Z Sex Forsch 2024; 37(02): 122-123
DOI: 10.1055/a-2290-0131
Buchbesprechungen

Mädchen und Jungen in der Kita. Körper – Gender – Sexualität

Stefan Timmermanns
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Tim Rohrmann und Christa Wanzeck-Sielert. Mädchen und Jungen in der Kita. Körper – Gender – Sexualität. 3., aktualisierte Auflage. Stuttgart: Kohlhammer 2023 (Reihe: Entwicklung und Bildung in der frühen Kindheit). 272 Seiten, EUR 36,00

Bei dem hier rezensierten Buch handelt es sich um die dritte, aktualisierte Auflage des Buches, das 2014 in Erstauflage erschienen ist. Nach ersten und grundlegenden Kapiteln zu den Themen Körper und Geschlecht/Gender wird das Thema Sexualität vor allem unter der Perspektive des kindlichen Sexualverhaltens dargestellt. Ausführlich werden dabei auch sexuell auffälliges Verhalten von Kindern behandelt sowie die Frage, was „normal“ ist. Die Gegenüberstellung von häufig und selten beobachtetem sexuellen Verhalten dürfte sehr hilfreich für die Beantwortung dieser Frage in der Praxis sein. Dies gilt ebenso für die Einschätzung sexueller Grenzverletzungen unter Kindern: Durch die zahlreichen Beispiele und Alltagssituationen wird die Reflexion und Diskussion dieses Themas in Kita-Teams angeregt.

Positiv zu erwähnen ist auch die Einordnung der Vorwürfe gegen die Unterscheidung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht durch rechte und rechtsextreme Gruppierungen. Dadurch dürfte es Fachkräften in der Praxis leichter gelingen, mit entsprechenden Argumentationen von Eltern oder Politiker*innen umzugehen. Zu den Stärken des Buches gehören auch der differenzierte Blick auf Sexualität allgemein und die Behandlung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen kindlicher und erwachsener Sexualität. Die Uneindeutigkeiten dieses Themas werden gut ausgelotet und trotzdem steht am Ende eine klare Unterscheidung bzw. Abgrenzung der beiden Ausdrucksformen.

Dass es getrennte Angebote für Mädchen und Jungen in der Kita gibt, von denen beide Geschlechter profitieren können, wird von den beiden Autor*innen nicht pauschal empfohlen, stattdessen soll eine solche Aufteilung gezielt eingesetzt werden. Eine solche Trennung könne gegebenenfalls zur Entdramatisierung von Geschlechtsstereotypen beitragen, indem die Heterogenität innerhalb der Geschlechter sichtbar wird. Um dies erfolgreich umzusetzen, wäre eine kurze Darstellung hilfreich gewesen, wie in der Praxis nach dem Konzept der Dramatisierung/Entdramatisierung gearbeitet werden kann (z. B. dass jeder Phase der Dramatisierung auch eine Phase der Entdramatisierung folgen sollte und wie dies in der Praxis aussehen kann). Zudem wird nicht angesprochen, wie in der getrenntgeschlechtlichen Arbeit mit geschlechtsvarianten Kindern oder Kindern, die sich nicht mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren, umgegangen werden kann: Welcher Gruppe sollen sie sich am besten zuordnen?

In der Vorbemerkung der dritten Auflage gibt das Autor*innenteam an, dass es die Grundorientierung der ersten Auflage sowie die Begriffe Jungen und Mädchen beibehalte, damit Geschlechterunterschiede, wie z. B. in der Sprachentwicklung, nicht aus dem Blick geraten. Trotzdem solle die Vielfältigkeit von Geschlecht dadurch nicht ignoriert werden und sollten Menschen, die sich nicht in das binäre Geschlechtermodell einordnen lassen, nicht ausgeschlossen werden. Damit wird ein grundlegendes Dilemma deutlich, das nur schwer zu vermeiden ist: Entweder wird versucht, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern sichtbarer zu machen, was jedoch die binäre Kategorisierung von Geschlecht verfestigt, oder die Heterogenität innerhalb der Geschlechterkategorien wird betont, wobei hier am Ende die Gefahr besteht, dass sich die Unterschiede zwischen den Geschlechtern relativieren und zu verschwimmen drohen. Die Frage ist, ob nicht doch beides möglich ist: sowohl die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen klar herauszuarbeiten als auch immer wieder auf die Bandbreite an Verhaltensweisen und körperlichen Konditionen innerhalb der Geschlechter hinzuweisen. Trotz der Notwendigkeit, Komplexität zu reduzieren, sollte es doch immer wieder möglich sein, Vielfalt innerhalb von Kategorien darzustellen. Eine differenziertere Darstellung von Geschlecht jenseits eines binären Verständnisses wäre in dem vorliegenden Buch jedoch nur mit einer kompletten Neufassung zu bewerkstelligen gewesen. Somit bleibt das Werk in seiner dritten Auflage der binären Geschlechterlogik treu und behandelt die Themen Trans*- und Inter*geschlechtlichkeit sowie weitere Varianten von Geschlechtsidentität nicht immer, aber grundsätzlich additiv, d. h. in gesonderten Kapiteln. So bleiben diese Themen weitestgehend isoliert, was die Gefahr birgt, dass z. B. das Kapitel 3.5 „Intergeschlechtlichkeit und Transidentität“ überlesen wird, weil diese Themen (scheinbar) nur wenige Kinder betreffen und daher als nicht wichtig wahrgenommen werden. Auch wenn das zahlenmäßig einleuchten mag, so betrifft es doch alle in einer Kita spätestens dann, sobald es dort ein Kind gibt, das die „klassischen“ Geschlechterkategorien sprengt, denn alle in der Einrichtung müssen sich in diesem Fall dazu verhalten.

Ein anderer Kritikpunkt ist die Begriffserklärung zu Geschlechtsidentität, die von einer „eindeutige(n) und unveränderbare(n) Zugehörigkeit zu einer Geschlechtsgruppe“ (S. 35) spricht. Dies ignoriert, dass es Menschen gibt, die im Laufe ihres Lebens ihre geschlechtliche Identität verändern oder diese fluide gestalten. Die Definition orientiert sich an der binären Norm und differenziert nicht ausreichend. Ein positives Beispiel für eine gelungene Differenzierung – in diesem Falle zwischen unterschiedlichen Männlichkeiten und Weiblichkeiten – stellt Kapitel 3.2 („Das System der Zweigeschlechtlichkeit“) dar. Darin wird das Konzept der hegemonialen Männlichkeiten von Connell dargestellt. Ein weiteres Mal gelingt eine Differenzierung im Abschnitt „Jungenwelten und Mädchenwelten“ des Kapitels 3.4, in dem ausgeführt wird, dass es immer auch Mädchen und Jungen gibt, die in Bezug auf ihr Verhalten von den Geschlechterstereotypen abweichen (vgl. S. 57).

Im zweiten Teil des Buches folgen Kapitel zum Thema „Erzieherin als ‚Frauenberuf‘“ (Kapitel 5.1) und zur Bedeutung des Geschlechts pädagogischer Fachkräfte für ihre Arbeit (Kapitel 5.1 und Kapitel 5.2). Das Thema Gender wird im Kontext der Bildungsdiskussion und in Bezug auf seine Verwobenheit mit kulturellen und/oder religiösen Aspekten betrachtet. Grundlagen der Sexualpädagogik und Sexuellen Bildung werden ebenso beschrieben wie sexualpädagogische Handlungskompetenz (vgl. Kapitel 7.3). In Kapitel 8 geht es um „Schritte in die Praxis“. Hier wird zunächst durch Beobachtung und Dokumentation die Geschlechtergerechtigkeit einer Einrichtung überprüft. In diesem Zusammenhang wird empfohlen, auch mit Kindern über Geschlechterfragen zu sprechen (z. B.: Was mag ich? Was stört mich?), aber auch über Trans- und Intergeschlechtlichkeit sowie Fragen zu sexuellen Themen. Dabei werden auch hilfreiche Anregungen gegeben, wie Fachkräfte mit solchen Fragen umgehen können. Abschließend behandelt das Buch die Bedeutung von Gender in verschiedenen Bildungsbereichen wie Sprache, ästhetischer Bildung und Naturwissenschaften. Kapitel 10 zur „Zusammenarbeit mit Müttern und Vätern“ rundet das Buch ab. Hierbei wird die Sensibilisierung von Eltern für Geschlechterthemen oder Sexualerziehung von Kindern behandelt. Auch wird auf den Umgang mit Eltern aus unterschiedlichen Kulturen eingegangen und die Ansprache von Vätern wird mit vielen Tipps und Hinweisen beschrieben, die auch konkret in der Praxis umgesetzt werden können.

Trotz einiger Kritikpunkte bietet das Buch reichhaltige Informationen rund um die Themen Geschlecht, Identitätsentwicklung und Sexualität in der Kita. Es ist sowohl für Fachkräfte als auch Studierende und Lehrende an Fachschulen und Hochschulen als grundlegende Einführung sehr gut geeignet.

Stefan Timmermanns (Frankfurt am Main)



Publication History

Article published online:
13 June 2024

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