Schlüsselwörter
Hausärztliche Versorgung - Gesundheitspolitik - Kommunen - Befragung - Primärversorgung
Keywords
primary care - survey - health policy - gp care - municipalities - cities and communities
Einleitung
Die Hausarztpraxis als erste Anlaufstelle für gesundheitliche Belange der
Bürger*innen ist im deutschen Gesundheitssystem von zentraler Bedeutung. Die
Gewährleistung und Schaffung des Zugangs zur medizinischen Versorgung gilt als Teil
Daseinsvorsorge und ist somit auch für Kommunen von hoher Priorität [1]
[2]. Trotz einiger landespolitischer
Initiativen und Fördermaßnahmen der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) ist die
bedarfsgerechte und wohnortnahe hausärztliche Versorgung vierlerorts gefährdet bzw.
schon heute nicht mehr sichergestellt [3]
[4]
[5]
[6]. Spätestens seit Erscheinen des
Gutachtens des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im
Gesundheitswesen (SVR Gesundheit) „Bedarfsgerechte Versorgung – Perspektiven für
ländliche Regionen und ausgewählte Leistungsbereiche“ aus dem Jahr 2014 gilt die
Stärkung der Allgemeinmedizin sowie der hausärztlichen Versorgungstrukturen als eine
essentielle gesundheitspolitische Aufgabe der kommenden Jahrzehnte [7]. So wurde Unterversorgung in
strukturschwachen Regionen als eine zentrale Herausforderung für die bedarfsgerechte
und wohnortnahe medizinischen Versorgung identifiziert und die Fehlverteilung der
ambulant tätigen Ärzteschaft hin zu einem immer geringer werdenden Anteil der
hausärztlichen Versorgung als besorgniserregend beschrieben [7].
Der demographische Wandel wird in den nächsten Jahr(zehnt)en einen stark steigenden
hausärztlichen Versorgungsbedarf zur Folge haben. Hinzu kommt, dass ein Drittel der
Hausärzt*innen älter ist als 60 Jahre. Der nahende Renteneintritt wird das Defizit
in Anbetracht des Nachwuchsmangels in den kommenden Jahren verschärfen [4]
[5]. Besonders in ländlichen sowie
strukturschwachen Räumen sind schon heute die Folgen der hausärztlichen
Unterversorgung spürbar [4]
[8]
[9].
Selbst für das dicht besiedelte Nordrhein-Westfalen (NRW) prognostizieren die
zuständigen KVen Nordrhein und Westfalen-Lippe für das Jahr 2030 eine
Unterversorgung (Versorgungsgrad<75%) in 37% der Kommunen und Anhaltspunkte für
eine nicht mehr bedarfsgerechte Versorgung (Versorgungsgrad<100%) in weiteren 53%
der Kommunen [10]. Infolge der
zuweilen starken Versorgungsgradienten innerhalb einzelner KV-Planungsbereiche ist
die Lage lokal in manchen – insbesondere sozial benachteiligten – Orten bzw.
Ortsteilen nochmal deutlich prekärer, als diese Zahlen erkennen lassen [11]. Auch in anderen Bundesländern, wie
z. B. in Niedersachsen oder Sachsen-Anhalt deuten Versorgungsgradprognosen, die als
Baustein einer evidenzbasierten Versorgungsplanung dienen und somit auch
lokalpolitisch als Planungsmedium von Relevanz sein können, auf ähnliche
Entwicklungen hin [12]
[13].
Rolle der Kommunen
Die (haus-)ärztliche Versorgung ist ein wesentlicher Teil der lokalen
Infrastruktur von Kommunen und erhält für diese in Anbetracht des sich stetig
verschärfenden Hausärztemangels eine immer größere politische Bedeutung. Die
Folgen des Hausärztemangels sind besonders auf kommunaler Ebene spürbar und
stellen die Mehrheit der Kommunen in NRW (zukünftig) vor große Herausforderungen
[1]
[8]. Obwohl die Sicherstellung der
vertragsärztlichen Versorgung formal, gemäß der Sozialgesetzgebung (§ 75, SGB
V), Aufgabe der KVen ist, engagieren sich immer mehr Kommunen mit flankierenden
Maßnahmen [2] und werden so zu
relevanten Akteuren bei der Bekämpfung der hausärztlichen Unterversorgung [14]. Da die Bevölkerung ihr
Interesse an einer wohnortnahen, bedarfsgerechten Versorgung direkt gegenüber
kommunalen Entscheidungsträgern äußert und einfordert (und da der wünschenswerte
Verbleib bzw. Zuzug qualifizierter Fachkräfte und Unternehmen von einer intakten
sozialen Infrastruktur abhängt, für welche die Erreichbarkeit von Hausärzten ein
Indikator ist), nimmt der Handlungsdruck hin zu mehr kommunalem Engagement bei
der Sicherung der primärärztlichen Gesundheitsversorgung zu.
Die Bedeutung der Sicherstellung der ambulanten Versorgung wurde unlängst im
Koalitionsvertrag 2021 der aktuellen Bundesregierung als handlungsleitendes Ziel
der Gesundheitspolitik der kommenden Jahre betont [15]. Die Einflussmöglichkeiten,
aber auch die Verantwortung der Kommunen für den Gesundheitsbereich werden
voraussichtlich steigen [14]. Dies
wird u. a. in der im Koalitionsvertrag angekündigten Schaffung von
Gesundheitsregionen und Gesundheitskiosken deutlich wie auch durch die geplante
Stärkung kommunal getragener Medizinscher Versorgungszentren (MVZs).
Beispielsweise sollen die Gründungen von MVZs und deren Zweigpraxen explizit
erleichtert und bürokratische Hürden abgebaut werden [15]. Daraus lässt sich
schlussfolgern, dass Kommunen als handlungsfähigen Akteuren, besonders in von
Unterversorgung betroffenen Regionen, zunehmend mehr Mitgestaltungsmöglichkeiten
zugesprochen werden. Der unlängst erschienene Referentenentwurf aus dem
Bundesministerium für Gesundheit für ein Gesetz zur Stärkung der
Gesundheitsversorgung in der Kommune (Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz –
GVSG) betont ebenfalls die Stärkung der kommunalen Ebene. Die Aufwertung der
kommunalen Rolle in der Sicherstellung der hausärztlichen Versorgung durch die
Schaffung von Gesundheitsregionen, Gesundheitskiosken und kommunalen MVZs ist
auch hier unverkennbar [16].
Ein Literaturüberlick hinsichtlich der Studienlage über hemmende und fördernde
Faktoren der (haus-)ärztlichen Niederlassung zeigt, dass die lokalen
Rahmenbedingungen der ärztlichen Tätigkeit sowie die Infrastruktur vor Ort
entscheidende Faktoren sind [17].
Für deren Ermöglichung und Bereitstellung kommt den Kommunen eine zentrale Rolle
zu, welche komplementär zu den Aufgaben der KVen zu sehen ist. Im Zuge des
allgemeinen Hausärzt*innenmangels gilt es allerdings, einen kommunalen
Überbietungswettbewerb zu vermeiden [8]
[18].
Kommunale Perspektive
Es konnten im Rahmen der Recherche drei vergleichbare Publikationen identifiziert
werden, die sich der Rolle und Perspektive der Kommunen in Deutschland
hinsichtlich der ärztlichen Versorgung vor Ort widmen [19]
[20]
[21]. Eine Befragung der kommunalen
Ebene in Baden-Württemberg aus dem Jahr 2011 zeigte bereits damals ein großes
Problembewusstsein der Lokalpolitik für den Hausärzt*innenmangel vor Ort, das
sowohl in der Bereitstellung von Infrastrukturelementen und Anreizen als auch in
einer Bereitschaft zur Intensivierung dieses Engangements resultierte [20]. Im Jahr 2013 verdeutlichte
zudem eine Befragung der hauptamtlichen Bürgermeister*innen zur hausärztlichen
Versorgungssituation in Sachsen-Anhalt, dass eine große Mehrheit die
hausärztliche Versorgung als sehr wichtigen Standortfaktor für die Kommune
erachtete, lokale Versorgungsdefizite konstatierte sowie weitere
Verschlechterungen der Versorgungssituation für die nächsten 10 Jahre
prognostizierte [19]. Außerdem
existiert eine Befragung in Niedersachen aus dem Jahr 2015, in welcher
Kommunalverantwortliche hinsichtlich ärztlicher Niederlassungen sowohl von
Nachbesetzungsproblemen als auch über das Potenzial eigener kommunaler
Unterstützungsmöglichkeiten berichteten [21]. Für das Untersuchungsgebiet der vorliegenden Studie –
Nordrhein-Westfalen (NRW) – gibt es bislang keine vergleichbare Befragung.
Desweiteren ist es von Relevanz, inwiefern sich die kommunale Perspektive vor
dem Hintergrund der sich stetig verschärfenden hausärztlichen
Versorgungsdefizite sowie der Entwicklungen und (geplanten) Reformen im
zurückliegenden Jahrzehnt entwickelt hat.
Daraus resultieren folgende Fragestellungen
-
Wie schätzen Kommunen die aktuelle und zukünftige Sicherstellung der
hausärztlichen Versorgung vor Ort ein?
-
Wie beurteilen Kommunen die zukünftige Rollenverteilung und die eigenen
Einflussmöglichkeiten zur Sicherstellung der hausärztlichen
Versorgung?
-
Mit welchen Faktoren ist die Wahrnehmung der aktuellen und zukünftigen
Sicherstellung der hausärztlichen Versorgung assoziiert?
Methodik
Datenerhebung
In einer Online-Befragung im Frühjahr 2023 wurden in Kooperation mit dem Städte-
und Gemeindebund NRW, dem Landkreistag NRW sowie dem Städtetag NRW kommunale
Entscheidungsträger aller 427 Kommunen (374 kreisangehörige Städte und
Gemeinden, 22 kreisfreie Städte und 31 Kreise) in NRW befragt. Dies waren in
Städten und Gemeinden die jeweiligen Bürgermeister*innen und in Kreisen sowie
Großstädten die jeweiligen gesundheitspolitischen Vertreter*innen für den
Bereich Gesundheit (Gesundheitsdezernent*innen oder
Gesundheitsamtsleitungen).
Der Fragebogen wurde in Anlehnung an die zwei oben genannten Erhebungen zur
ärztlichen Versorgung in Niedersachen und in Baden-Württemberg mit jeweils
kommunalpolitischer Zielgruppe entwickelt [20]
[21]. Es fand eine Anpassung der
einzelnen Items hinsichtlich der aktuellen gesetzlichen Grundlage sowie der
Besonderheiten der Kommunalordnung des Bundeslandes NRW statt. Anschließend
wurde in mehreren Pretests mit den drei genannten kooperierenden
kommunalpolitischen Spitzenverbänden die Verständlichkeit sowie Akzeptanz und
Praktikabilität des Fragebogens geprüft.
Die Befragung wurde anonymisiert mit der Befragungssoftware Limesurvey Version
5.2.0 durchgeführt; die Befragungslinks wurden im Auftrag des Instituts für
Allgemeinmedizin der Universität Duisburg-Essen durch die Kooperationspartner
erstmals im März 2023 per E-Mail an die Kommunen versendet. Im Abstand von zwei
bis drei Wochen wurde einmalig ein Erinnerungsschreiben versandt.
Items
Der Fragebogen bestand aus insgesamt 28 Items. Zunächst wurden Strukturmerkmale
der Kommunen wie Größe, Raumstruktur, zuständige KV etc. (5 Items) abgefragt;
individuelle Eigenschaften der befragten Personen wie Geschlecht, Alter etc.
wurden zur Wahrung der Anonymität nicht erfragt. Es folgten drei Themenblöcke
zur Sicherstellung (3 Items), zu kommunalen Gestaltungsmöglichkeiten (7 Items)
und Fördermaßnahmen (12 Items) sowie eine offene Abschlussfrage mit der
Möglichkeit zur Kommentierung (1 Item). Der Themenblock Fördermaßnahmen war
nicht Teil der folgenden Auswertung. Die Antworten erfolgten größtenteils über
Likert-Skalen mit meist vier Antwortmöglichkeiten. Einige Fragen erlaubten
Mehrfachantworten, zwei Fragen waren halboffen und ausschließlich die
Abschlussfrage eine offene Frage.
Auswertung
Es wurden ausschließlich Fragebögen mit einer Unit-Response von mindestens 50%
(Fortschritt der Bearbeitung bis auf mindestens Seite 3 von 4 des Fragebogens)
als rückläufig gewertet. Zunächst wurde mittels exaktem Test nach Fischer
überprüft, ob die befragte Stichprobe repräsentativ für die Grundgesamtheit der
427 angeschriebenen Kommunen in NRW war. Dabei wurden die Strukturmerkmale
Einwohnerzahl, zuständige KV sowie kommunaler Status verglichen. Anschließend
erfolgte eine deskriptive Auswertung aller berücksichtigten Items. Abschließend
wurde in einer explorativen Analyse untersucht, ob die Einschätzungen zur
Sicherstellung mit Strukturmerkmalen der Kommunen oder mit Aussagen zum Einfluss
sowie zur Bewertung von Medizinischen Versorgungszentren (MVZs) als kommunale
Eigenbetriebe assoziiert sind. Dies erfolgte mittels univariater log-binomialer
Regression, wobei die Einschätzungen zur Sicherstellung je nach erwarteter
Richtung eines möglichen Effekts entweder als abhängige oder unabhängige
Variable klassifiziert wurden. Variablen mit mehr als zwei Ausprägungen wurden
dichotomisiert bzw. im Fall der Einwohnerzahl in drei Kategorien
zusammengefasst. Diese Ergebisse wurden als Prävalenz Ratios (PR) mit 95%
Konfidenzintervallen (KI) präsentiert. Die Auswertung der Daten und Erstellung
der Diagramme erfolgte mit R Version 4.2.2 (R Foundation for Statistical
Computing).
Ergebnisse
Stichprobe
Von 427 kontaktierten Kommunen konnten 192 beantwortete Fragebögen ausgewertet
werden. Dies entspricht einer Rücklaufquote von 45,0%. Für die Kreise betrug die
Rücklaufquote 61,3%, für die kreisangehörigen Städte und Gemeinden 43,6% und für
die kreisfreien Städte 40,9%. Die Mehrheit der teilgenommenen Kommunen (63,5%)
weist eine Einwohnerzahl zwischen 10.000 bis 50.000 auf und liegt mehrheitlich
(63,4%) im Zuständigkeitsbereich der KV Westfalen-Lippe. Beim Vergleich der
Verteilung der Einwohnerzahlen, der zuständigen KV sowie des kommunalen Status
in der Stichprobe mit der Verteilung in der Grundgesamtheit ergaben sich keine
statistisch signifikanten Unterschiede, sodass eine Repräsentativität für das
Bundesland NRW anzunehmen ist (siehe [Tab. 1]).
Tab. 1 Strukturmerkmale der befragten und aller Kommunen
in Nordrhein-Westfalen
|
Stichprobe (n=192a)
|
Gesamtheit der Kommunen in Nordrhein-Westfalen (n=427)
|
P-Wertb
|
Einwohnerzahl
|
|
|
0,58
|
Bis 5.000
|
0,0% (0)
|
0,9% (4)
|
5.001–10.000
|
13,6% (26)
|
11,5% (49)
|
10.001–20.000
|
31,9% (61)
|
31,6% (135)
|
20.001–50.000
|
31,9% (61)
|
30,7% (131)
|
50.001–100.000
|
7,3% (14)
|
11,0% (47)
|
>100.000c
|
15,2% (29)
|
14,3% (61)
|
Zuständige KV
|
|
|
0,25
|
Westfalen-Lippe
|
63,4% (118)
|
58,3% (249)
|
Nordrhein
|
36,6% (68)
|
41,7% (178)
|
Kommunaler Status
|
|
|
0,51
|
Kreis
|
10,0% (19)
|
7,3% (31)
|
Kreisangehörige Stadt oder Gemeinde
|
85,3% (163)
|
87,6% (374)
|
Kreisfreie Stadt
|
4,7% (9)
|
5,1% (22)
|
Daten sind angegeben als Prozent (Anzahl). a Anzahl fehlender
Werte bei den einzelnen Variablen: Einwohnerzahl 1, Zuständige KV 6,
Kommunaler Status 1. b Exakter Test nach Fischer.
c Den Vertretern der Kreise wurde keine Frage zur
Einwohnerzahl gestellt. Kreise wurden hier als Kommune mit mindestens
100.000 Einwohner*innen eingeordnet und die ursprünglichen Kategorien
100.001–200.000 und>200.000 zusammengefasst.
Sicherstellung der hausärztlichen Versorgung
Die derzeitige Sicherstellung der hausärztlichen Versorgung in den jeweiligen
Kommunen wurde durchaus positiv eingeschätzt und von 78,9% der Kommunen als
(eher) sichergestellt bewertet, während die zukünftige Versorgung in den
kommenden zehn Jahren wesentlich schlechter bzw. von 86,6% der Kommunen als
(eher) nicht sichergestellt eingeschätzt wurde (siehe [Abb. 1a, b]). Auf die Frage nach
den Gründen für die zukünftigen Versorgungsengpässe wurde an erster der Stelle
der allgemeine Hausärztemangel (91,4%) genannt. An zweiter Stelle folgte die
Arbeitsbelastung der Hausärzt*innen (56,2%). Als weniger relevant wurden
kommunalpolitisch adressierbare Punkte bewertet, wie z. B. fehlende
Arbeitsplatzangebote für Lebenspartner*innen (6,8%). Die Zuschneidung der
Planungsbereiche wurde von 25,3% der Kommunen als Grund für die nicht
sichergestellte Versorgung vor Ort genannt (siehe [Abb. 1c]).
Abb. 1 Bewertung von Aussagen zur aktuellen und zukünftigen
Sicherstellung der hausärztlichen Versorgung sowie Nennung von Gründens
für eine nicht ausreichende Sicherstellung. Anzahl fehlender Antworten:
Panel a=3, Panel b=5, Panel c: Diese Frage wurde
nur gestellt, falls die Frage in Panel B mit entweder „Trifft überhaupt
nicht zu“ oder „Trifft eher zu“ beantwortet wurde (n=162).
Mehrfachantworten bzw. keine Auswahl waren möglich.
Gesundheitspolitische Verantwortung für die Sicherstellung bzw. den
Sicherstellungsauftrag
Als sehr gering bis gering wurden die eigenen
Einflussmöglichkeiten von 56,7% der Teilnehmer*innen eingeschätzt, während nur
8,9% diese als groß oder sehr groß einschätzen. Der Wunsch nach mehr
Einflussmöglichkeiten (ja bzw. eher ja) bestand bei 79,5% (siehe [Abb. 2a, b]). [Abb. 1c] zeigt, dass deutlich mehr als
die Hälfte (63,6%) MVZs als kommunale Eigenbetriebe derzeit nicht als geeignete
Lösung für ihre Kommune beurteilten. Die Kommunen äußerten den Wunsch nach mehr
landespolitischer Übernahme (72,4%) von Verantwortung für die Sicherstellung der
Versorgung, aber am häufigsten nach Intensivierung der Bemühungen der KVen (85,4%),
den Sicherstellungsauftrag adäquat umzusetzen, wie in [Abb. 2d] ersichtlich.
Abb. 2 Bewertung von Aussagen zu Einflussmöglichkeiten, Wunsch
nach stärkerer Einflussmöglichkeit und Medizinischen Versorgungszentren
sowie Nennung gewünschter Akteure mit mehr Engagement. Anzahl fehlender
Antworten: Panel a=9, Panel b=2, Panel c=17, Panel
d: Mehrfachantworten bzw. keine Auswahl waren möglich.
Assoziationen mit Einschätzungen zur Sicherstellung der hausärztlichen
Versorgung
[Tab. 2] stellt im oberen Teil
Zusammenhänge von Strukturmerkmalen mit der Einschätzung zur entweder aktuellen
oder zukünftigen Sicherstellung der hausärztlichen Versorgung dar, wobei die
Einschätzung zur Sicherstellung als abhängige Variable fungierte. Im zweiten
Teil wurde analysiert, ob die Einschätzungen zur Sicherstellung als Prädiktoren
mit Aussagen zu Einflussmöglichkeiten und Eignung von MVZs assoziiert waren.
Hingegen möglicher Erwartungen, dass kleine (<20.000 Einwohner*innen) und
ländliche Kommunen im Vergleich zu größeren (>20.000 Einwohner*innen) und
städischen Kommunen eine andere Wahrnehmung der Sicherstellung der
hausärztlichen Versorgung aufweisen, unterstützen unsere Ergebnisse diese
Hypothese nicht. Einwohnerzahl, Raumstruktur und zuständige KV waren nicht
statistisch signifkant mit der Einschätzung zur aktuellen wie auch zukünftigen
Sicherstellung in 10 Jahren assoziiert. Die Repräsentant*innen der Kommunen,
welche die Sicherstellung der hausärztlichen Versorgung in ihrer Kommune in den
kommenden 10 Jahren für nicht gegeben einschätzen, bewerteten ihre
Einflussmöglichkeiten mit einer Wahrscheinlichkeit von 36% als geringer (PR
0,64; 95%KI [0,45–0,93]). Es zeigte sich ferner kein statistisch signifikanter
Zusammenhang zwischen der Einschätzung zur aktuellen Sicherstellung und der
wahrgenommenen Einflussmöglichkeit, dem Wunsch nach stärkerer
Einflussmöglichkeit und der Einschätzung über die Eignung von MVZs. Wenn die
Sicherstellung in 10 Jahren als nicht gegeben eingeschätzt wurde, wurde ein MVZ
als Eigenbetrieb häufiger als geeignet für die eigene Kommune klassifiziert (PR
2,07; [0,82–5,22]). Allerdings war dieses Ergebnis nicht präzise genug, um
statistische Signifikanz zu erreichen.
Tab. 2 Univariate log-binomiale Regression von
Assoziationen mit der Einschätzung zur aktuellen und zukünftigen
Sicherstellung der hausärztlichen Versorgung
|
Bewertung von Aussagen zur Sicherstellung
|
Prädiktoren
|
Versorgung aktuell nicht sichergestellta
(n=189)b
|
Versorgung in 10 Jahren nicht sichergestellt a
(n=187)b
|
Einwohnerzahlb, c
|
PR [95% KI]
|
P-Wert
|
PR [95% KI]
|
P-Wert
|
<20.000 (Ref)
|
1,00
|
|
1,00
|
|
20.000–100.000
|
1,38 [0,75–2.54]
|
0,30
|
1,08 [0,96–1,22]
|
0,19
|
>100.000
|
1,37 [0,62–3.02]
|
0,44
|
1,02 [0,85–1,23]
|
0,83
|
Raumstruktur
b, d
|
Ländlich (Ref)
|
1,00
|
|
1,00
|
|
Städtisch
|
0,84 [0,44–1,56]
|
0,58
|
1,05 [0,93–1,18]
|
0,42
|
Zuständige KV
b
|
Westfalen-Lippe (Ref)
|
1,00
|
|
1,00
|
|
Nordrhein
|
0,95 [0,54–1,70]
|
0,87
|
1,00 [0,88–1,13]
|
0,99
|
|
Bewertung von Aussagen zu Einflussmöglichkeiten und
Eignung von MVZs
|
Prädiktoren
|
Wahrgenommene Einflussmöglichkeit mittelmäßig bis sehr
groß
e
(n=183)
|
Wunsch nach stärkerer
Einflussmöglichkeit
e
(n=164)
|
MVZ geeignet für Kommune
e
(n=175)
|
|
PR [95% KI]
|
P-Wert
|
PR [95% KI]
|
P-Wert
|
PR [95% KI]
|
P-Wert
|
Versorgung aktuell
sichergestellt
a
|
Ja (Ref)
|
1,00
|
|
1,00
|
|
1,00
|
|
Nein
|
0,93 [0,61–1,42]
|
0,75
|
1,07 [0,93–1,24]
|
0,34
|
1,34 [0,82–2,17]
|
0,24
|
Versorgung in 10 Jahren
sichergestellt
a
|
Ja (Ref)
|
1,00
|
|
1,00
|
|
1,00
|
|
Nein
|
0,64 [0,45–0,93]
|
0,02
|
1,16 [0,90–1,49]
|
0,26
|
2,07 [0,82–5,22]
|
0,12
|
a Antwortmöglichkeiten auf einer 4-stufigen Likert Skala
wurden dichotomisiert (ja/nein); b Fehlende Werte in den
unabhängigen Variablen (Prädiktoren): Einwohnerzahl 1; Raumstruktur 3;
Zuständige KV 6 c Den Vertretern der Kreise wurde keine Frage
zur Einwohnerzahl gestellt. Kreise wurden hier als Kommune mit
mindestens 100.000 Einwohner*innen gewertet und die ursprünglichen
Kategorien 100.001–200.000 und > 200.000 zusammengefügt. d
Kreise wurden als ländlich gewertet. e Antwortmöglichkeiten
auf einer 5-stufigen Likert Skala wurden dichotomiseirt
(gering/mittelmäßig bis sehr groß für wahrgenommene Einflussmöglichkeit;
ja/nein für Wunsch nach stärkerer Einflussmöglichkeit („das weiß ich
nicht“ wurde nicht berücksichtigt) und ja/nein für MVZ geeignet für
Kommune).
Diskussion
Die kommunale Perspektive ist ein wesentlicher Baustein bei den Überlegungen, wie in
Zukunft die hausärztliche Versorgung sichergestellt werden kann. Die Ergebnisse der
Befragung zeigen, dass eine große Mehrheit der Kommunen in NRW die hausärztliche
Versorgung vor Ort in den kommenden 10 Jahren für nicht sichergestellt einschätzt
und insbesondere von den KVen sowie der Landespolitik mehr Engagement erwartet. Das
stark ausgeprägte Problembewusstsein bezüglich zukünftiger Versorgungsdefizite in
den Kommunen in NRW lässt darauf schließen, dass diese sich verstärkt engagieren
werden (müssen) und der Druck seitens der Kommunen auf die KVen und die
Landesregierung zunehmen wird. Bemerkenswert ist, dass sich ländliche und
nicht-ländliche Kommunen in ihrer Einschätzung zur Sicherstellung nicht
unterscheiden, was mit der Versorgungsgradprognose für NRW [10] übereinstimmt und auf ein
flächendeckendes hausärztliches Versorgungsdefizit hinweist.
Die Befragung hinsichtlich des Hausärztemangels in Baden-Württemberg aus dem Jahr
2011 zeigte schon damals erste Anzeichen für eine Problemwahrnehmung seitens der
kommunalen Ebene, auch wenn nur 16% der Kommunen Nachbesetzungsprobleme
konstatierten [20]. Da in der
vorliegenden Befragung 21% der Kommunen die hausärztliche Versorgung aktuell sowie
87% zukünftig als gefährdet einschätzen, kann im Vergleich zu 2011 von einer
Verschärfung der Problematik wie auch von einem stärkeren kommunalen Bewusstsein
ausgegangen werden. Auch ist der Anteil der Kommunen, der den allgemeinen
Hausärztemangel als Grund für lokale Versorgungsdefizite sieht, um 61 Prozentpunkte
höher ausgefallen als in der baden-württembergischen Befragung. Daraus kann
geschlussfolgert werden, dass die Kommunen ihre eigenen Einflussmöglichkeiten als
ausgeschöpft ansehen. Dies stimmt mit der Erkenntnis überein, dass andere
gesundheitspolitische Instanzen – insbesondere das Land und die KVen – stärker in
der Verantwortung für die Umsetzung zielführender Maßnahmen gesehen werden. Dies
deckt sich mit den Erkenntnissen aus Baden-Württemberg, dass die Wünsche von
(zukünftigen) Hausärzt*innen durch die kommunale Ebene als im Regelfall bereits
erfüllt bewertet wurden [20]. Auch
regionale Unterschiede gilt es bei der Interpretation der Ergebnisse zu
berücksichtigen. Die Befragung aus Sachsen-Anhalt beispielsweise zeigte dort bereits
im Jahr 2013, dass 36 Prozent der Befragten der Aussage, dass die hausärztliche
Versorgung in Ihrer Region gut ist, nicht zustimmten und 75% eine Verschlechterung
der Versorgungslage in den nächsten 10 Jahren prognostizierten [19]. Aufgrund der unterschiedlichen
Strukturen einzelner Bundesländer ist zu erwarten, dass auch Versorgungsengpässe
zeitlich verzögert auftreten und für lokale Entscheidungsträger*innen relevant
werden. Die vorliegende Befragung deutet daraufhin, dass sogar in Regionen wie z. B.
dem KV-Gebiet Nordrhein und insbesondere im Rheinland, die aktuell noch kaum
hausärztliche Versorgungsdefizite aufweisen [10], die Sicherstellung der zukünftigen Versorgung als gefährdet
eingeschätzt wird. Diese Erkenntnis ist höchstwahrscheinlich bundesweit übertragbar,
so dass mit zeitlicher Verzögerung fläckendeckend für einen Großteil der Kommunen in
Deutschland der Umgang mit einer perspektivisch nicht mehr sichergestellten
hausärztlichen Versorgung eine zentrale Herausforderung werden wird.
Interessant zu bewerten ist die Erkenntnis, dass primär der bundesweite Mangel an
Hausärzt*innen als Hauptursache für die lokale Versorgungssituation identifiziert
wird. Ein interkommunaler Wettbewerb würde daher rasch an Grenzen stoßen, da dadurch
Versorgungsdefizite nur räumlich zugunsten wohlhabender Kommunen verschoben, jedoch
in der Breite nicht gemindert werden. Die Eignung von kommunaler MVZs für die eigene
Kommune wird nur von einer Minderheit befürwortet, was sich mit den Erkenntnissen
aus Niedersachsen deckt [16]. Dies
weist zwar darauf hin, dass Lösungsansätze wie z. B. MVZs als kommunale
Eigenbetriebe derzeit flächendeckend kaum in Betracht kommen. Die punktuell
vorhandene kommunale Bereitschaft ermöglicht allerdings die Umsetzung von
Modellprojekten insbesondere in schwächer versorgten Regionen, die wiederum wichtige
Erkenntnisse für mögliche flächendeckende Lösungen liefern könnten. Die Ergebnisse
der Regressionsanalysen deuten daraufhin, dass diejenigen Kommunen, welche die
Versorgung als nicht sichergestellt erachten, MVZs als kommunale Eigenbetriebe eher
als geeignet für ihre Kommune einschätzen. Dies könnte implizieren, dass mit
steigendem Handlungsbedarf neuartige Versorgungsformen eher befürwortet werden.
Die Rolle der Kommunen in der ambulanten Gesundheitsversorgung hat in den letzten
Jahren an Bedeutung gewonnen und wird es voraussichtlich weiterhin tun, insbesondere
im Zuge der Reformpläne zur Regionalisierung der Versorgungsplanung [14]
[16]. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob
die Kommunen selbst diese gestaltende Rolle ausführen möchten und über die
notwendigen Ressourcen und Kompetenzen verfügen. Die Befragungsergebnisse zeigen
eine hohe Unzufriedenheit mit der zu erwartenden Entwicklung der hausärztlichen
Versorgung vor Ort sowie mit der Umsetzung des Sicherstellungsauftrags durch die
KVen. Dies führt jedoch nicht zu der Forderung, die Verortung des
Sicherstellungsauftrag bei den KVen in Frage zu stellen, sondern vielmehr zu dem
Wunsch nach einer besseren Erfüllung dieser Aufgaben. Auch das Land wird in der
Verantwortung gesehen, auf Fehlentwicklungen frühzeitiger zu reagieren. Die
Delegation von mehr Verantwotung und Aufgaben auf die kommunale Ebene wird durchaus
kritisch beurteilt, auch wenn der generelle Wunsch nach mehr Einflussmöglichkeiten
und insbesondere mehr Gestaltungsmöglichkeiten vor Ort seitens der Kommunen
vorhanden zu sein scheint. Hinsichtlich der Diskussion über Dezentralisierung von
Steuerungs- und Gestaltungskompetenzen sowie die Regionalisierung der
Gesundheitsversorgung gilt es dies zu berücksichtigen.
Limitationen
An der vorliegenden Befragung mit einer Rücklaufqoute von 45% nahmen leicht
weniger als die Hälfte der Kommunen in NRW teil, jedoch spricht die
Übereinstimmung von Stichprobe und Grundgesamtheit für einen repräsentativen
Eindruck der kommunalen Perspektive auf die hausärztliche Versorgung.
Außerdem wurden keine Statuseigenschaften der an der Befragung teilnehmenden
Personen abgefragt. Daher sind keine Rückschlüsse auf Zusammenhänge mit
Antwortverhalten und persönlichen Merkmalen wie Alter, Geschlecht, Amt,
Bildungsabschluss, Parteizugehörigkeit etc. möglich. Darum ermöglichen unsere
Daten nicht die Beantwortung soziologisch und politikwissenschaftlich relevanter
Fragestellungen. Dies ist allerdings dem primären Interesse an den Positionen
der Kommunen – und nicht der sie repräsentierenden Einzelpersonen –
geschuldet.
Zudem ist die Anzahl der großstädtischen Kommunen (>100.000 Einwohner*innen)
in der Stichprobe sehr gering (n=10) und erschwert dadurch den Vergleich mit
kleinstädischen und ländlichen Kommunen. Die Vor- und Nachgespräche mit den
kommunalpolitischen Spitzenverbänden sowie einzelne Antworten auf die
abschließende offene Frage der vorliegenden Umfrage deuten auf eine stark
ausgeprägte bzw. sich zuspitzende Problemwahrnehmung im großstädtischen Raum
hin. Eine weitere Studie, die insbesondere die urbane Perspektive auf
hausärztliche Versorgungsengpässe, auch mit Zuhilfenahme qualitativer
Forschungsansätze, analysiert, erscheint den Autor*innen vielversprechend.