Einleitung
Die „Repräsentativbefragung zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen“ (kurz:
Teilhabebefragung) ist ein Meilenstein der Teilhabeforschung. Erstmals liegen
repräsentative Daten zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in Deutschland vor
[1]. Mit der Teilhabebefragung will die
Bundesregierung die mit der Ratifikation der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK)
einhergehende Verpflichtung „zur Sammlung geeigneter Informationen, einschließlich
statistischer Angaben und Forschungsdaten“ (Art. 31 UN-BRK) einlösen. Die
Teilhabebefragung ist als Panelstudie angelegt und soll im Zusammenspiel mit dem
Teilhabebericht [2] ein „social monitoring“
ermöglichen, also Hinweise auf besondere Problemlagen von Menschen mit Behinderungen
geben. Auf dieser Grundlage können dann politische Konzepte zur Umsetzung der UN-BRK
entwickelt werden.
Die UN-BRK hat in Art. 1 ein verändertes Verständnis von Behinderung etabliert: „Zu
den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche,
seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in
Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und
gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“ Seit der Reform
durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) im Jahre 2018 prägt diese Formulierung – und
damit auch die Unterscheidung von Beeinträchtigung und Behinderung – den
Behinderungsbegriff des SGB IX, sie ist also in Deutschland auch sozialrechtlich
relevant geworden. Im SGB IX wird Beeinträchtigung definiert als ein Körper- und
Gesundheitszustand, der von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht (§ 2
Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Das Vorliegen einer Beeinträchtigung ist aber nur eine
notwendige, noch nicht hinreichende Bedingung für eine Behinderung. Von Behinderung
wird erst dann gesprochen, wenn Beeinträchtigungen „in Wechselwirkung mit
einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an
der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern
können“ (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Durch die Betonung der Wechselbeziehungen
zwischen persönlichen Voraussetzungen, Umweltfaktoren und Teilhabe im
Behinderungsbegriff des SGB IX wird ein enger Bezug zur UN-BRK deutlich, deren
Behinderungsverständnis wiederum von der Internationalen Klassifikation der
Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation
(WHO) inspiriert ist [3]
[4].
Teilhabeberichterstattung und Teilhabebefragung nehmen für sich in Anspruch, eine
ICF-basierte Operationalisierung von Beeinträchtigung und Behinderung vorzunehmen
[2]
[5]. Ziel dieses Beitrags ist es, die Operationalisierung von
Beeinträchtigung und Behinderung in der Teilhabeberichterstattung und
Teilhabebefragung im Lichte dieser Zielsetzung einer kritischen Betrachtung zu
unterziehen. Der Autor hat selbst an der Entwicklung der Erhebungsinstrumente und
Auswertung der Teilhabebefragung mitgewirkt. Wie in Projektzusammenhängen üblich
wurden auch im Verlauf des Projekts zur Teilhabebefragung methodische Entscheidungen
kontrovers diskutiert und schließlich getroffen, die im Lichte der Erfahrungen und
Ergebnisse kritisch zu reflektieren sind. Nachfolgend wird zunächst das Messkonzept
der Teilhabebefragung vorgestellt. Zentrale Entscheidungen im Zuge seiner
Entwicklung werden nachvollzogen und problematisiert. Drei Problemstellen werden
fokussiert: der Bezug des Messkonzepts zur ICF, die Festlegung von Grenzwerten und
die internationale Vergleichbarkeit.
Das Messkonzept der Teilhabebefragung
Die Teilhabebefragung im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales
erforscht die Teilhabesituationen von Menschen mit Beeinträchtigungen und
Behinderungen in unterschiedlichen Lebensbereichen. In der ersten Welle der
Teilhabebefragung (Laufzeit: 2017–2021) wurden mit einem multi-modalen
Befragungskonzept rund 16.000 Personen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in
Privathaushalten und knapp 3.400 Personen aus Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe
und Alten-/Pflegeheimen befragt, zudem 6.000 Personen ohne Beeinträchtigungen [1].
Die Teilhabebefragung erfasst Behinderung nicht über Fremdbeurteilungen (wie die
amtliche Anerkennung einer Schwerbehinderung), sondern über eine Selbsteinschätzung
der Person. Dabei wird konzeptionell zwischen Beeinträchtigung und Behinderung
unterschieden [5]. Zur Messung von
Beeinträchtigungen wird die Person danach gefragt, ob sie mit einer (oder mehreren)
dauerhaften Beeinträchtigungen lebt, die schon seit sechs Monaten andauern oder
wahrscheinlich so lange andauern werden. Bei der Differenzierung von
Beeinträchtigungen orientiert sich das Messkonzept im Wesentlichen an der Vorstudie
zur Teilhabebefragung [6], in der die Liste
der Beeinträchtigungen aber weder in ihrer Genese erläutert noch konzeptionell
hergeleitet oder begründet wird. Unterschieden werden Beeinträchtigungen beim Sehen,
beim Hören, beim Sprechen, beim Bewegen, beim Lernen, Denken, Erinnern oder
Orientieren im Alltag, durch seelische oder psychische Probleme, durch eine
Suchterkrankung, durch eine chronische Erkrankung, durch Schmerzen und sonstiger Art
(eine andere dauerhafte Beeinträchtigung).
Werden mehrere Beeinträchtigungen angegeben, wird nachgefragt, welche davon die
stärkste bzw. zweitstärkste Beeinträchtigung ist bzw. welche im Lebensverlauf als
erste eingetreten sind. Für diese Beeinträchtigungen werden jeweils Nachfragen nach
der Stärke der Beeinträchtigung und der Stärke der Alltagseinschränkung gestellt
([Tab. 1]).
Tab. 1 Unterscheidung zwischen „beeinträchtigt“ und
„behindert“ in der Teilhabebefragung [5].
Wie sehr ist [Fähigkeit] beeinträchtigt?
|
Wie sehr schränkt [Beeinträchtigung] Sie bei Aktivitäten im
Alltag ein?
|
überhaupt nicht
|
etwas
|
ziemlich
|
stark
|
wenig beeinträchtigt
|
beeinträchtigt
|
beeinträchtigt
|
selbsteingeschätzt behindert
|
selbsteingeschätzt behindert
|
etwas beeinträchtigt
|
beeinträchtigt
|
beeinträchtigt
|
selbsteingeschätzt behindert
|
selbsteingeschätzt behindert
|
ziemlich beeinträchtigt
|
beeinträchtigt
|
selbsteingeschätzt behindert
|
selbsteingeschätzt behindert
|
selbsteingeschätzt behindert
|
stark beeinträchtigt
|
beeinträchtigt
|
selbsteingeschätzt behindert
|
selbsteingeschätzt behindert
|
selbsteingeschätzt behindert
|
Die operationale Unterscheidung zwischen Beeinträchtigung und Behinderung orientiert
sich am Vorgehen des „Canadian Survey on Disability“ [7]. Sie erfolgt anhand der Angaben der Person
auf ebenjene zwei Nachfragen. Geht eine Beeinträchtigung – egal welcher Stärke – mit
einer „ziemlichen“ oder „starken“ Alltagseinschränkung bei Aktivitäten einher, wird
die Person der Gruppe der Menschen mit „selbsteingeschätzter Behinderung“
zugerechnet. Das ist auch der Fall, wenn eine „ziemliche“ oder „starke“
Beeinträchtigung zu „etwas“ Einschränkung bei Aktivitäten im Alltag führt. In allen
anderen Fällen zählt die Person zur Gruppe der Menschen mit Beeinträchtigungen, ohne
als „selbsteingeschätzt behindert“ zu gelten ([Tab.
1]). So entstehen drei Gruppen: nicht beeinträchtigt, beeinträchtigt,
selbsteingeschätzt behindert. Nach einer komparativen Logik wird im Abschlussbericht
der Teilhabebefragung [1] untersucht,
inwiefern sich diese Gruppen hinsichtlich ihrer Lebenslagen unterscheiden.
Problematisierung des Messkonzepts
Erstes Problem: ICF-Bezug des Messkonzepts
Sich bei der Entwicklung des Messkonzepts von Behinderung an der ICF zu
orientieren, erscheint zunächst plausibel, denn die ICF wird vielen
Anforderungen gerecht, die an einen zeitgemäßen Betrachtungsrahmen für die
Teilhabeforschung zu stellen sind [8]: Das
bio-psycho-soziale Modell der ICF überwindet eine einseitig
individuumszentrierte Denkweise, rückt Umweltfaktoren bei der Entstehung von
Behinderung ins Blickfeld und versteht Teilhabe als integralen Bestandteil des
Behinderungsbegriffs. Zudem erhebt die ICF den Anspruch auf universelle
Anwendbarkeit über Kulturen und Ländergrenzen hinweg [4], was angesichts der angestrebten
internationalen Vergleichbarkeit von Untersuchungsergebnissen der
Teilhabeforschung (wie die Umsetzung der UN-BRK im Ländervergleich)
gewinnbringend erscheint.
Auf die ICF wird sich sowohl in der Teilhabebefragung als auch den
Teilhabeberichten berufen, um zwischen Beeinträchtigung und Behinderung zu
unterscheiden [2]
[5]. Die Unterscheidung zwischen
Beeinträchtigung und Behinderung geht zurück auf die politische
Behindertenbewegung und die Disability Studies, die mit dem sog. „sozialen
Modell von Behinderung“ – in Abgrenzung zu individuumszentrierten und
medizinischen Beschreibungsversuchen – „impairment“ von „disability“ trennen
[9]: „Erstere meint das Fehlen oder
die Beeinträchtigung eines Körperteils oder einer Körper- bzw. Organfunktion,
letztere umfasst Nachteile oder Aktivitätsbeschränkungen, die durch die
Organisation der Gesellschaft und deren mangelnde Berücksichtigung behinderter
Menschen verursacht werden.“ ([10], S. 3).
In der neueren deutschsprachigen Fachliteratur wird der Begriff Beeinträchtigung
häufig als deutsche Übersetzung von „impairment“ verwendet, was auf die UN-BRK
zurückgeführt werden kann. In der englischsprachigen Fassung ist die Rede von
„long-term physical, mental, intellectual or sensory impairments“ (CRPD,
Article 1; Hervorh. d. Verf.), was als „langfristige körperliche, seelische,
geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen“ (Art. 1 UN-BRK; Hervorh. d.
Verf.) übersetzt wird.
Die Unstimmigkeit besteht nun darin, dass im Messkonzept der Teilhabebefragung
(und auch in den Teilhabeberichten) davon ausgegangen wird, dass die
begriffliche Unterscheidung von Beeinträchtigung und Behinderung aus der ICF
folgt. Das ist aber gleich in mehrfacher Hinsicht ungenau. Beide Begriffe,
sowohl Beeinträchtigung als auch Behinderung, werden in der ICF anders
verwendet, was für einige Verwirrung sorgen kann.
Der Kern der Verwirrung besteht darin, dass „Beeinträchtigung“ in der
deutschsprachigen Fassung der ICF nicht eindeutig im Sinne des Begriffs
„impairment“ benutzt wird. „Impairment“ wird in der ICF nämlich nicht mit
„Beeinträchtigung“, sondern mit „Schädigung“ übersetzt. „Beeinträchtigung“
hingegen meint in der ICF etwas anderes: Der Begriff wird ausschließlich formal
zur Kennzeichnung einer negativen Ausprägung genutzt und dabei auf verschiedene
Komponenten und Ebenen der ICF bezogen [4]:
-
als „Beeinträchtigungen einer Körperfunktion oder -struktur“ (dann auch
als Schädigung bzw. Funktionsstörung oder Strukturschaden
bezeichnet),
-
als „Beeinträchtigungen der Aktivität“ (teilweise auch als „Einschränkung
der Aktivität“ bezeichnet),
-
als „Beeinträchtigungen der Partizipation“ (teilweise auch als
„Einschränkung der Partizipation“ bezeichnet) und sogar
-
als „Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit“ (als Synonym für
Behinderung)
Mit anderen Worten: Wenn mit dem Begriff „Beeinträchtigung“ (scheinbar) auf die
ICF Bezug genommen wird, ist gar nicht klar, was damit gemeint ist.
„Beeinträchtigung“ ist kein zentraler Begriff der ICF und stellt keine
eigenständige Komponente dar. „Beeinträchtigung“ zielt in der deutschsprachigen
Fassung – anders als dem fachlichen und rechtlichen Verständnis nach – nicht
unmittelbar und eindeutig auf die Komponente der Körperfunktionen und
-strukturen. Die Verwendung des Begriffs Beeinträchtigung in Verbindung mit der
ICF erfordert somit stets eine Klarstellung, auf welche Komponente der ICF denn
genau Bezug genommen wird. Aus der ICF selbst heraus kann diese Klärung nicht
geleistet werden.
Diese Klarstellung erfolgt weder im Abschlussbericht zur Teilhabebefragung noch
in den Teilhabeberichten der Bundesregierung, an denen sich die
Teilhabebefragung bei der Frage des ICF-Bezugs eng orientiert [2]
[5]. Im Abgleich der bis dato drei erschienenen Teilhabeberichte sind
unterschiedliche Begriffsbestimmungen von Beeinträchtigung zu finden – alle mit
dem Anspruch, sich dabei auf die ICF zu beziehen. Der Zweite Teilhabebericht,
den der Abschlussbericht der Teilhabebefragung zitiert, beschreibt
Beeinträchtigungen als „konkrete Einschränkungen bei Aktivitäten in
verschiedenen Lebensbereichen, mit denen betroffene Menschen konfrontiert sind“
([11], S. 14). Damit dehnt der Teilhabebericht Beeinträchtigung über die
Bedeutung von „impairment“ hinaus in Richtung der Komponente der
Aktivitäten.
In der Teilhabebefragung findet die unkritische Übernahme dieses abweichenden
Begriffsverständnis ihren Niederschlag in den Erhebungsinstrumenten. Die Liste
der Beeinträchtigungen adressiert ganz Unterschiedliches: gesundheitliche
Funktionsdomänen bzw. Einschränkungen körperlicher Leistungsfähigkeit (sehen,
hören, sprechen, bewegen, lernen), Gesundheitsprobleme (seelische/psychische
Probleme, Suchterkrankung, chronische Erkrankungen) oder Schädigungen der
Körperfunktionen/-strukturen (Schmerzen). Der Wechsel der Bezüge ist auch
sprachlich markiert durch „Beeinträchtigungen beim …“ (Leistungsfähigkeit) vs.
„Beeinträchtigungen durch …“ (Gesundheitsprobleme und Schädigungen). Die
aufgezählten Beeinträchtigungsarten der Teilhabebefragung sind nicht
systematisch aus der ICF abgeleitet, die Kategorien sind auch nicht trennscharf:
Chronische Erkrankungen z. B. können zu Beeinträchtigungen beim Bewegen führen,
Suchterkrankungen sind auch chronische Erkrankungen usw. Aufgrund der
abweichenden Begriffsbestimmung kann die Liste der Beeinträchtigungen gar nicht
konsistent aus der ICF abgeleitet werden, sondern ist im Wesentlichen Resultat
einer pragmatischen Setzung. Ganz grundsätzlich ist diese Setzung auch
erforderlich, wenn es in Befragungskontexten um Selbstauskünfte geht, denn es
wäre allein aufgrund der inhaltlichen und sprachlichen Komplexität der ICF wenig
praktikabel, die umfangreiche Klassifikation z. B. der Körperfunktionen mit den
Befragten „durchzugehen“. Die ICF ist nicht für die Messung von Behinderung in
Befragungsstudien gemacht. Nicht die Setzung der Liste der Beeinträchtigungen an
sich ist also problematisch, sondern die mangelnde Begründung des Messkonzepts
der Teilhabebefragung und nur mittelbare Orientierung an der ICF.
Die ICF ist noch aus einem anderen Grund ungeeignet dazu, die Unterscheidung
zwischen Beeinträchtigung und Behinderung zu begründen, denn Behinderung wird in
der ICF sehr weit gefasst, nämlich als „ein Oberbegriff für Schädigungen
(Funktionsstörungen, Strukturschäden), Beeinträchtigungen der Aktivität und
Beeinträchtigungen der Partizipation [Teilhabe]“ ([4], S. 145f). Die in der ICF
benutzte Formulierung „Oberbegriff“ ist dabei missverständlich gewählt: „Denn
das hieße ja strenggenommen, dass bereits eine Schädigung als solche oder ein
isoliertes Teilhabeproblem bereits als Behinderung betrachtet werden könnte“
([12], S. 104). Jenseits dieser missglückten Formulierung ist doch das Ansinnen
der ICF zentral, bio-psycho-soziale Prozesse bei der Entstehung von
Funktionsfähigkeit und Behinderung nachzuvollziehen und nicht einseitig auf eine
Seite hin aufzulösen. „Behinderung ist sozial und körperlich zugleich, oder sie
ist keine Behinderung“ ([12], S. 107). Es sind also konzeptionelle
Ungenauigkeiten der ICF selbst, die es erschweren, die Unterscheidung zwischen
Beeinträchtigung und Behinderung aus ihr heraus zu begründen.
Ungeachtet dessen ist es das, was das Messkonzept der Teilhabebefragung versucht.
Das Messkonzept spricht dann von Behinderung, wenn Beeinträchtigungen zu
Einschränkungen bei Aktivitäten im Alltag führen [5]. Argumentiert wird, dass mit dem
Einbezug der Alltagseinschränkung die von der ICF geforderte Berücksichtigung
von Umweltfaktoren geleistet wird: „Die subjektive Angabe zur Einschränkung
im Alltag stellt dabei eine generalisierte Information über die
soziale Lebenswelt der Betroffenen dar. Mit dieser Einschätzung sind
Umweltaspekte konzeptualisiert, die mit der ICF-Heuristik angesprochen sind. Der
Alltag und seine Bewältigung, so dass hierbei grundlegende Argument, stellt eine
für jeden praktischen Lebensvollzug relevante soziale oder
Umwelt-Situation dar“ ([13], S. 214).
Zur Bestimmung von Behinderung werden die einzubeziehenden Umweltfaktoren in der
Teilhabebefragung nur durch den generalisierenden Begriff des Alltags in einer
einzelnen Nachfrage abgebildet, während die Abfrage von Beeinträchtigungen noch
vergleichsweise differenziert erfolgt (durch zehn Items). Zur Bestimmung von
Behinderung erhalten damit persönliche Merkmale einen höheren Stellenwert als
soziale Faktoren. Die individuumszentrierte Sicht kommt auch darin zum Ausdruck,
dass in der Formulierung der Frage „Wie sehr schränkt die Beeinträchtigung bei
Aktivitäten im Alltag ein?“ die Beeinträchtigung als Ursache für
Alltagseinschränkungen konzeptualisiert wird. Diese Logik entspricht dem
individuellen Modell von Behinderung [9],
das mit dem Messkonzept der Teilhabebefragung eigentlich überwunden werden soll.
Denn die ICF mit ihrem bio-psycho-sozialen Modell ist prinzipiell offen für
verschiedene Wirkrichtungen und berücksichtigt auch Situationen, in denen – im
Sinne des sozialen Modells – gesellschaftliche Bedingungen ursächlich für das
Entstehen von Behinderung sind. Diese Offenheit des bio-psycho-sozialen Modells
spiegelt das Messkonzept der Teilhabebefragung nicht hinreichend wider.
Zweites Problem: Definition der Grenzwerte
Ein weiteres Problem betrifft Messprobleme im engeren Sinne. Wie dargestellt,
dient die Kreuztabellierung der beiden Fragen zur Stärke der Beeinträchtigung
und zur Stärke der Alltagseinschränkung dem Ziel, Beeinträchtigung von
Behinderung zu unterscheiden. Dadurch stellt sich das Problem der Definition von
Grenzwerten: Ab welcher Stärke von Beeinträchtigung in Kombination mit welcher
Stärke von Alltagseinschränkung ist eine Behinderung von einer Beeinträchtigung
abzugrenzen?
Mit seiner Matrix ([Tab. 1]) orientiert
sich das Messkonzept grundsätzlich an der operationalen Definition von
Behinderung im „Canadian Survey on Disability“ [7]:
-
„Do you have any difficulty …?” (seeing, hearing, learning etc.) mit der
Skalierung: „no, sometimes, often, always“
-
„How often does this … limit your daily activities?” (difficulty
seeing/seeing condition etc.) mit der Skalierung: „never, rarely,
sometimes, often, always“
Die entsprechenden Items der deutschen Teilhabebefragung weisen andere
Skalierungen auf als die kanadischen „Disability Screening Questions“, sowohl
was die Anzahl als auch die Verbalisierung der Skalenstufen betrifft. Daher hat
die Teilhabebefragung eine eigene Entscheidung über die Wahl der Grenzwerte zur
Gruppeneinteilung zu treffen. Im Entscheidungsprozess wurde insbesondere ein
unterschiedlicher Einbezug der „Etwas“-Angaben bei der Frage nach
Alltagseinschränkungen diskutiert. Drei Modelle zur Bildung der Gruppe von
Menschen mit selbsteingeschätzter Behinderung wurden geprüft [5]:
-
der Einbezug aller „Etwas“-Nennungen (weites Modell)
-
der Ausschluss aller „Etwas“-Nennungen (enges Modell)
-
der teilweise Einbezug von „Etwas“-Nennungen (mittleres Modell), nämlich
nur dann, wenn die Person eine „ziemliche“ oder „starke“
Beeinträchtigung angegeben hat
Die schließlich erfolgte Wahl des dritten, „mittleren Modells“ erscheint
naheliegend: Auch der Canadian Survey on Disability hat zuvor die gleiche
Abwägung vorgenommen und sich im Ergebnis für ein mittleres Modell entschieden
[14]. In der deutschen
Teilhabebefragung (wie auch in der kanadischen Studie) wurden die drei Modelle
empirisch überprüft, indem die mittels des jeweiligen Modells gebildeten Gruppen
mit anderen Variablen (z. B. Besitz eines Schwerbehindertenausweises) gekreuzt
wurden. Die Ergebnisse auf Basis der Gruppeneinteilung anhand des mittleren
Modells wurden als am plausibelsten und nützlichsten gewertet. Auch
Regressionsmodelle wurden gerechnet, in denen als Prädiktoren der Grad der
Behinderung, der Pflegegrad, Ursachen der Beeinträchtigungen, erlebte Barrieren
in der Öffentlichkeit etc. einbezogen wurden.
Grundsätzlich ist es legitim, die Wahl des Modells und damit die Definition von
Grenzwerten zur Abgrenzung von Beeinträchtigung und Behinderung anhand
empirischer Kriterien zu treffen ([15], S. 283). Das darf aber nicht darüber
hinwegtäuschen, dass dann die getroffene Entscheidung in erster Linie eben nicht
konzeptionellen Überlegungen folgt, sondern pragmatisch oder normativ ist. Die
Auswahl der unabhängigen Variablen für die Regressionsberechnungen in der
Teilhabebefragung ist „data driven“. Sie folgt keiner expliziten Theorie,
die erklärt, wovon die Selbsteinschätzung einer Behinderung abhängt, und die
dann empirisch auf Gültigkeit überprüft wird. Zudem wird die Wahl des Modells
fast ausschließlich anhand von Indikatoren validiert, die einer
individuumszentrierten, medizinischen Sichtweise auf Behinderung verhaftet sind
(z. B. Pflegegrad). Damit bleibt an einer für die Teilhabebefragung
entscheidenden Stelle, nämlich der Unterscheidung zwischen Beeinträchtigung und
Behinderung, eine konzeptionelle Begründungslücke.
Drittes Problem: Internationale Vergleichbarkeit
Die internationale Vergleichbarkeit ist ein wichtiges Anliegen der
Teilhabebefragung [5]. Dies wirft die
Frage auf, ob das Messkonzept von Behinderung der deutschen Teilhabebefragung
einem international üblichen und akzeptierten Vorgehen entspricht.
Die Datenbank der United Nations zeigt auf, wie unterschiedlich Behinderung in
nationalen Erhebungen operationalisiert wird.[1] Daraus resultieren sehr unterschiedliche Anteile von Menschen mit
Behinderungen an der Bevölkerung eines Landes, die von 0,4% in Katar bis zu
35,2% in Schweden reichen. Die Differenzen sind nicht auf unterschiedliche
Prävalenzen in den Ländern zurückzuführen, sondern auf unterschiedliche
Messinstrumente: Sie fragen funktionale Einschränkungen oder Gesundheitsprobleme
mehr oder weniger umfangreich und differenziert ab und legen je andere Kriterien
zur Bestimmung von Behinderung an. Die WHO geht auf der Basis von Erhebungen und
Schätzungen von 1,3 Mrd. Menschen mit Behinderungen weltweit aus, was einem
Anteil von 16% an der Weltbevölkerung entspricht [15]
[16]. Bei der Interpretation dieser Befunde stellt aber die fehlende
internationale Vergleichbarkeit national erhobener Daten ein schwerwiegendes
Problem dar: „Wenn, was selten geschieht, nicht einheitliche
Befragungsinstrumente zugrunde gelegt werden, sind Statistiken über Behinderung
also nicht miteinander vergleichbar“ ([12], S. 37).
Auch wenn sich im internationalen Raum noch kein eindeutiger „Goldstandard“ für
die Messung von Behinderung abzeichnet, tun sich zwei Ansätze hervor, um zu
einer Vereinheitlichung der Messung und besseren Vergleichbarkeit der Daten zu
kommen: zum einen der Ansatz der sog. „Washington Group on Disability
Statistics“, zum anderen der „Model Disability Survey“ von WHO und Weltbank
[17]
[18].
Die Washington Group on Disability Statistics wurde im Jahr 2001 von der
Statistischen Kommission der Vereinten Nationen eingerichtet. Als internationale
Expertengruppe hat sie zur Aufgabe, die Messung von Behinderung zwischen Ländern
zu harmonisieren und internationale Vergleiche zu erleichtern. Die Washington
Group hat verschiedene Frage-Sets entwickelt [19]
[20]
[21], darunter ein aus sechs Items
bestehendes „Washington Group Short Set on Functioning“ [19], das folgende Funktionsdomänen abdeckt:
Sehen, Hören, Mobilität, Kognition, Selbstversorgung und Kommunikation. Ähnlich
wie in der Teilhabebefragung zielen die Fragen darauf, ob die Person
Einschränkungen bei bestimmten funktionalen Aktivitäten hat, z. B.: „Haben Sie
Schwierigkeiten beim Sehen, selbst mit einer Brille?“ mit den
Antwortalternativen: „keine Schwierigkeiten, einige Schwierigkeiten, große
Schwierigkeiten, nicht fähig zu dieser Aktivität“ [15]. Die Frage-Sets der Washington Group
sind ökonomisch einsetzbar und werden in über 60 Ländern angewandt [18]. Im Rahmen allgemeiner
Bevölkerungsumfragen werden sie häufig zur Identifikation der Zielgruppe von
Menschen mit Behinderungen verwendet, die dann vertiefend befragt werden kann.
Die Screening-Fragen decken jedoch nicht die Bandbreite möglicher
Beeinträchtigungen ab, wodurch die Gefahr der Untererfassung von Behinderung
droht [17]
[22]
[23]. Zudem berücksichtigen
sie nur unzureichend soziale Faktoren von Behinderung [24].
Der „Model Disability Survey (MDS)“ von WHO und Weltbank [25] stellt einen „Stand-alone“-Fragebogen
für eine umfangreiche Haushaltsbefragung dar. Die Langversion besteht aus fast
300 Fragen. Die aus 38 Items bestehende Kurzversion („Brief MDS“; [26]) ist als in Bevölkerungsumfragen
integrierbares Modul konzipiert und umfasst Fragen zu „functioning“ und
„capacity/health condition“, aber auch zu Umweltfaktoren sowie technischer und
personeller Assistenz. Differenziert wird dabei im Sinne des ICF-Konzepts
zwischen Leistungsfähigkeit (capacity) und Leistung (performance): Die Befragten
sollen Fragen zur Leistungsfähigkeit ohne Berücksichtigung von Assistenz und
technischer Unterstützung beantworten, z. B.: „How much difficulty do you have
washing all over or dressing?“ Fragen zur Leistung hingegen sollen explizit
unter Berücksichtigung von Hilfsmitteln und Assistenz eingeschätzt werden,
z. B.: „How much of a problem is walking a kilometer for you?“ [26] Die Fragen zur Leistungsfähigkeit
umfassen: Sehen, Hören, Mobilität, Kognition, Selbstversorgung, Energie/Antrieb,
Haushaltstätigkeiten, gemeinschaftliches Leben, Affekt, zwischenmenschliche
Beziehungen, Schmerzen. Es lassen sich „level of disability“ („no, mild,
moderate, severe“) differenzieren, wobei die Grenzwerte zur Bestimmung der
Gruppen nicht a priori, sondern a posteriori gebildet werden, also
erst im Zuge der Datenanalyse – anhand von Mittelwert und Standardabweichung
[17]
[27]. Die elf Fragen zur Leistungsfähigkeit des Brief-MDS sind
inzwischen von der WHO als separates Instrument unter der Bezeichnung
„Functioning and Disability Disaggregation Tool (FDD11)“ veröffentlicht worden
[28]
[29]. Das FDD11-Tool ist für die Integration in bestehende
Erhebungsinstrumente z. B. von nationalen Bevölkerungsumfragen bestimmt.
Der MDS wird als relativ junges Instrument bislang in fünfzehn Ländern verwendet
[28]. International betrachtet stellt
der Fragebogen, vor allem als „Brief-MDS“, die überzeugendste
Operationalisierung der ICF für Befragungszwecke dar. Mit Blick auf die
Teilhabebefragung wäre vor dem Hintergrund des Anspruchs der Orientierung an der
ICF und der internationalen Vergleichbarkeit eine Integration des „capacity“-
und „functioning“-Moduls des MDS ein vielversprechender Ansatz. Die alternativ
gewählte Lösung der Anlehnung am kanadischen Vorgehen jedenfalls überzeugt
nicht, denn sie führt weder zu einer stimmigen ICF-Orientierung des Messkonzepts
noch zu internationaler Vergleichbarkeit, weil das kanadische Modell im
internationalen Raum keine Rolle spielt. Die Ergebnisse sind noch nicht einmal
zwischen Kanada und Deutschland gut vergleichbar, aufgrund von Unterschieden in
den Frageinhalten und Antwortformaten im Detail. Dass das deutsche Messkonzept
zwar im Grundsatz „dem Muster internationaler Studien“ ([5], S. 40) folgt, ist
für tatsächlich international vergleichbare Ergebnisse nicht hinreichend.
Der Brief-MDS liegt bislang jedoch nicht in einer deutschen Fassung vor. Ein
alternativer Messvorschlag, der sich auf den MDS zubewegt und mit den
vorliegenden Daten der Teilhabebefragung umsetzbar ist, besteht darin, eine
Gruppeneinteilung ausschließlich nach der angegebenen Stärke der
Beeinträchtigung vorzunehmen (dieser Ansatz wird im Zweiten Teilhabebericht
Nordrhein-Westfalen verfolgt; [30]). Damit
geht der Verzicht auf eine Unterscheidung von Beeinträchtigung und Behinderung
a priori einher. Das bedeutet, mit einer Gruppenbildung anhand der
Dimension Beeinträchtigung in die Analysen zu gehen, Teilhabeeinschränkungen in
verschiedenen Lebensbereichen zu erheben und Behinderung erst anschließend
festzustellen, indem Beeinträchtigungen in Beziehung zu Teilhabeeinschränkungen
gesetzt werden. Ein ähnliches Vorgehen findet sich im „Life Opportunities
Survey“. Diese in Großbritannien von 2009 bis 2014 durchgeführte
Bevölkerungsumfrage zielt wie die deutsche Teilhabebefragung darauf, die
Teilhabe von Menschen mit und ohne Behinderungen zu vergleichen. Behinderung
wird in der ersten Welle des „Life Opportunities Survey“ erst im Nachhinein,
anhand einer Kombination der Daten zu „impairments“ und „participation
restrictions“ festgestellt [31]. Diese
Auswertungsrichtung nimmt den Grundgedanken der ICF auf und begreift Behinderung
nicht als persönliches, sondern als situatives Merkmal, das sich in variierenden
Lebenszusammenhängen je anders zeigt.