilhabe zu identifizieren und so auch zu ermöglichen, dass diese in ihrer Wirkung entweder minimiert oder positiv verstärkt werden“ [20]. Damit kann die Arbeitshilfe Begutachtende unterstützen und die hier gezeigte Relevanz der Kontextfaktoren berücksichtigen.
Mit der Systematik der DGSMP und dem Konsens der Expert:innen ist eine Grundlage geschaffen für weitere Entwicklungen von neuen ganzheitlichen Betrachtungsansätzen in der sozialmedizinischen Begutachtung, die höchstwahrscheinlich zu einer Steigerung der Qualität führen könnten. Die personbezogenen und Umweltfaktoren können sich auf einem Kontinuum von einem Förderfaktor bis zu einem hemmenden Faktor auf den Begutachteten auswirken. Diese Auswirkungen haben wiederum einen Einfluss auf die Rückkehr ins Erwerbsleben. Aufgrund der Ergebnisse der Delphi-Befragung vermuten wir, dass die als relevant und sehr relevant bewerteten Faktoren im Rahmen einer sozialmedizinischen Begutachtung, sofern sie als fördernd oder hinderlich benannt werden können, durchaus Potenzial haben ein detailliertes Bild der Begutachteten bezüglich ihrer Kontexte zu skizzieren.
Die Integration von Kontextfaktoren in die sozialmedizinische Begutachtung könnte ein Weg sein, um ein detaillierteres Portrait des Begutachteten zu zeichnen, das sowohl für die Bewilligung als auch Planung rehabilitativer Maßnahmen einen Mehrwert darstellt. Ein Beispiel: Einem Begutachteten mit einem schlechten medizinischen Befund und einem beruflichen Leistungsvermögen von 3–6 Stunden, mit einem unterstützenden Freundes- und Familienkreis und einer positiven Einstellung zur Arbeit, könnten auf dieser Grundlage rehabilitative Maßnahmen oder LTA genehmigt werden. Einem ähnlichen Begutachteten mit den gleichen körperlichen Voraussetzungen, jedoch ohne das unterstützende Umfeld und mit einer negativen Einstellung zur Rückkehr ins Erwerbsleben, würden die Maßnahmen ggf. nicht oder in geringerem Umfang genehmigt werden. Letzteres wäre sinnvoll da weiterhin der Grundsatz „Reha vor Rente“ besteht. Im Idealfall könnten anhand der umwelt- und personbezogenen Faktoren, diejenigen identifiziert und unterstützt werden, die mit fördernden Kontextfaktoren auf den RTW hinarbeiten. Möglicherweise bieten sich hier Ansätze für Fallmanagementkonzepte auf Grundlage der umwelt- und personbezogenen Faktoren.
Dies wäre ein Model, das Ressourcen kanalisiert und spezifischer verteilt. Auf Seiten der Berater:innen, wäre ein Vorteil eines solchen Vorgehens, dass sie eine größere Wirksamkeit ihrer Beratung wahrnehmen könnten, da sie hauptsächlich mit Klient:innen arbeiten würden, die die Beratung tatsächlich zum RTW nutzen möchten.
Als Limitation der Studie ist zu benennen, dass die rekrutierten Expert:innen sich nicht zu 100% mit der ICF auskannten. Dies spiegelt sicherlich den hohen Anzahl an Patientenvertreter:innen wider, die sich nicht im beruflichen Kontext mit der ICF befassten. Bemerkenswert war dennoch die über alle drei Wellen hohe Beteiligung von Patientenvertreter:innen, die durch ihre Teilnahme die Perspektive der Begutachteten bzw. die sog. Nutzerperspektive eingebracht haben.
Eine Stärke dieser Studie ist die Multiprofessionalität unter den Befragten, da Multiprofessionalität im medizinischen Kontext zunehmend an Bedeutung gewinnt. Durch abgestimmte Beurteilungen und klare Kriterien kann die Effektivität der Zusammenarbeit verbessert werden und ein besseres Verständnis zwischen den Begutachteten, deren Umfeld und den Begutachtenden erreicht werden.
Ausblick
Im weiteren Projektverlauf sollte eine Fokusgruppe mit sozialmedizinischen Gutachter:innen durchgeführt werden, um mit der Zielgruppe dieses Projektes, die als relevant bewerteten Faktoren zu diskutieren. Finden sie diese ebenfalls wichtig? Sind einige Faktoren für besondere Gruppen von begutachteten Personen relevant? Sollte man diesbezüglich zwischen Personen unterscheiden, die nur kurz eine EMR in Anspruch nehmen möchten und solchen, die die EMR als Übergang in die Altersrente nutzen möchten?
Eine im Zuge dieser Studie durchgeführte Analyse von Gutachten wird zeigen, inwiefern sich eine Kongruenz zwischen den von den Expert:innen als relevant bezeichneten Faktoren und den in der gutachterlichen Realität aufzufindenden Faktoren abbilden lässt.
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Interessenkonflikt
Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Danksagung
Wir danken Frau Dr. Juliane Briest und Frau Silke Freihoff für die Vorarbeiten im Kombi-EMR-Projekt.
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Literatur
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Korrespondenzadresse
Publication History
Received: 26 April 2023
Accepted: 30 July 2023
Article published online:
09 October 2023
© 2023. The Author(s). This is an open access article published by Thieme under the terms of the Creative Commons Attribution-NonDerivative-NonCommercial-License, permitting copying and reproduction so long as the original work is given appropriate credit. Contents may not be used for commercial purposes, or adapted, remixed, transformed or built upon. (https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/).
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
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