Z Sex Forsch 2024; 37(03): 174-175
DOI: 10.1055/a-2366-3912
Bericht

Digitalität, Vulnerabilität und Intersektionalität: Tagungsbericht zum 9. Interdisziplinären Workshop „Kritische Sexarbeitsforschung“

Alisha Edwards
1   Institut für soziale Bewegungen, Ruhr-Universität Bochum
,
Olivia Schneider
2   Department für Sozialanthropologie, Universität Oslo
,
Tom Fixemer
3   Fachgebiet Soziologie der Diversität, Universität Kassel
,
Thomas Wilke
4   Fachbereich Sozialwissenschaften, IU Internationale Hochschule
› Author Affiliations

Vom 6. bis 8. Oktober 2023 fand der 9. Interdisziplinäre Workshop „Kritische Sexarbeitsforschung“ der Gesellschaft für Sexarbeits- und Prostitutionsforschung (GSPF) statt. Das Ziel dieser jährlichen Veranstaltung ist es, Wissenschaftler*innen aus dem deutschsprachigen Raum in verschiedenen Qualifikationsphasen – von Bachelor- und Masterstudierenden bis zu Promovierenden – zusammenzubringen, die sich mit wissenschaftlichen Aspekten von Sexarbeit und Prostitution beschäftigen.

Der Workshop startete mit der öffentlich-hybriden Tagung „Sexarbeit im Kontext von Digitalität, Vulnerabilität und Intersektionalität“, organisiert von der GSPF und dem Gleichstellungsreferat der Rechtsfakultät der Universität Hamburg, die mit über 70 Teilnehmenden gut besucht war. Die drei Keynotes orientierten sich thematisch am Veranstaltungstitel. So eröffnete Yigit Aydinalp (European Sex Workers’ Rights Alliance, Amsterdam) den Abend mit einer Keynote über die Herstellung von struktureller Vulnerabilität in der Sexarbeit durch (fehlende) technologische Entwicklungen und (Schutz-)Instrumente. Nicht eine Vulnerabilität von Sexarbeitenden durch das Digitale sei auszumachen, sondern vulnerable Digitalisierungsprozesse wie Rechte-, Teilhabe-, Risiko- und Schutzfaktoren, die Ausschlüsse und fehlenden Schutz konstruieren, seien zu untersuchen. Als Beispiele führte er den „Digital Services Act“ und die „Child Abuse Material Regulation“ der EU an. Er kritisierte eine (EU-)Politikgestaltung zu Datenschutz und Datensicherheit, wenn benachteiligte Gruppen wie (queer-migrantisierte) Sexarbeitende nicht in diesen politischen Prozessen mitgestalten können. Überdies übte er Kritik an Tech-Solutionismus und sprach über die Herausforderungen und Veränderungen von Sexarbeit durch Digitalisierung. Demet Demir (Business & Law School Berlin und Postmigrantischer Jurist*innenbund) sprach anschließend über die rechtlich stigmatisierende Sonderbehandlung Prostituierter durch die Anmeldepflicht nach dem Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG). Dabei bot sie eine rechtswissenschaftlich-intersektionale Betrachtung an über die in Deutschland gegebene Verflechtung von fehlenden Rechten für migrantisierte Sexarbeitende, Stereotypisierung derselben und paternalistischen Schutzbestrebungen ihnen gegenüber. Abschließend teilten Vertreter*innen der Fachberatungsstelle Prostitution Sperrgebiet e. V. aus Hamburg ihre Erfahrungen aus der sozialarbeiterischen Praxis in Hamburg. Sie berichteten von den alltäglichen Schwierigkeiten und Ausgrenzungserfahrungen, mit denen Sexarbeitende aufgrund der Rechtslage und ihrer gesellschaftlichen Stigmatisierung konfrontiert werden.

Mit diesen Fachbeiträgen wurde sowohl die thematische Ausrichtung entlang von Digitalität, Vulnerabilität und Intersektionalität aufgefächert als auch eine Offenheit für den weiterführenden Austausch geschaffen, insbesondere für die Teilnehmenden und Referierenden für die anschließenden beiden Workshoptage.

An den folgenden beiden Tagen präsentierten Forschende ihre Arbeit zum Thema Sexarbeit und Prostitution aus unterschiedlichen Perspektiven. Entsprechend der interdisziplinären Ausrichtung des Workshops waren die Beiträge in theoretischer, methodologischer, methodischer und inhaltlicher Ausrichtung vielfältig. Zu Beginn des Workshops verständigten sich die Teilnehmer*innen auf ein Verständnis von Awareness in Form von Feedback- und Gruppenregeln.

Lisa Mohrat von der Universität der Bundeswehr München eröffnete den Workshop mit einem Vortrag zu ihrem aktuellen Dissertationsprojekt, einer Analyse der historischen Wechselbeziehungen zwischen Sexarbeit in Marokko und dem französischen Kolonialismus seit den 1950er-Jahren. In ihrer Forschung untersucht sie, wie die Epoche des Kolonialismus und die damit verbundene strukturelle Gewalt sowie das übergeordnete Patriarchat Frankreichs den historischen Verlauf und das heutige Verständnis der Sexarbeit wesentlich mitgeformt haben.

Frederice Statsik von der Ludwig-Maximilians-Universität München widmete sich der Untersuchung der Prostitution in München während der 1960er-Jahre durch eine Raumanalyse, die auf der Raumtheorie von Henri Lefebvre aufbaute. Ziel war es, ein tieferes Verständnis für das Handeln der beteiligten Akteure zu gewinnen und die konkurrierenden Raumansprüche zu beleuchten, die trotz einer Tendenz zur Verhäuslichung und den Bemühungen, Prostitution aus dem öffentlichen Raum zu entfernen, die Präsenz der Straßenprostitution bestärkten.

Nadine Gloss vom Projekt Roter Stöckelschuh des Berufsverbands erotische und sexuelle Dienstleistungen (BesD) e. V., stellte Erkenntnisse zur gesundheitlichen Versorgung von Sexarbeitenden mit einem Community-basierten Ansatz vor und betonte dabei insbesondere die Effekte von Stigmatisierung. Ihre Forschungsergebnisse, basierend auf Interviews mit sexarbeitenden Personen, beleuchteten spezifisch die Hindernisse beim Zugang zu Gesundheitsdiensten und hoben die Notwendigkeit hervor, solche Barrieren abzubauen.

Gizem Kaya, Franziska Kroehn-Liedtke und Anastasiia Lotysh von der Charité – Universitätsmedizin Berlin stellten ihre aktuellen Forschungsdesigns und Auszüge aus standardisierten Erhebungsinstrumenten zur psychischen Gesundheit von Sexarbeiterinnen in Deutschland vor. Es entfaltete sich eine sachliche Diskussion über forschungsethische Fragen und darüber, wie mit dem Risiko eines Forschungsanliegens umzugehen ist, wenn dieses zur Stigmatisierung von Personen in der Sexarbeit beitragen könnte. Hierbei wurde insbesondere die Notwendigkeit hervorgehoben, die Implikationen möglicher Zuschreibungen kritisch zu hinterfragen.

Antonia Glogger von der Ludwig-Maximilians-Universität München widmete sich in ihrer arbeitssoziologischen Bachelorarbeit-Forschung der Plattform OnlyFans und der Frage, wie sich die dort tätigen Creatorinnen in Bezug auf ihre Selbstbestimmung erleben und positionieren. Durch qualitative Interviews mit zwei Creatorinnen aus Deutschland gelang es ihr, wichtige Dimensionen der Selbstbestimmung zu identifizieren, die OnlyFans als eine Plattform charakterisieren, die sowohl Chancen als auch Risiken für selbstbestimmte Sexarbeit birgt.

Ruth Martini von der Universität Bayreuth stellte ihre intersektionale Untersuchung vor, die sich mit Sexarbeitenden in Gewerkschaften und Berufsverbänden auseinandersetzt. Sie fokussierte auf die sozialen Positionierungen und das politische Engagement von Sexarbeiter*innen innerhalb gesellschaftlicher Machtverhältnisse und die potenzielle Rolle, die ihr politischer Aktivismus bei der Erweiterung ihrer Handlungsfähigkeiten spielen kann. Ziel ihrer Dissertation ist es zu verstehen, wie kollektive Organisationen zur Überwindung intersektionaler Herrschaftsverhältnisse beitragen und die Lebensbedingungen von Sexarbeitenden verbessern können.

Susanne Kock von der FH Münster – University of Applied Sciences beleuchtete die Bedeutung von Berufsbezeichnungen im Bereich Sexarbeit und Prostitution, und wie diese durch die gesellschaftliche Tabuisierung und Diskriminierung geformt werden. Mit ihrer Dissertation wies sie darauf hin, dass unabhängig von politischem Engagement oder individuellen Lebensumständen der Begriff „Arbeit“ dem Wort „Prostitution“ vorgezogen wird, was auf eine Ablehnung der damit verbundenen Stigmatisierung hindeutet.

Vanessa Völler und Merlin Sandow von der Landeskoordinierungsstelle Prostitution und Sexarbeit NRW stellten zu Beginn ihrer Arbeitsgruppe eine Untersuchung zu den Unterstützungsstrukturen für Sexarbeitende in Nordrhein-Westfalen vor. Sie zeigten aktuelle (Angebots-)Entwicklungen beispielsweise im Bereich queer-migrantischer Bedarfe und Gesundheit auf. Daraufhin wurde in Kleingruppen zu vier Themenbereichen diskutiert. Die Anregungen der Teilnehmenden werden in zukünftige Überlegungen einfließen, um die Beratungsangebote weiterzuentwickeln und den Zugang für diverse Gruppen von Sexarbeiter*innen in der Unterstützungsarbeit zu erleichtern.

Der Workshop „Kritische Sexarbeitsforschung“ stellte sich als ein bedeutsames Forum heraus, das einen Raum für Austausch und Vernetzung bot. Er eröffnete vielfältige Denkanstöße und Debatten zwischen den Teilnehmenden. Zu den Forschungsergebnissen sowie zu forschungsethischen, interdisziplinären und methodologischen Reflexionen wurde intensiv diskutiert. Durch diesen Austausch ergaben sich viele Gelegenheiten zur Reflexion und Positionierung im Feld sowie in Fachdebatten. Die Teilnehmenden engagierten sich in einem Prozess des gemeinsamen Lernens und der kritischen Auseinandersetzung, der die vielschichtigen Aspekte der Sexarbeits- und Prostitutionsforschung umfassend adressierte und die Wichtigkeit der fortgesetzten inter-/transdisziplinären, transnationalen und kritischen Reflexionen innerhalb dieses Feldes betonte.

Der nächste interdisziplinäre Workshop der GSPF findet im Herbst 2024 statt: www.gspf.info.



Publication History

Article published online:
03 September 2024

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