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DOI: 10.1055/a-2385-4453
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Künstliche Intelligenz – Freund oder Feind der Patientenbeobachtung? Eine subjektive Betrachtung
„2023 – Das Jahr, in dem wir Kontakt aufnahmen“ – so ist eine Folge von „Die Profis“ betitelt, die in der ARD-Mediathek zu finden ist. Der Titel lehnt sich an dem Filmklassiker „2010: Das Jahr, in dem wir Kontakt aufnehmen“ an [1]. In der Podcast-Folge war die Kontaktaufnahme der Menschheit mit der Künstlichen Intelligenz (KI) gemeint. Dies ist passend, denn im besagten Film spielt die KI des Bordcomputers HAL 9000 eine zentrale Rolle. Dieser Film und der Vorgänger „2001 – Odyssee im Weltraum“ basieren auf Geschichten von Sir Arthur C. Clarke. Er war im ersten Leben Physiker und gilt als technischer Visionär [2].
Die Wissenschaft der KI gibt es schon seit den 1950er-Jahren. Aus diesen Tagen ist die bemerkenswerte Vorstellung überliefert, dass man das Problem der KI sicher in den nächsten zehn Jahren gelöst haben würde [3]. Es sollte noch ein Dreivierteljahrhundert dauern, bis man mit einer Maschine ein nahezu echt wirkendes Gespräch führen konnte. ChatGPT hatte schlagartig unsere Sicht auf die Möglichkeiten der KI verändert. Nicht zuletzt, weil sie kostenlos jeder Person mit Internetzugang zur Verfügung steht. Damit gelangte die KI heraus aus den Labors und hinein in die Handys.
KI-gestützte Anwendungen drängen in die medizinische Domäne. Nur zu naheliegend ist beispielsweise die Umsetzung von Algorithmen für Therapievorschläge oder für Warnungen in bestimmten Situationen. Diese Anwendungen unterliegen hohen regulatorischen Anforderungen, da es sich in der Regel um Medizinprodukte handelt – diesem Aspekt können wir im Folgenden nicht weiter nachgehen, er sei aber der Vollständigkeit halber erwähnt [4].
Bereits in den 1970er-Jahren konnte man mittels eines Pulmonaliskatheters das Herzzeitvolumen messen. Der dazugehörige Monitor war noch Anfang der 2000er-Jahre groß und schwer. Der Bildschirm zeigte eine Trendkurve und orange Zahlen auf schwarzem Grund. Heute wird ein Vielfaches von Parametern aus dem Monitoring errechnet. Die Displays sind groß, bunt und visualisieren Daten und deren Interpretation. So finden sich aufflammende Kreise mit Prozentangaben und ikonografische Patienten, in denen virtueller Schnee rieselt, wenn die Körpertemperatur zu niedrig ist. All diese technischen Errungenschaften dienen dazu – so hört man die Hersteller –, möglichst schnell und intuitiv alles Wichtige über den Patienten zu erfassen [5].
In unserem heutigen Informationszeitalter ist eine Steigerung der Effizienz der Datenwahrnehmung dringend geboten [6]. Es prasseln nahezu permanent Informationen auf uns ein – privat wie beruflich. Und nicht zuletzt sind die klinischen Dokumentationssysteme in der Lage, in kurzer Zeit mitunter mehr als das Hundertfache an Daten zu speichern und anzuzeigen als zur Zeit der Papierakte [7]. Wie soll unser Gehirn, das die digitale Revolution evolutionär nicht mitgemacht hat, all diese Informationen verstoffwechseln?
Ein kurzer Blick zurück: Früher (als noch alles besser war) hatten wir das alles nicht. Da galt es, aus ein paar Parametern den Zustand des Patienten abzuschätzen. „Der wird septisch!“, so das Zitat einer erfahrenen Intensivpflegekraft nach einem Aufenthalt von wenigen Sekunden im Patientenzimmer. Frage: „Warum?“ Antwort: „Das sieht man.“ Was ist hier passiert? Auf den Monitoren und Beatmungsgeräten zeigen sich bei einem flüchtigen Blick nur ein paar ungeordnete Kurven. Aber sie transportieren bei genauerer Betrachtung weitere Informationen. Allein die Abstände der QRS-Komplexe lassen abschätzen, ob ein Patient tachy- oder bradykard ist, ohne dass man die Herzfrequenz bewusst ablesen müsste. Ist die ZVD-Kurve veratmet? Ist der Patient laut Flowkurve obstruktiv? Das Gesamtbild der Kurven triggert im Bruchteil einer Sekunde eine Mustererkennung und lässt den Zustand des Patienten einschätzen. Intuition ist der Zugriff auf verborgenes Wissen [8]. Selbst differenzierte Abschätzungen über den Kreislauf wie Volumenmangel oder Katecholaminbedarf sind grundsätzlich möglich.
Diese Mustererkennung hat man nun den Maschinen beigebracht, damit sie in weiten Teilen zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Geben wir hier eine Kompetenz aus den Händen, die eigentlich im Zentrum unserer klinischen Einschätzung liegt? Sind „wir“ (Generation 40+) die Letzten, die aus wenigen verzitterten Monitorkurven weitreichende Schlüsse über den Zustand des Patienten ziehen können?
Jetzt müsste eigentlich ein Absatz „Was früher einmal war“ kommen, in dem steht, dass wir a) früher nichts hatten und uns auf wenige Daten verlassen mussten und b), dass wir noch den richtigen Kontakt zum Patienten hatten und sich die „jungen Leute“ stattdessen der Technik völlig ausliefern. Was hat eigentlich die damalige 40+-Generation gedacht, als wir jung und unerfahren waren? Oder die Generation davor? Ein Blick in die Geschichte der Krankenbeobachtung offenbart Überraschendes.
Es sei ein reifer Stationsleiter einer Intensivstation erwähnt, der es in den 1990er-Jahren völlig sinnfrei fand, dass seit Neuestem der Rettungsdienst den SpO2 misst. Wegen einer niedrigen Sättigung würden Patienten intubiert und auf die ICU gebracht, die es gar nicht nötig hätten. Und davor? Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts wurde das Stethoskop kurz nach seiner Erfindung zunächst zum Gegenstand von Witzen und Spott [9]. Sind „wir“ jetzt die Generation, die die KI im Patientenmonitor genauso kritisch sieht wie alle „Alten“ vor uns die Neuerungen ihrer Zeit? Die Antwort lautet „Ja“ – und zwar mit der gleichen Intention wie die Alten zuvor. Hat nicht jedes technische Tool uns zunächst ein Stückchen weiter weg vom Patienten gebracht? Statt das Ohr an den Brustkorb zu legen, war nun ein Rohr zwischen Arzt und Patient. Der Erfinder Laënnec entdeckte allerdings, dass man mit dem Gerät viel mehr hörte! Trotz Distanz tauchte er nun „tiefer“ in den Patienten ein. Ist dies nicht mit jeder Überwachungsmöglichkeit ähnlich? Maß man nicht mehr den Puls am Handgelenk, sondern ließ die Herzfrequenz vom Monitor errechnen, hatte man den Zusatznutzen eines EKG. Und heute? In Echtzeit werden aus der Vielzahl von Daten weitere Parameter extrapoliert und für die unerfahrenen Kollegen interpretiert. Verhindert das wirklich, Muster über die Jahre zu erkennen? Dieses Erkennen ist sicher ein Prozess, der viel Zeit braucht, um erlernt zu werden.
Am Ende sieht man einen Patienten kaltschweißig, mit konzentriertem Urin im Beutel und halluzinierend im Bett liegen. „Der wird septisch. Das sieht man.“ Wer nicht auf den Monitor schaut, kann auch nicht auf die KI schauen. Aber Monitor und KI haben beide das Potenzial, das es zu heben gilt. Mögen wir mit all den neuen technischen Verfahren ein Stück tiefer in das Geheimnis des Patientenzustands eintauchen und lernen, den Patienten zu verstehen. Das führt uns zurück zu A. C. Clarke und das letzte seiner drei Gesetze: „Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden“ [10]. Und magisch ist auch eine auf viel Erfahrung basierende Intuition.
Autor: Richard Zoller, Pflegekoordinator der Uniklinik Bonn, Stabsstelle Medizinisch-Wissenschaftliche Technologieentwicklung und -koordination (MWTek)
Publication History
Article published online:
08 November 2024
© 2024. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
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Literatur
- 1 „Künstliche Intelligenz 2023 – Das Jahr, in dem wir Kontakt aufnahmen“. ARD Audiothek. Im Internet. t1p.de/yb1ej Stand: 09.09.2024
- 2 „Sir Arthur Clarke named recipient of 2004 Heinlein Award“. The Heinlein Society. Im Internet. t1p.de/z9oc2 Stand: 09.09.2024
- 3 Simon HA, Newell A. Heuristic problem solving: The next advance in operations research. Oper Res 1958; Vol. 6 Nr. 1 1-10
- 4 „Künstliche Intelligenz (KI) in Medizinprodukten“, TÜV SÜD Online unter. t1p.de/fpzf5 Stand: 09.09.2024
- 5 „Inspiriert durch die Luftfahrt: Der Visual Patient Avatar von Philips verbessert am Universitätsklinikum Bonn (UKB) die klinische Entscheidungsunterstützung im OP“. Philips; 2023. Im Internet: t1p.de/82tqw; Stand: 09.09.2024
- 6 Quinn M, Forman J, Harrod M. et al Electronic health records, communication, and data sharing: Challenges and opportunities for improving the diagnostic process. Diagnosis (Berl) 2019; 6 (03) 241-8
- 7 Zoller R, Weiß C, Kießling PJ. et al Einfluss der digitalen Dokumentation auf die Arbeitszeit und den Arbeitsablauf auf der Intensivstation. Pflege 2024; 37 (03) 159-67
- 8 Leodolter W. Verhaltenspsychologische und kognitionswissenschaftliche Betrachtungen. In: Leodolter W (Hrsg.). Das Unterbewusstsein von Organisationen: Neue Technologien – Organisationen neu denken. Berlin, Heidelberg: Springer; 2015: S. 9-21
- 9 Donoso AF, Arriagada D. René Théophile Hyacinthe Laënnec (1781–1826). Two hundred years of the stethoscope. A brief overview. Arch Argent Pediatr 2020; 118 (05) e444-e448
- 10 Clarke AC. Profiles of the future; an inquiry into the limits of the possible. Rev. ed New York: Harper & Row; 1973