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DOI: 10.1055/a-2249-8412
Somatische Belastungsstörungen
Neues ausprobieren – Erwartungen verletzen!
Seit dem letzten Themenheft zu Somatoformen Störungen sind 16 Jahre vergangen! Höchste Zeit, sich der Thematik neu zu widmen. Zunächst ein herzliches „Danke“ an alle Autor*innen für Ihre Unterstützung.
Es wird deutlich, dass auf der Ebene allgemeiner Behandlungsempfehlungen (Leitlinien, Metaanalysen) Nachhol- und Aktualisierungsbedarf besteht: Das letzte Cochrane Review liegt 8 Jahre zurück und die letzte AWMF-Leitlinie zu funktionellen Körperbeschwerden ist von 2018. Ein großer Hemmschuh für neue Forschungsbemühungen ist und bleiben sicherlich die große Heterogenität und Interdisziplinarität des Störungsbereichs sowie die Veränderungen der diagnostischen Kriterien in DSM und ICD. Auch wenn wir in den neuen Diagnosesystemen endlich weg von den Negativkriterien (fehlende organmedizinische Erklärung), hin zu Positivkriterien (übermäßige Aufmerksamkeit auf Symptome) gekommen sind, ist eine interdisziplinäre, einheitliche Verortung der einzelnen Diagnosen leider noch nicht gelungen. Der Bereich des chronischen Schmerzes bildet dabei die Ausnahme. Hier sehen wir, wie es besser geht, im Rahmen von interdisziplinären Schmerzzentren und speziellen Weiterbildungen für Schmerzpsychotherapie.
Trotzdem gibt es Neues zu berichten! Ein Thema, das sich durch viele Beiträge zieht, ist der Umgang mit ungünstigen und früh erworbenen Erwartungen, die es gilt, im Rahmen der Therapie zu „verletzen“. Forschungen zum „Predictive Coding“ nähern sich auf neuronaler Ebene und postulieren unbewusste Filterprozesse im Gehirn, die aufgrund früher Stresserfahrungen den ungünstigen Erwartungen entsprechende Wahrnehmungen bevorzugen. Hierzu werden spezielle Therapien entwickelt, um die Prozesse salient zu machen und Erwartungen zu verändern (Pain Processing Therapy).
Auch das Konzept des „epistemischen Misstrauens“ beschreibt, dass Menschen aufgrund ihrer traumatischen Erfahrungen negative Erwartungen gegenüber anderen Informationsquellen entwickeln und diese als unzuverlässig ansehen. Wir wissen, dass viele Patient*innen mit Somatischer Belastungsstörung in unserem Gesundheitssystem schwierige Erfahrungen machen, im Sinne von iatrogenen Schädigungen durch Überdiagnostik oder dem Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. Häufig werden durch das Gesundheitssystem Passivität und Angst gefördert bzw. Enttäuschung oder Kränkung hervorgerufen. Vor dem Hintergrund des negativen Bias, mit dem diese Patientengruppe häufig aufgrund der frühen traumatisierenden Erfahrungen an Behandler*innen herantritt, gilt es auch hier negative Erwartungen zu verletzen und neue, positivere Erfahrungen zu fördern. Neue Konzepte der Versorgung können dabei eine wichtige vertrauensbildende Rolle spielen, etwa ein in die Hausarztpraxis integriertes psychotherapeutisches Online-Angebot.
Viele Menschen, die von Somatischer Belastungsstörung betroffen sind, vermeiden aus Angst bestimmte Bewegungen, Aktivitäten und Belastungen und halten dadurch ungewollt ihre Beschwerden aufrecht oder verschlimmern diese. In modernen therapeutischen Ansätzen werden daher mit Patient*innen auch hier die negativen Erwartungen expliziert und durch gezielte Übungen widerlegt. Viele unserer Beiträge können Psychotherapeut*innen Anregungen für die wirksame körperliche Aktivierung ihrer Patienten geben. Das reicht von Empfehlungen zu sportlicher Aktivität über meditative Bewegungstherapie bis hin zu den bewährten Entspannungsverfahren.
Wir hoffen, Sie hatten beim Lesen ebenso viel Freude wie wir!
Ihre Herausgeber
Alexandra Zaby und Volker Köllner
Publication History
Article published online:
19 November 2024
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