Notaufnahme up2date 2024; 06(04): 331-333
DOI: 10.1055/a-2376-2639
Editorial

Krisenintervention in der Klinischen Akut- und Notfallmedizin – menschliche Geste und notwendiges Element

Contributor(s):
Karoline Kaschull
,
Christian Borscheid
,
Ingo Gräff
Fallbeispiel

Frau S. erhält unangekündigten Besuch. Zwei uniformierte Polizeibeamte stehen an ihrer Haustür. Die Beamten teilen ihr mit, dass ihr Ehemann am Arbeitsplatz verunglückt und lebensgefährlich verletzt worden sei. Der Rettungshubschrauber habe ihn ins Universitätsklinikum gebracht, weiteres könne man derzeit nicht sagen.

Frau S. wird schwarz vor Augen, ihre Knie zittern. Sie versucht den Polizisten zu danken, doch sie bringt kein Wort heraus. Eine Nachbarin ruft ihr ein Taxi ins Universitätsklinikum, wo sie nach einiger Suche die Zentrale Notaufnahme findet. Dort erfährt sie, dass ihr Mann in einem „Schockraum“ behandelt wird, man könne noch nichts sagen, die Lage sei aber ernst. Nach einer Stunde erscheint ein erschöpfter Arzt. Man habe das Mögliche getan; leider seien alle Bemühungen umsonst geblieben. Herr S. sei den Folgen seiner Verletzungen erlegen. Frau S. erstarrt vor Entsetzen…

Frau S. wird das Erleben des kritischen Ereignisses vielleicht in einer angemessenen Zeit bewältigen können. Mit der Hilfe ihrer Angehörigen und Freunde wird die akute Krise in einen natürlichen Trauerprozess münden und schließlich als schmerzliche Erfahrung erinnert werden. Die Chance besteht.

Jedoch gelingt nicht allen Betroffenen die Bewältigung solcher Erfahrungen, ihnen drohen lange Leidenszeiten und schlimmstenfalls ernsthafte Folgestörungen.

Zunehmend halten deutsche Krankenhäuser Systeme der Psychosozialen Akuthilfe (PSAH) zur unmittelbaren Unterstützung betroffener Personen vor. Die Teams der „Klinischen Krisenintervention“ leisten ereignisnahe und methodisch strukturierte Akuthilfe, sie unterstützen Bewältigungsprozesse und wirken präventiv Belastungsfolgen und resultierenden Störungen entgegen. Wenngleich noch längst nicht alle Kliniken über Kriseninterventionsteams verfügen [1], gründen sich doch zunehmend Systeme, engagieren sich mehr und mehr Menschen, um betroffenen Patienten, deren Angehörigen und den Beschäftigten der Kliniken nach kritischen Ereignissen beizustehen.

Unlängst veröffentlichte das „Netzwerk Klinische Krisenintervention“ der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) „Empfehlungen zur Implementierung Klinischer Kriseninterventionsteams“ [2]. Hier wird der Bedarf entsprechender Unterstützungssysteme für die intensiv- und notfallmedizinische Versorgung, sowie darüber hinaus auch alle weiteren Bereiche des Krankenhauses, aufgezeigt und die notwendigen Schritte zur Implementierung – von der Vorbereitung bis zur Verstetigung des Angebots – dargestellt.

Betroffene erleben derart kritische Situationen als überwältigend und bedrohlich. Sie durchleben in der ersten Akutphase eine Art Schockzustand, sich selbst als dem Geschehen hilflos ausgesetzt und sind kaum handlungsfähig [3]. Im Fall von Frau S. stellen das lange Warten an einem unbekannten Ort, der Mangel an Orientierung und Information sowie die soziale Isolation (im Warteraum des Notfallzentrums) zusätzliche, durchaus vermeidbare Stressoren dar.

Krankenhäuser, die über Unterstützungssysteme zur Psychosozialen Akuthilfe verfügen, können Betroffene in diesen Situationen professionell begleiten, hierfür arbeiten alle Beteiligten Hand in Hand:

Auf die Alarmierung durch das pflegerische oder ärztliche Personal der Zentralen Notaufnahme hin trifft innerhalb kurzer Zeit eine qualifizierte Einsatzkraft ein und nimmt sich der oder dem Betroffenen an, schafft einen sicheren Raum und vermittelt zwischen dem Behandlungsteam und den zu betreuenden Personen. Gemeinsam erarbeiten sie hilfreiche Beruhigungsstrategien und aktivieren stabilisierende Ressourcen.

Betroffene, wie Frau S., erhalten so die Chance, unmittelbar die Selbstkontrolle wiederzuerlangen und die Bewältigung des Ereignisses aktiv und selbstbestimmt anzugehen. Jede Intervention beinhaltet auch die Vermittlung von Informationen, die ihnen die Beurteilung von mentalen und sozialen Phänomenen in den kommenden Tagen und Wochen ermöglichen, sowie ggf. Hinweise auf weiterführende Institutionen. Insbesondere zum Tragen kommen diese Maßnahmen bei akuten Belastungssituationen, die durch das Versterben von Kindern entstehen. Auf diese Weise kann es gelingen, akute Belastungsreaktionen abzumildern und einer potenziellen Traumatisierung entgegenzuwirken [4].

Bliebe Frau S. im akuten Stadium ihrer globalen Überforderung unbegleitet, erhöhte sich die Gefahr nachhaltiger Belastungsfolgen und resultierender Belastungsstörungen bis hin zur chronischen posttraumatischen Belastungsstörung, die für Betroffene hohe Verluste an Lebensqualität bedeutet und deren Behandlung immense Kosten verursachen kann.

Gleiches gilt natürlich auch für andere Personengruppen im Krankenhaus. Auch die Mitarbeitenden eines Krankenhauses haben zunehmend komplexe, nicht selten kritische Ereignisse in ihrem Dienstalltag zu bewältigen.

Im Falle des verstorbenen Herrn S. mögen hier die unerfahrene Pflegekraft, deren erste Reanimation eines polytraumatisierten Notfallpatienten nicht zum gewünschten Ergebnis führt oder der junge Assistenzarzt, der die Todesnachricht an die verzweifelte Frau S. überbringen muss, nachhaltig belastende Eindrücke aufnehmen, die hohe Anforderungen an ihre Bewältigungsressourcen stellen. Die Arbeit der Kriseninterventionshelfer entlastet die Behandlungsteams mittelbar und unmittelbar [5].

Die positive Wirkung von Kriseninterventionsteams entfaltet sich dann, wenn die Systeme im Krankenhaus reibungslos ineinandergreifen. So sollten die Handlungsalgorithmen mindestens der Zentralen Notaufnahmen und der Intensivstationen die Frage nach der Indikation und der rechtzeitigen Aktivierung einer Krisenintervention ebenso beinhalten wie die Abfrage lebensnotwendiger Körperfunktionen. Pflegende und Ärzte der Zentren sollten die Alarmierungswege kennen und die Arbeitsweise der Interventionskräfte, die bei der Bewältigung ihrer Aufgaben ihrerseits auf die Unterstützung der behandelnden Berufsgruppen angewiesen sind. Die Einsatzkräfte der klinischen Interventionsteams sollten gute Orts- und Strukturkenntnisse besitzen und in den involvierten Berufsgruppen vernetzt sein. Die Geschäftsführung des Krankenhauses sollte die wirtschaftliche Existenzsicherung der Teams gewährleisten und deren Gesunderhaltung aktiv und umfänglich unterstützen. Weitere zahlreiche interne Schnittstellen und Systeme der Klinik, von der Telefonzentrale bis zur Krankenhausseelsorge, sollten Kooperation gewährleisten und die Kriseninterventionsteams selbst enge Kontakte etwa zu den umliegenden externen Notfallseelsorgesystemen pflegen.

Fallbeispiel – Fortsetzung

Frau S. erhielt nach kurzer Zeit Unterstützung durch eine professionelle Einsatzkraft des Kriseninterventionsteams der Klinik, sie konnte sich nach und nach beruhigen, dem Arztgespräch aktiv folgen und alle für sie in der Situation wichtigen Fragen stellen. Sie durfte sich in Begleitung der Einsatzkraft von ihrem verstorbenen Ehemann angemessen verabschieden. Obwohl der Leichnam von Herrn S. als nichtnatürlicher Sterbefall klassifiziert worden war, stimmten die ermittelnden Polizeibeamten auf Vermittlung der Einsatzkraft einer Verabschiedung zu. Nach wenigen Stunden konnte Frau S. ihr eigenes soziales Netzwerk aktivieren, Freunde und Verwandte telefonisch informieren, die sie aus der Klinik abholten und die nächsten Tage mit ihr verbrachten.

Die Einsatzkraft wird anschließend mit dem Behandlungsteam Gespräche führen, Fragen zum Belastungsempfinden stellen und entlastende Gespräche anbieten. Dann endet der psychosoziale Unterstützungseinsatz auch für sie.

Im Vergleich zu den „klassischen“ lebensrettenden Maßnahmen in der Akutsituation fokussiert die Psychosoziale Akuthilfe auf die Prävention schwerwiegender psychischer Belastungsfolgestörungen für Patient*innen, Angehörige und Mitarbeiter*innen. Klinische Krisenintervention sollte daher als wichtiger ergänzender Bestandteil der Klinischen Akut- und Notfallmedizin betrachtet und deren zukünftige Professionalisierung und Standardisierung weiter vorangetrieben werden.



Publication History

Article published online:
02 October 2024

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