Schlüsselwörter Mentale Gesundheit - Inanspruchnahme - Kinder und Jugendliche - Deprivation
Einleitung
Innerhalb von Städten besteht eine Tendenz zur Clusterung von Ausprägungen sozialer Determinanten der Gesundheit sowie des Wohlergehens
[1 ]
. Der sozioökonomische Status ist als wichtiger sozialer Determinant der Gesundheit auf individueller Ebene bekannt
[2 ]
. Dabei wird die Gesundheit der Individuen nicht nur von ihrem eigenen sozioökonomischen Status, sondern auch vom dem der Umgebung beeinflusst
[3 ]
. Dies ist insbesondere bei Kinder und Jugendliche der Fall, welche stark von der sozioökonomischen Position ihrer Familie sowie des Lebensumfeldes geprägt werden
[4 ]
. Die Nachbarschaft ist für Kinder und Jugendliche im Vergleich zu Erwachsenen von besonderer Bedeutung, da diese aufgrund von Einschränkungen in ihrem Bewegungsradius und damit dem Zugang zu verschiedenen Umgebungen einen großen Teil ihrer Zeit in dieser verbringen
[5 ]
[6 ]
. Neben individuellen und familiären Charakteristika sind daher auch die Charakteristika der Nachbarschaft wichtig für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen
[7 ]
. Als möglicher Einflussfaktor auf die Entwicklung und psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen wurde die daraus resultierende mögliche stadtteil-/gebietsbezogene Deprivation untersucht
[6 ]
. Deprivation auf individueller Ebene wird definiert als Mangel an Möglichkeiten zur Teilnahme an Aktivitäten sowie Einschränkungen im Zugang zu Ressourcen, die in einer bestimmten Gesellschaft als üblich oder wesentlich für einen angemessenen Lebensstandard gelten
[8 ]
. Deprivation bezieht sich auf ein relatives Phänomen der Armut und der sozialen Ausgrenzung
[8 ]
. Sie ist räumlich geclustert, z. B. mit Gruppen, die sich in ähnlichen sozioökonomischen Verhältnissen befinden und sich in nahe gelegenen Gebieten niederlassen
[9 ]
. Die Forschung hat die Nachbarschaft, das soziale Umfeld und damit auch die Deprivation als potenzielle Risikofaktoren für psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen identifiziert
[6 ]
[10 ]
. Darüber hinaus wurden ungleiche Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die psychische Gesundheit zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen festgestellt, die durch die Entfernung zu städtischen Parks abgemildert wurden
[11 ]
. Bei Kindern und Jugendlichen wurde allgemein eine Zunahme der psychosomatischen Erkrankungen während der COVID-19-Pandemie im Vergleich zum vorangegangenen Zeitraum festgestellt
[12 ]
mit überproportionalen Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche aus mit einer sozial benachteiligten Herkunft
[13 ]
.
Zugang und Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung in Deutschland
Der Zugang zur psychotherapeutischer und psychiatrischen Versorgung in Deutschland kann trotz akuter Erkrankung schwierig und mit langen Wartezeiten verbunden sein
[14 ]
[15 ]
[16 ]
. Als ein Grund dafür wird häufig die Bedarfsplanung gesehen, dabei insbesondere die Art und Weise der Ermittlung der Höchstzahl der zugelassenen Praxissitze für eine bestimmte Region. Um im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) behandeln und abrechnen zu können, benötigen Ärzt*innen und Psycholog*innen eine Kassenzulassung (Kassensitz). Die Anzahl an Kassensitze wird je nach Planungsregion bestimmt, basierend auf der Bedarfplanung, welche im Jahr 2019 angepasst wurde
[17 ]
. Die Planungsregionen sind in vier Level der Versorgung eingestuft. Die Planungsregion für Psycholog*innen sind Kreise oder kreisfreie Städte, Kinder- und Jugendpsychiater*innen werden in größeren, sogenannten Raumordnungsregionen geplant
[17 ]
. Ein Kritikpunkt an der Bedarfsplanung ist die ungleichmäßige Verteilung innerhalb der Planungsgebiete, welche zum Teil große Flächen umfassen
[18 ]
. Die Verteilung innerhalb eines Planungsgebietes wurde anhand von Allgemeinmediziner*innen und Kinderärzt*innen am Beispiel der Stadt Essen untersucht, wobei sich eine Ungleichverteilung zugunsten wohlhabenderer Stadtteile und eine daraus resultierende soziale Ungleichheit beim Zugang zur Versorgung zeigte
[19 ]
. Darüber hinaus wurde die Versorgungssituation insbesondere im Hinblick auf regionale Unterschiede untersucht, wobei sich eine ungleiche Verteilung insbesondere in ländlichen Gebieten zeigte
[20 ]
[21 ]
.
Diese Art der Bedarfsplanung und Verteilung wirkt sich besonders in Ballungsräumen aus. Die Stadt Köln beispielsweise ist mit über einer Million Einwohner*innen die viertgrößte Stadt Deutschlands, was zu einer ungleichmäßigen Verteilung innerhalb des Stadtgebietes und damit zu langen Wegen führen kann. Für Kinder und Jugendliche können daraus resultierende lange Anfahrtswege vom Wohnort zur Gesundheitsversorgung ein Hindernis für den Zugang zur Versrogung darstellen. Außerdem hat Köln als dicht besiedelte Metropolregion Verbindungen zu benachbarten ländlichen Gebieten und Städten und hat somit ein großes Einzugsgebiet für fachärztliche Versorgung. Als solches ist Köln ein Beispiel für den urbanen Kern einer prototypischen europäischen Agglomeration in einem dicht besiedelten Gebiet. Nicht zuletzt deshalb ist es wichtig, die Rolle der Nachbarschaft und die Verteilung von Psychotherapeut*innen und Psycholog*innen für Kinder und Jugendliche zu untersuchen.
In diesem Artikel liegt der Fokus auf Kinder und Jugendliche im Alter von 0 bis 19 Jahren, die in der Stadt Köln leben, und behandelt die folgenden Fragen,
(1) Wie sind die Prävalenz psychischer Störungen und die Inanspruchnahme psychiatrischer und psychotherapeutischer Leistungen in der Stadt Köln verteilt?
(2) Ob und wie hängen räumliche Deprivation und die Verteilung von Leistungserbringer*innen psychiatrischer und psychotherapeutischer Leistungen mit Kassensitz mit der Prävalenz psychischen Störungen und der Inanspruchnahme psychiatrischer und psychotherapeutischer Leistungen zusammen?
(3) Wie variieren die Zusammenhänge zwischen räumlicher Deprivation, der Verfügbarkeit von Leistungserbringer*innen psychiatrischer und psychotherapeutischer Leistungen, der Prävalenz psychischer Störungen und der Inanspruchnahme psychiatrischer und psychotherapeutischer Leistungen innerhalb des Stadtgebietes?
Methoden
Daten
Routinedaten
Die Forschungsfragen werden auf der Basis von Routinedaten der Versicherten vier gesetzlicher Krankenkassen in der Stadt Köln bearbeitet. Diese Daten werden vom Projekt CoRe-Net (Kölner Kompetenznetzwerk aus Praxis und Forschung) zur Verfügung gestellt [cf. 22]. Die Routinedaten der vier gesetzlichen Krankenkassen umfassen ungefähr 50% der Kölner Bevölkerung
[22 ]
. Im Jahr 2021 lebten insgesamt 193 844 Kinder und Jugendliche im Alter von 0 bis 19 Jahren in der Stadt Köln. Für die Analysen werden Daten von während des Untersuchungszeitraums duchgängig bei einer der GKV verischerten Kindern und Jugendlichen im Alter von 0 bis 19 Jahren vom Jahr 2021 verwendet. Das Geschlecht wird aufgrund der Datenverfügbarkeit in binären Kategorien (männlich, weiblich) einbezogen. Der Fokus der Analysen liegt auf der Prävalenz von ICD-10 Diagnosen (F00–F99) sowie der Inanspruchnahme von psychiatrischer und psychotherapeutischer Leistungen (Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM)). Die Definitionen der einbezogenen ICD-10 Diagnosen sowie der psychiatrischer und psychotherapeutischer Leistungen sind im Anhang zu finden (Anhang, Tab. 3–4). Die Diagnosen wurden gemäß der Praxis für Routinedatenanalysen vor den Analysen validiert
[23 ]
. Von niedergelassenen Ärzt*innen kodierte Diagnosen wurden einbezogen, wenn sie in mindestens zwei von vier Quartalen dokumentiert wurden (M2Q-Kriterium (mindestens 2 Quartale)). Im Krankenhaus kodierten Diagnosen wurden als Entlass-/Hauptdiagnose einbezogen. Für die Analyse der Inanspruchnahme von psychiatrischer und psychotherapeutischer Leistungen werden die Daten aller Kinder und Jugendlichen mit einer vorherrschenden Diagnose von psychischen Störungen einbezogen.
Die 45 Postleitzahlengebiete in den Analysen zur Prävalenz und Leistungsinanspruchnahme spiegeln die Wohnorte der Kinder und Jugendlichen wider. Alle Ergebnisse sind geschlechts- und altersstandardisiert und auf Fallzahlen pro 1000 Kinder und Jugendliche hochgerechnet. Die standardisierten und hochgerechneten Werte zeigen, wie hoch die Fallzahl unabhängig von der Anzahl der Kinder und Jugendlichen in den jeweiligen Gebieten ist. Dies hat den Vorteil, dass Postleitzahlengebiete unterschiedlicher Größe und Bevölkerungsdichte miteinander verglichen werden können.
Weitere Datenquellen
Ein Ziel der Studie ist die Analyse der Zusammenhänge von Diagnosen für psychische Störungen sowie Leistungsinanspruchnahme mit räumlicher Deprivation. Zu diesem Zweck wurde der Deutsche Deprivationsindex (German Index of Socioeconomic Deprivation (GISD)) berechnet
[24 ]
. Aufgrund der Datenverfügbarkeit war eine Adaption des GISD erforderlich. Die Dimensionen Bildung, Beschäftigung und Einkommen bilden die drei Dimensionen.
[Abb. 1 ]
zeigt die einbezogenen Indikatoren für jede Dimension. Die Daten zu Schulabgängern ohne Abschluss, Erwerbstätigen mit Hochschulabschluss, Arbeitslosigkeit und Beschäftigungsquote wurden von der Stadt Köln zur Verfügung gestellt. Die Schuldner*innenquote basiert auf der Veröffentlichung des Schuldneratlas für die Metropolregion Köln/Bonn
[25 ]
. Alle Daten liegen auf Stadtteilsebene und in Prozentangaben vor. Die 45 Postleitzahlgebiete wurden von der Deutschen Post definiert und die 86 Stadtteile von der Stadt Köln selbst. Beide Klassifizierungen unterliegen somit anderen Vorschriften und überschneiden sich nur in geringem Maße. Aufgrund der Datenverfügbarkeit wurden die Flächenanteile der Stadtteile in den Postleitzahlengebieten mit QGIS 3.30 berechnet. Im nächsten Schritt wurden die Indikatoren nach ihrem Flächenanteil (z. B. 33% Stadtteil X, 77% Stadtteil Y) für die Postleitzahlgebiete berechnet. Auf dieser Grundlage wurden die Dimensionen und schließlich der Deprivationsindex mit einer möglichen Spanne von 0 bis 100 je Postleitzahlengebiet für das Jahr 2021 berechnet.
Abb. 1
Untersuchungsdesign für Forschungsfrage 2 und 3.
Zum Einbezug der Verfügbarkeit und Zugang zur Versorgung, wird das Verhältnis von Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen für Kinder und Jugendliche pro 1000 Kinder und Jugendliche je Postleitzahlengebiet verwendet. Die Zahlen basieren auf Meldungen auf der Website der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (www.kvno.de). Die Zahl der Leistungserbringer*innen nach Postleitzahlengebieten wurde am 22. März 2023 ermittelt.
Statistische Analysen
In einem ersten Schritt wurden die Verteilung der Prävalenz von Diagnosen für psychische Störungen, die Inanspruchnahme psychiatrischer und psychotherapeutischer Leistungen, der Deprivationsindex und die Verteilung der Leistungserbringer*innen psychiatrischer und psychotherapeutischer Leistungen mit Kassensitz kartiert. Die Karten wurden mit QGIS 3.30 erstellt.
Die statistischen Analysen wurden mit R 4.3.1/R Studio durchgeführt. Vor der Durchführung einer geographisch gewichteten Regression (GWR) wurden alle signifikanten unabhängigen Variablen mit Hilfe eines explorativen Regressionsmodells identifiziert. Dafür wurde eine linear Regressionsanalyse (Ordinary Least Squares (OLS)) mit robusten Standardfehlern verwendet. Die Verteilung der nicht transformierten und der logarithmierten abhängigen Variablen wurden zur Ermittlung der Normalverteilung der Variablen als Anwendungsvoraussetzung der OLS ausgewertet. Im Falle der Prävalenzvariable ist die nicht transformierten näher an der Normalverteilung, für die Leistungsinanspruchnahme stellte ich die logistisch transformierte Variable als näher an der Normalverteilung dar. Aus diesem Grund wurden für die Prävalenz die nicht transformierte und für die Leistungsinanspruchnahme die logarithmierte Variable verwendet.
Die unabhängigen/erklärenden Variablen wurden basieren auf den folgenden Kriterien ausgewählt: (1) die Variablen sind statistisch signifikant (p<0,005) und (2) frei von Multikollinearität. Die Korrelation zwischen den Variablen wurde im Rahmen einer Sensitivitätsanalyse getestet (
Tab. 5, Anhang
). Korrelationen zwischen dem Deprivationsindex und der Verteilung der Kassensitze (−0,51) sowie zwischen dem Deprivationsindex und der Inanspruchnahme psychiatrischer und psychotherapeutischer Leistungen (−0,67) wurden festgestellt. Die Kontrollvariable Kinder im Alter von unter 11 Jahren korreliert mit der Verteilung der Kassensitze (0,86). Zur Kontrolle einer geringeren Diagnoserate sowie Leistungsinanspruchnahme aufgrund eines jüngeren Alters wird der Anteil der Kinder im Alter von unter 11 Jahren als Kontrollvariable in die Analysen eingeschlossen.
Ein Ziel war es, die Stärke des Zusammenhangs zwischen den erklärenden Variablen und der Prävalenz von psychischen Störungen bzw. der Leistungsinanspruchnahme zu ermitteln. Die Stadt Köln ist soziodemografisch heterogen und damit auch die Ausprägung der Deprivation zwischen den einzelnen Postleitzahlgebieten. Daher wird die Hypothese aufgestellt, dass ein geografisch gewichtetes Regressionsmodell (GWR) eine bessere Erklärung liefert als ein globales OLS-Modell
[26 ]
[27 ]
. GWR bietet die Möglichkeit, Veränderungen in den Beziehungen zwischen Variablen über verschiedene räumliche Gebiete hinweg innerhalb eines einheitlichen Modellierungsrahmens zu quantifizieren
[28 ]
[29 ]
. Für das GWR wurde das R Packet
spgwr
verwendet
.
Die Datenanalyse erfolgte nach etablierten Standards der Sekundärdatenanalyse
[30 ]
.
Ergebnisse
Kartografische Darstellung
Zur Ermittlung der Verteilung der Prävalenz sowie der Leistungsinanspruchnahme wurden die Daten nach Postleitzahlen aufgeschlüsselt und kartografisch dargestellt (Forschungsfrage 1). Die Verteilung der Prävalenz von psychischen Störungen pro 1000 Kinder und Jugendlichen ist in
[Abb. 2 ]
dargestellt.
[Abb. 3 ]
zeigt die Verteilung der Leistungsinanspruchnahme pro 1000 Kinder und Jugendlichen.
Abb. 2
Geografische Darstellung der Prävalenz von Diagnosen für psychische Störungen (F00-F99, M2Q) pro 1000 Kinder und Jugendliche. Zugrunde liegende Daten: Routinedaten aus der CoRe-Dat-Datenbank. Quelle der Karte: Map tiles von Stamen Design, unter CC BY 4.0. Daten von OpenStreetMap, unter ODbL. ZIP-Code-Layer: Stadt Köln
[31 ]
.
Abb. 3
Geografische Darstellung der Leistungsinanspruchnahme von psychiatrischer und psychotherapeutischer Leistungen (EBM) pro 1000 Kinder und Jugendliche mit einer prävalenten Diagnose für eine psychische Störung. Zugrunde liegende Daten: Routinedaten aus der CoRe-Dat-Datenbank. Quelle der Karte: Map tiles von Stamen Design, unter CC BY 4.0. Daten von OpenStreetMap, unter ODbL. ZIP-Code-Layer: Stadt Köln
[31 ]
.
Die Gesamtprävalenz für psychische Störungen im Jahr 2021 lag bei 195,22 pro 1000 Kinder und Jugendlichen im Alter von 0 bis 19 Jahren. Die räumliche Verteilung der Ausprägung der Prävalenz variiert zwischen den 45 Postleitzahlengebieten. Die niedrigste Prävalenz liegt bei 121,57 pro 1000 Kinder und Jugendliche, die höchste Prävalenz bei 261,04 pro 1000 Kinder und Jugendliche. Die Prävalenz ist in den nördlichen und südlichen Stadtgebieten sowie in den östlichen Rheingebieten tendenziell höher. In der Innenstadt und im Westen ist die Prävalenz vergleichsweise niedriger.
Die Betrachtung der Verteilung der Inanspruchnahme von psychiatrischer und psychotherapeutischer Leistungen (
[Abb. 3 ]
) zeigt eine Spannbreite von 370,37 Kinder und Jugendlichen mit Leistungsinanspruchnahme bis 790,32 Kinder und Jugendliche mit einer Leistungsinanspruchnahme pro 1000 Kinder und Jugendliche mit mindestens einer prävalenten Diagnose für eine psychische Störung. Die durchschnittliche Inanspruchnahme lag bei 549,06 Kindern und Jugendlichen mit Leistungsinanspruchnahme pro 1000 Kinder und Jugendliche mit prävalenter Diagnose. Eine geringe Leistungsinanspruchnahme ist im nordwestlichen Teil der Stadt zu beobachten. Des Weiteren zeigen die räumlichen Betrachtungen eine geringere Leistungsinanspruchnahme im rechtsrheinischen Stadtgebiet, im Gegensatz zu höheren Raten in den südlichen Teilen der linksrheinischen Innenstadt.
Ein weiteres Ziel der Studie besteht darin, mögliche Zusammenhänge zwischen der räumlichen Deprivation, der Verfügbarkeit von Leistungserbringer*innen der psychiatrischer und psychotherapeutischer Leistungen mit Kassensitz und der Prävalenz von psychischen und Verhaltensstörungen sowie der Inanspruchnahme psychiatrischer und psychotherapeutischer Leistungen aufzudecken (Forschungsfrage 2). Zu diesem Zweck wurden der Deprivationsindex (
[Abb. 4 ]
) und die Verteilung der Leistungserbringer*innen mit Kassensitz im Jahr 2023 (
[Abb. 5 ]
) kartografisch dargestellt und analysiert.
Abb. 4
Geografische Darstellung des Deprivationsindex. Basierend auf eigenen Berechnungen. Datengrundlage: Daten der Stadt Köln, Schuldneratlas Köln/Bonn. Quelle der Karte: Map tiles von Stamen Design, unter CC BY 4.0. Daten von OpenStreetMap, unter ODbL. ZIP-Code-Layer: Stadt Köln
[31 ]
.
Abb. 5
Geografische Darstellung von Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen mit Kassensitz pro 1000 Kinder und Jugendliche. Basierend auf eigenen Berechnungen. Datenquelle: www.kvno.de (22.05.2023). Quelle der Karte: Map tiles von Stamen Design, unter CC BY 4.0. Daten von OpenStreetMap, unter ODbL. ZIP-Code-Layer: Stadt Köln
[31 ]
.
Die Betrachtung der Verteilung des Deprivationsindex zeigt ein höheres Indexniveau im Rechtsrheinischen und in den nördlichen Stadtteilen im Vergleich zum übrigen Stadtgebiet (
[Abb. 4 ]
). Die Werte sind im Vergleich dazu im linksrheinischen Stadtzentrum geringer. Insgesamt weißt der Deprivationsindex Werte von 23,42 bis 45,00 mit einem Mittelwerte von 31,85 auf.
Die Leistungserbringer*innen von psychiatrischer und psychotherapeutischer Leistungen mit Kassensitz zentrieren sich im Stadtzentrum (
[Abb. 5 ]
). Im Jahr 2023 waren in den nördlichen, südlichen und östlichen Bezirken der Stadt keine Leistungserbringer*innen registriert.
OLS Regression
Der Deprivationsindex ist ein signifikanter Indikator für die Prävalenz psychischer Störungen (Forschungsfrage 3,
[Tab. 1 ]
,
Anhang Tab. 6
). Zusammen mit der Kontrollvariable prozentualer Anteil von Kindern im Alter von unter 11 Jahren erklärt 11,17% der Prävalenz (
[Tab. 1 ]
). Die Residuen sind signifikant geclustert (Moran’s I: SD=0,40, p<0,01). Bei der Betrachtung der AICc (Akaike Information Criterion) übertrifft das OLS Model die GWR (∆AICc=13,58) und wird aus diesem Grund für die Analyse ausgewählt. Die Regression zeigt einen signifikanten Anstieg der Prävalenz für psychische Störungen bei steigendem Wert des Deprivationsindex (β=1.66, p<0,05, SE=0,80) (
[Tab. 1 ]
). Analysen nach Geschlechtern getrennt unterstützen das Ergebnis nicht und zeigen kein signifikanten Anstieg der Prävalenz mit steigendem Wert des Deprivationsindex (
Anhang, Tab. 7–8
).
Table 1 OLS Regression für die Prävalenz psychischer Störungen.
Model
Koeffizient
Std. error (robust)
Intercept
139,37***
28,32
Deprivationsindex
1,66*
0,78
Prozentualer Anteil der Kinder im Alter von<<11 Jahren
−1478,13
7479,53
Adjusted R²
0,11
Global Moranʼs I of residuals
I=0,40 (p<0,001)
Signifikanzniveaus: *≤ 0,05; **≤ 0,01: ***≤ 0,001
Die Analyse der Leistungsinanspruchnahme unter Kindern und Jugendlichen mit prävalenter Diagnose für psychische Störungen zeigt einen signifikanten Zusammenhang zwischen dem prozentualen Anteil an Kindern im Alter von<11 Jahren, der Verteilung von Kassensitzen sowie dem Deprivationsindex (
[Tab. 2 ]
). Das Model erklärt 61,32% der Variation. Basierend auf der Streuung der Residuen wird ein globales OLS Modell als angemessen für die Analyse angenommen (Global Morans I, SD=−0,02, p>0,05, (∆AICc=1,75)). Das finale Modell zeigt einen Senkung der Leistungsinanspruchnahme mit steigendem Werten des Deprivationsindex (β=−0,02, p<0,001, SE=0,00), sowie einen positiven Zusammenhang zwischen der Verteilung der Kassensitze und der Leistungsinansrpcuhanhme (β=0,15, p<0,05, SE=0,07). Bei der Betrachtung der Analysen getrennt nach Geschlechtern zeigt die Verteilung der Kassensitze nur bei männlichen Kindern und Jugendlichen einen signifikaten Anstieg der Leistungsinanspruchnahme (
Anhang, Tab. 9
). Der Deprivationsindex ist sowohl für männliche als auch für weibliche Kinder und Jugendliche Signifikant (
Anhang Tab. 9–10
).
Table 2 OLS Regression für die Inspruchnahme Leistungsinanspruchnahme psychiatrischer und psychotherapeutischer Leistungen (EBM) durch
prävalente Fälle.
Model
Koeffizient
Std. error (robust)
Intercept
7,04***
0,10
Deprivationsindex
−0,02***
0,00
Psychotherapeut*innen und Psychiater*innen pro 1000 Kinder und Jugendliche
0,15*
0,07
Prozentualer Anteil der Kinder im Alter von<11 Jahren
−420,87***
80,20
Adjusted R²
0,61
Global Moranʼs I of residuals
I=0,06 (p>0,05)
Signifikanzniveaus: *≤ 0,05; **≤ 0,01: ***≤ 0,001
Diskussion
Es wurden Unterschiede in der Prävalenz von Diagnosen psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen zwischen den einzelnen Postleitzahlengebieten festgestellt, wobei ein deutlicher Trend zu einer höheren Prävalenz in benachteiligten Gebieten zu erkennen war. Dies steht im Einklang mit früheren Studien, in denen Benachteiligung in der Nachbarschaft als potenzieller Risikofaktor für psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen identifiziert wurde
[6 ]
[10 ]
. Insbesondere während der COVID-19-Pandemie wurde eine Zunahme psychosomatischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen festgestellt, mit einem verstärkten Effekt bei Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Hintergrund
[13 ]
. In Übereinstimmung mit einer vorhergehenden Studie zu Allgemeinärzt*innen und Kinderärzt*innen
[19 ]
wurde eine ungleiche Verteilung von Psycholog*innen sowie Psychiater*innen mit Kassensitz zum Nachteil deprivierter Gebiete gefunden. Bereiche mit einer höheren Dichte an Versorgenden haben eine vergleichsweise höhere Leistungsinanspruchnahme. Die Analysen konnten eine signifikante Assoziation zwischen der regionalen Deprivation und der Prävalenz für psychische Störungen, sowie der Leistungsinanspruchnahme unter Kindern und Jugendlichen mit einer prävalenten Diagnose aufzeigen. Darüber hinaus ist die Verteilung von Kassensitzen für Psycholog*innen sowie Psychiater*innen negativ mit der Leistungsinanspruchnahme unter männlichen 0 bis 19 Jährigen mit prävalenter Diagnose assoziiert. Die Ergebnisse zeigen eine Clusterung des erhöhten Bedarfs in benachteiligten Gebieten, wobei die Verfügbarkeit von Behandler*innen mit Kassensitz sowie die Inanspruchnahme von Leistungen in weniger benachteiligten Gebieten höher sind. Aus ökonomischer Sicht deutet dies auf ein Allokationsproblem hin, doch aus Sicht der Patient*innen handelt es sich um ein Problem der möglichen Unterversorgung und insbesondere um die zusätzliche Belastung durch die größere Entfernung zur nächsten Behandlungseinrichtung. Zusätzliche Belastungen aufgrund der Verfügbarkeit von Behandler*innen können Barrieren finanzieller, aber auch aus psychologischer Natur sein. Vor allem sozial benachteiligte Menschen sind aufgrund mangelnder Ressourcen eher von zusätzlichen Belastungen betroffen.
Die Analysen bieten keinen Hinweis auf eine Variation der Zusammenhänge zwischen den einzelnen Gebieten der Stadt. Basierend auf vorhergehenden Studien kann von einer hohen Dunkelziffer bzw. nicht diagnostizierten Fällen ausgegangen werden, insbesondere in deprivierten Gebieten, da Kinder und Jugendliche in diesen Gebieten im Allgemeinen stärker von psychischen Störungen betroffen sind
[6 ]
. Dunkelziffern können unter anderem durch den Zugang zur Gesundheitsversorgung und dem generellen Inanspruchnahmeverhalten medizinischer Leistungen erklärt werden. Zusätzlich muss bedacht werden, dass die Studie auf Daten aus dem Jahr 2021 basiert, welches von der COVID-19 Pandemie stark beeinflusst war. Eine Studie zur Prävalenz einzelner Gruppen psychischer Störungen in Köln hat drei Trends der Entwicklung während der COVID-19 Pandemie im Vergleich zum Vorzeitraum identifiziert
[32 ]
. Zum einen wurden ein Anstieg der Prävalenz, welcher vorher nicht sichtbar war sowie ein weitergehender Anstieg bei Anstieg bereits vor der Pandemie gefunden
[32 ]
. Zum anderen wurde eine Abnahme der Prävalenz mit vorhergegangenen Anstiegen identifiziert
[32 ]
. Es wurden weniger Schuleingangsuntersuchungen durchgeführt
[33 ]
. Der daraus resultierende Nachteil ist besonders groß für Kinder mit deprivierten Hintergrund, da Schuleingangsuntersuchungen ein wichtiger Baustein für die Identifikation von Entwicklungsstörungen insbesondere bei Kindern mit weniger Kontakt zum Gesundheitssystem sind. Eine geringere allgemeine Inanspruchnahme des Gesundheitssystems während der COVID-19-Pandemie könnte ebenfalls eine Rolle bei der Untererfassung spielen.
Die Leistungsdaten der gesetzlichen Krankenkassen weisen gewisse Limitationen auf. Die Diagnosecodes spiegeln die administrative Prävalenz wider, d. h. die Versicherten, die eine*n Leistungserbringer*in aufgesucht haben, um sich behandeln zu lassen. Unbehandelte Fälle sind nicht enthalten. Darüber hinaus besteht ein Selektionsbias, der auf dem Versichertenkollektiv der vier eingeschlossenen gesetzlichen Krankenkassen beruht. Diese spiegeln nicht das gesamte sozioökonomische Spektrum aller gesetzlich Krankenversicherten in der Stadt wider. Verwendet wurden nur Daten von Versicherten gesetzlicher Krankenkassen, Personen mit einer privaten Krankenversicherung sind nicht eingeschlossen (~8,7% der Bevölkerung Deutschlands
[34 ]
).
Aufgrund der Datenverfügbarkeit wurde der Deprivationsindex anhand der Flächenanteile der Stadtteile in den Postleitzahlengebieten berechnet. Dies kann zu einer möglichen Unterschätzung der Deprivation einzelner Gebiete aufgrund der Heterogenität der Stadtteile innerhalb der Stadt Köln führen. Dabei besteht insbesondere die Möglichkeit, dass Gebiete/Stadtteile mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status im gleichen Postleitzahlgebiet wie Gebiete/Stadtteile mit einem höheren sozioökonomischen Status zusammengefasst werden. Die Zusammenfassung dieser würde zu einer Unterschätzung des Effektes führen. Hinzukommend konnten, aufgrund von Datenverfügbarkeit, nicht alle im GISD vorgesehenen Indikatoren für den Deprivationsindex eingezogen werden.
Die Postleitzahlgebiete wurden durch die Deutsche Post zugeschnitten und folgen keiner sozioökonomischen Logik. Aus diesem Grund sind diese in Bezug auf die in dieser Studie verwendeten Variablen heterogen. Da derzeit keine anderen geografischen Marker in den Daten verfügbar sind, wurden die Analysen auf der Grundlage der Postleitzahlengebiete berechnet.
Die Ergebnisse zeigen eine höhere Inanspruchnahme psychiatrischer und psychotherapeutischer Leistungen im Stadtzentrum bei einer vergleichsweise niedrigeren Prävalenz psychische Störungen und einer höheren Dichte an Psychotherapeut*innen und Psychiater*innen. Darüber hinaus deuten die Ergebnisse auf eine niedrigere Leistungsinanspruchnahme in deprivierten Gebieten hin. Aufgrund einer Heterogenität der Bevölkerung innerhalb der Postleitzahlgebiete liefert diese Studie nur erste Hinweise auf den Zusammenhang zwischen der Gebietsdeprivation und der Prävalenz sowie Inanspruchnahme psychiatrischer und psychotherapeutischer Leistungen. Für zukünftige Studien werden kleinräumigere Daten zur tieferen Untersuchung der Thematik benötigt. Dafür müssen zunächst zusätzliche Maßnahmen zur Sicherstellung des Datenschutzes ergriffen werden. Für ein tieferes Verständnis der Thematik sollten weitere Forschungen zudem die zeitliche Entwicklung der Deprivation, Prävalenz sowie Leistungsinanspruchnahme untersuchen.
Verfügbarkei
t von Daten
Der für diese Studie verwendete Datensatz ist aufgrund der strengen Datenschutzbestimmungen für Sozialdaten nicht öffentlich zugänglich. Forscher*innen können eine allgemeine Nutzung der CoRe-Net-Datenbank beantragen, wobei bestimmte Kriterien und ein Genehmigungsverfahren zu beachten sind.
Fördermittel
Wir danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG, 491454339) für die Unterstützung der Publikationsgebühr des Artikels.
Beiträge der Autor*innen
AP, LM, IM waren an der Konzeption und Gestaltung der Studie beteiligt. AP schrieb den ersten Entwurf des Manuskripts und führte die statistische Analyse durch. LM, IM, TKP überwachten die Arbeit. Alle Autor*innen trugen zur Überarbeitung des Manuskripts bei, lasen und genehmigten die eingereichte Version.
Funding Information
Deutsche Forschungsgemeinschaft — http://dx.doi.org/10.13039/501100001659; 491454339