Krankenhaushygiene up2date 2024; 19(04): 287-289
DOI: 10.1055/a-2372-9841
Editorial

Wir haben eine tolle Lösung für Ihr nicht existierendes Problem

Sebastian Schulz-Stübner

Geht es Ihnen auch manchmal so, dass Sie sich angesichts der Versprechungen der Digitalisierung und der angebotenen Lösungen fragen, um welche Probleme es eigentlich geht?

Seit Jahren wird Entbürokratisierung durch Digitalisierung versprochen, doch die Stunden für administrative Tätigkeiten im Gesundheitswesen nehmen zu und das bei bestehendem Personalmangel und ohnehin fehlender Zeit für die Patientenversorgung.

Nach wie vor werden dieselben Daten mehrfach erhoben und ihre wiederholte Eingabe erforderlich, weil Schnittstellen zwischen verschiedenen Systemen fehlen und die Hersteller nur ihre Produkte verkaufen wollen und sich abschotten. Der Zwang in Software-Abosysteme und Cloud-Computing verspricht Sicherheit vor der kaputten Festplatte, schafft aber neue Abhängigkeiten und birgt Risiken eines Ausfalls – vom Energieaufwand der riesigen Rechenzentren und dem ständigen Datentransfer ganz zu schweigen. Autarke lokale (Backup-)Versionen, die auch als Insellösung unabhängig vom Netz gestartet werden können, werden von den Herstellern gar nicht (mehr) angeboten oder nur zu horrenden Preisen.

Im Sinne der Resilienz des Gesundheitssystems gegen Krisen und Katastrophen könnten jedoch gerade dezentrale, netzunabhängige Backups eine geeignete Präventionsmaßnahme darstellen und böten einen zusätzlichen Schutz vor externen Angriffen und Manipulationsversuchen. Wir brauchen generell High-Tech und Handkurbel, um handlungsfähig zu bleiben, egal wie Bedrohungsszenarien auch aussehen mögen – deren Eintreten - vom Hackerangriff bis zum Unwetterschaden - keine Frage des ob sondern nur des wann ist.

Zwar sind Daten das neue Gold, aber der Grundsatz „shit in – shit out“ gilt für künstliche Intelligenz umso mehr. Ist das Internet die alleinige Datenquelle liegt sogar der Verdacht nahe, dass das Ergebnis im schlimmsten Fall „shit zum Quadrat“ ist.

Bei der Suche nach einem Datenanalysewerkzeug, welches z.B. auf bestehenden Patientendatenmanagementsystemen zum Zwecke der Surveillance nosokomialer Infektionen ohne enormen Programmieraufwand angewandt werden kann, läuft man hingegen derzeit noch ins Leere. Die elektronische Patientenakte ist zur tragikomischen Lachnummer geworden und der holprige Start des „Bundesklinikatlas“ eine Steilvorlage für Kabarettisten.

Woran liegt das? Liegt es am Desinteresse? Oder an Ignoranz oder schlicht an Geschäftemacherei? Politiker und mitunter sogar eigene Standesvertreter tun ein Übriges, indem sie zwar Entbürokratisierung predigen aber immer fast im gleichen Atemzug neue Regelungen für noch absurdere Detailfragen und Dokumentationspflichten erfinden. Die viel gescholtene Europäische Union bemüht sich (ein bisschen wenigstens), internationale Großkonzerne und deren Datensammelwut in die Schranken zu weisen. Wenn diese dann ihre gut funktionierenden Softwarelösungen aus dem Support nehmen, um neue Versionen zu verkaufen, die viel Schnickschnack bieten aber die einfachen Anwendungen nicht mehr mit einem Click bewerkstelligen, wird dies als „Event“ inszeniert.

Erheben Sie daher Ihre Stimme, wenn es um IT-Neuanschaffungen geht und stellen Sie klare Anforderungen an ihren Bedarf in der Krankenhaushygiene, beim Meldewesen und im Antibiotic Stewardship. Die Einkäufer können es qua ihrer fehlenden Fachqualifikation nicht wissen und die Anbieter wollen es oftmals qua ihres Geschäftsinteresses nicht wissen. Wir jedoch haben eine Einkaufsmacht, die wir unbedingt nutzen sollten und auch privat daran denken, nicht aus Bequemlichkeit mit unseren Daten zu bezahlen, was uns am Ende teuer zu stehen kommt.

Gesetze zur Datennutzung für epidemiologische Forschung weisen in die richtige Richtung, anhand der Problemstellung eine Lösung zu entwickeln und nicht umgekehrt.

Auch in anderen Bereichen wie bei der Testung von Flächendesinfektionsmitteln oder der endlosen Diskussion wie denn nun Händedesinfektionsmittel zugelassen sein müssen, wird viel Energie und Geld in angebliche Lösungen gesteckt, die am Kernproblem vorbeigehen: So ist beispielsweise eine mangelhafte Händehygiene nicht auf das Fehlen effektiv wirksamer Substanzen zurückzuführen, sondern auf ein Unterlassen der Händedesinfektion oder unzureichende Benetzung der zu desinfizierenden Hautpartien und die gute Reinigung und Desinfektion von Flächen braucht ausreichend viel und geschultes Personal, das nicht durch ein halbes Dutzend verschiedene Konzentrations- und Einwirkzeitkonstellationen pro Wirksubstanz verunsichert werden darf.

Ebenso ist ein Mangel im ärztlichen Dienst nicht mit der Schaffung immer neuer paramedizinischer Berufe zu ersetzen, wie das Beispiel der USA zeigt. Vielmehr kann hier moderne kommunikative Technik im Rahmen der Telemedizin helfen, und bei weniger Verwaltungsarbeit wäre auch genug Zeit. Akademisierung und Verkammerung der Pflege werden als Mittel zur Steigerung der Attraktivität des Pflegeberufes angepriesen. Leider vergrault dies viele motivierte und empathische (junge) Menschen ohne Abitur, die am Patientenbett wertvolle und durch nichts zu ersetzende Dienste leisten. Unsere klassische duale Pflegeausbildung mit hohem Praxisanteil wird interessanterweise im benachbarten Ausland hochgeschätzt und die in Deutschland ausgebildeten Pflegenden mit Kusshand genommen, während ihnen hierzulande die gebührende Wertschätzung oft nicht entgegengebracht wird. Dabei sind es die Pflegenden, die bei der Infektionsprävention an vorderster Front stehen und bei den Details des Antibiotic Stewardship von der Penicillinallergie-Anamnese bis zum Monitoring der Therapiedauer entscheidend für die Umsetzung sind. Das fehlende Quorum zur Pflegekammer und deren Scheitern in Baden-Württemberg zeigt aber auch, dass durch Teilnahme an Wahlen Einfluss genommen werden kann. Wir haben funktionierende Institutionen und demokratische Entscheidungsstrukturen, die wir nutzen müssen.

Das Prinzip der Parsimonie, auch „Ockhams Rasiermesser“ genannt, hilft im Alltag die Wildwüchse der Bürokraten und Datenjongleure zurechtzustutzen, wobei hier die praktische Vernunft die fiskalisch orientierte Sparsamkeit unbedingt an die Hand nehmen muss, um nicht das „Sparen“ über den „Bedarf“ zu stellen. Wenn dann noch ein mehr holistisch orientiertes Kosten-Nutzendenken Quartalsbilanzen und Kostenstellendenken ablösen würde, wäre mir um unser Gesundheitswesen nicht bange.

Doch auch wir sind gefragt, denn solange wir selbst zum Beispiel im Hygieneplan alle Handreichungen bis ins Detail glauben regeln zu müssen und das selbstständige Denken durch Arbeitsanweisungen, die dann weder gelesen noch befolgt werden, ersetzen, dürfen wir uns nicht über „die Politik“ oder andere Vertreter einer unreflektierten Bürokratie beschweren. Das juristische Konstrukt des „voll beherrschbaren Risikos“ kann letztlich nur in wenigen technischen Bereichen des Gesundheitswesens angewandt werden und ist für Risiko- bzw. Gefährdungsanalysen bei medizinischen und biologischen Fragestellungen schlicht untauglich, da das Verhalten biologischer Systeme nie mit 100iger Sicherheit vorhergesagt werden kann. Mit Unsicherheiten leben und auch Risiken zu akzeptieren ist für jeden Einzeln wir für Organisationen nicht einfach aber unabdingbar – wie uns die Pandemie eindrücklich gelehrt hat.

Fangen wir also in unserem eigenen Bereich an und regeln nur das, was unbedingt einer Regelung und Festlegung bedarf und leisten ansonsten evidenzbasierte Anleitung zum selbständigen Handeln. Das heißt auch, weniger Statistiken erstellen und Protokolle schreiben, sondern mehr Prozesse aktiv begleiten und mit den Handelnden unter Berücksichtigung ihrer Erfahrung besprechen. Dann wird Hygiene nicht nur gelebt, sondern kann sogar Spaß machen!

Ihr

Sebastian Schulz-Stübner



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Article published online:
03 December 2024

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