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DOI: 10.1055/a-2407-6298
Die Förderung psychischer Gesundheit und Primärprävention psychischer Störungen – ein Zukunftsthema
Prevention of mental disorders – a future topicNicht neu, aber aktuell
Psychische Störungen sind in der Bevölkerung häufig und folgenschwer, für den Einzelnen und für die Solidargemeinschaft. Zudem gibt es ein erhebliches Präventionspotenzial. Die drei Fakten – Häufigkeit, Folgenschwere und ein vorhandenes Präventionspotenzial – machen die Förderung psychischer Gesundheit und die Prävention psychischer Störungen zu einem zentralen Thema. Das Thema ist nicht neu, aber brandaktuell. Der Volksmund weiß es schon lange: Vorbeugen ist besser als heilen. Schon die Enquête zur Lage der Psychiatrie 1975 widmet der Primärprävention psychischer Störungen ein eigenes Kapitel [1]. Die WHO konstatiert 2005, dass es keine Gesundheit ohne psychische Gesundheit gibt. Das Thema bekommt durch große gesellschaftliche Entwicklungslinien, die auch als Megatrends beschrieben werden, einen weiteren Bedeutungszuwachs. Wir sprechen dann von einem Megatrend, wenn dieser eine gewisse Dauer hat, allgegenwärtig und vom Charakter her globaler ist, auch wenn konkrete Entwicklungen in verschiedenen Kulturen unterschiedlich verlaufen können. Megatrends werden daher auch als Tiefenströmungen des Wandels bezeichnet [2].
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Beispielhaft sollen hier vier Megatrends herausgegriffen werden, um deren Implikationen für die psychische Gesundheit der Bevölkerung aufzuzeigen. Ein solcher Megatrend ist die Individualisierung. Mit dem Weg von der Fremdbestimmung und damit auch eingebettet sein in feste Strukturen hin zur Selbstbestimmung sind Herausforderungen verbunden und damit auch ein erhöhtes Risiko für Einsamkeit und soziale Isolation. Eine aktuelle Metaanalyse von Park et al. (2020) zeigt, dass Einsamkeit insbesondere Auswirkungen auf die psychische Gesundheit hat [3]. Der Megatrend Silver Society beschreibt den demografischen Wandel mit mehr älteren und im gleichen Zuge weniger jungen Menschen in der Gesellschaft. Demenzerkrankungen werden zu einer Herausforderung für alternde Gesellschaften. Der jüngst erschienene Report der Lancet Commission zur Prävention, Behandlung und Pflege räumt der Demenzprävention den ihr entsprechenden Raum und damit Priorität ein [4]. Neue Entwicklungen in der Arbeitswelt, oft auch als ‚New Work‘ bezeichnet, bringen Herausforderungen, aber auch Chancen für die psychische Gesundheit mit sich [5]. Ähnliches gilt für den Megatrend Konnektivität. Wir wissen, dass bestimmte Formen der Mensch-Maschine Interaktionen zum Erleben von Stress führen können. Erste Ergebnisse von Studien legen nahe, dass sich bestimmte Arten von Techno-Stress bei der Arbeit ungünstig auf die psychische Gesundheit auswirken können [6]. Gleichzeitig können digitale Technologien aber auch positive Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden von Tätigen haben, wenn diese z. B. eine bessere Arbeitsorganisation ermöglichen. Zudem bergen digitale Möglichkeiten auch skalierbare Chancen zur Förderung der psychischen Gesundheit z. B. im Rahmen von internet- und mobilbasierten Interventionen.
Breite Wissensbasis
Wir haben eine substanzielle Wissensbasis zu den Risiko- und Schutzfaktoren psychischer Störungen. Dabei gibt es allgemeine Risikofaktoren, die für die große Mehrheit der psychischen Störungen gelten, wie zum Beispiel Kindheitstraumata oder soziale Isolation. Wir kennen zudem auch ganz spezifische Risikofaktoren für bestimmte Krankheitsentitäten. So erhöht zum Beispiel der Cannabisgebrauch nachweislich das Psychose-Risiko. Verschiedene Risikofaktoren, aber auch Schutzfaktoren, treffen auf Individuen mit einer mehr oder weniger großen Vulnerabilität. Modellvorstellungen zu den Ursachen von psychischen Störungen, wie beispielsweise die Vulnerabilitäts-Stress-Modelle, verdeutlichen die Möglichkeiten von Prävention. Kenntnisse zu den modifizierbaren Risiko- und Schutzfaktoren sind die Grundlage für die Entwicklung von Maßnahmen und Programmen zur Prävention psychischer Störungen und zum Erhalt der psychischen Gesundheit.
Präventionsmaßnahmen können dabei bevölkerungsweit als universelle Prävention oder bei bestimmten Zielgruppen ansetzen. Bevölkerungsweite Maßnahmen möchten eine verbesserte psychische Gesundheit für alle erreichen. Beispiele dafür sind schulbasierte Suchtpräventionsprogramme. Metaanalysen zeigen deren Wirksamkeit, insbesondere wenn sie interaktiv gestaltet sind, auf die Entwicklung von Lebenskompetenzen abzielen und über einen längeren Zeitraum durchgeführt werden [7]. Diese Programme setzen am Verhalten der Kinder und Jugendlichen an und sind somit der Verhaltensprävention zuzuordnen. Verhältnispräventive Maßnahmen sind zum Beispiel Gesetze und Regelungen, die den Zugang zu Alkohol und Drogen einschränken. Maßnahmen wie Preiserhöhungen, Altersgrenzen, Verkaufsbeschränkungen und Werbebeschränkungen tragen dazu bei, den Konsum von Alkohol und Tabak zu senken und dadurch die damit verbundenen Schäden zu verringern [8] [9]. Im Gegensatz zu bevölkerungsweiten Maßnahmen fokussiert ein Risikoansatz auf Zielgruppen. Das können Zielgruppen sein, die keine Symptome aufweisen (selektive Prävention) oder schon erste Symptome zeigen (indizierte Prävention). So richten sich selektive Präventionsmaßnahmen an spezifische Bevölkerungsgruppen, die ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer psychischen Erkrankung aufweisen, wie zum Beispiel Kinder psychisch erkrankter Eltern, Menschen mit einer Krebserkrankung, Frauen nach der Entbindung oder Patient:innen nach einem Schlaganfall. Indizierte Prävention zielt auf definierte Risikogruppen, zum Beispiel auf Menschen mit ersten subklinischen Symptomen wie sie für die Prodromalphase der Schizophrenie typisch sind [10].
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Evaluation und Implementierung
In all diesen Bereichen der universellen, selektiven und indizierten Prävention gibt es wirksame Programme, die zeigen, dass die Förderung psychischer Gesundheit und die Prävention möglich ist. So konnten Metaanalysen [11] [12] zeigen, dass universelle, selektive und indizierte Präventionsansätze signifikante Effekte auf die Reduktion depressiver Symptome haben und die Inzidenz von depressiven Störungen um ca. 20% reduzieren. Die Evaluation der Maßnahmen und Programme sind unabdingbar. Viele präventive Interventionen haben ihre Wirksamkeit in randomisierten kontrollierten Studien (RCTs) gezeigt. Dies gelingt bei selektiven und indizierten Programmen naturgemäß einfacher im Rahmen von RCTs. Gleichzeitig ist dieser Studientyp, der als Goldstandard der Evidenzbasierung in der Medizin gilt, nicht in allen präventiven Kontexten ethisch und methodisch möglich und sinnvoll. Eine Bandbreite an Studiendesigns ist hier notwendig. Und nicht zuletzt ist eine Implementierung dieser Interventionen zwingend. So wie sich neue und bessere Behandlungsmethoden nicht von selbst verbreiten, finden auch präventive Interventionen selten von selbst zu den Menschen. Systeme sind träge und es bedarf Anstrengungen, um präventive Maßnahmen und Programme auszurollen. Die Implementierungsforschung kann hier einen Beitrag leisten, der bis jetzt kaum ausgelotet ist.
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Desiderate
Diese gesamtgesellschaftlichen Entwicklungslinien machen deutlich, dass sich Risiken verändern. Deshalb brauchen wir weiterhin hochwertige populationsbasierte Forschung und zudem aktuelle zeitnahe Daten zur Veränderung der psychischen Gesundheit in der Bevölkerung. Die Mental Health Surveillance des Robert-Koch Instituts ist hier beispielhaft [13]. Die gesellschaftlichen Entwicklungslinien und die damit verbundenen Herausforderungen machen deutlich, dass wir langfristig und nachhaltig in Forschung und Praxis der Prävention investieren müssen. Das gilt für die Forschung zu Risiko- und Schutzfaktoren, für die Programmentwicklung, die Evaluation und die breite Implementierung gleichermaßen. Dazu bedarf es gemeinsamer Anstrengung von Wissenschaft, Praxis und Politik, sowohl auf Bundes- als auch auf Landes- und kommunaler Ebene. Mental Health in and for All Policies (MHiAP) ist ein wichtiges Ziel [14]. Public Mental Health muss als Kernstück von Public Health begriffen werden [15], damit die Förderung psychischer Gesundheit und Primärprävention psychischer Störungen einen Platz einnimmt, der ihrer Bedeutung entspricht.
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Interessenkonflikt
Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Literatur
- 1 Deutscher Bundestag, 7. Wahlperiode, Drucksache 7/4200. Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland - Zur psychiatrischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen Versorgung der Bevölkerung -. Im Internet https://dserver.bundestag.de/btd/07/042/0704200.pdf Stand: 28.08.2024
- 2 Zukunftsinstitut. Die Megatrends (11.12.2023). Im Internet https://www.zukunftsinstitut.de/zukunftsthemen/megatrends Stand: 28.08.2024
- 3 Park C, Majeed A, Gill H. et al. The Effect of Loneliness on Distinct Health Outcomes: A Comprehensive Review and Meta-Analysis. Psychiatry Res 2020; 294: 113514
- 4 Livingston G, Huntley J, Liu KY. et al. Dementia prevention, intervention, and care: 2024 report of the Lancet standing Commission. Lancet 2024; 404: 572-628
- 5 Löbner M, Riedel-Heller SG. Die Prävention psychischer Störungen in der Arbeitswelt. Psychiat Prax 2024; 51: 5-8
- 6 Dragano N, Riedel-Heller SG, Lunau T. Haben digitale Technologien bei der Arbeit Einfluss auf die psychische Gesundheit?. Nervenarzt 2021; 92: 1111-1120
- 7 Porath-Waller AJ, Beasley E, Beirness DJ. A meta-analytic review of school-based prevention for cannabis use. Health Educ Behav 2010; 37: 709-723
- 8 Anderson P, Bruijn de A, Angus K. et al. Impact of alcohol advertising and media exposure on adolescent alcohol use: a systematic review of longitudinal studies. Alcohol Alcohol 2009; 44: 229-243
- 9 Hahn RA, Kuzara JL, Elder R. et al. Effectiveness of policies restricting hours of alcohol sales in preventing excessive alcohol consumption and related harms. Am J Prev Med 2010; 39: 590-604
- 10 Mei C, van der Gaag M, Nelson B. et al. Preventive interventions for individuals at ultra high risk for psychosis: An updated and extended meta-analysis. Clin Psychol Rev 2021; 86: 102005
- 11 van Zoonen K, Buntrock C, Ebert DD. et al. Preventing the onset of major depressive disorder: a meta-analytic review of psychological interventions. Int J Epidemiol 2014; 43: 318-329
- 12 Cuijpers P, van Straten A, Smit F. et al. Preventing the onset of depressive disorders: a meta-analytic review of psychological interventions. Am J Psychiatry 2008; 165: 1272-1280
- 13 Robert Koch Institut. Nationale Mental Health Surveillance (22.08.2024). Im Internet https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Studien/MHS/mhs_node.html Stand: 28.08.2024
- 14 Reininghaus U, Schomerus G, Hölling H. et al. Shifting the Curve“: Neue Entwicklungen und Herausforderungen im Bereich der Public Mental Health. Psychiat Prax 2023; 50: 160-164
- 15 Riedel-Heller SG, Reininghaus U, Schomerus G. Public Mental Health: Kernstück oder Stiefkind von Public Health?. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 2023; 66: 356-362
Korrespondenzadresse
Publication History
Article published online:
13 November 2024
© 2024. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
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Literatur
- 1 Deutscher Bundestag, 7. Wahlperiode, Drucksache 7/4200. Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland - Zur psychiatrischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen Versorgung der Bevölkerung -. Im Internet https://dserver.bundestag.de/btd/07/042/0704200.pdf Stand: 28.08.2024
- 2 Zukunftsinstitut. Die Megatrends (11.12.2023). Im Internet https://www.zukunftsinstitut.de/zukunftsthemen/megatrends Stand: 28.08.2024
- 3 Park C, Majeed A, Gill H. et al. The Effect of Loneliness on Distinct Health Outcomes: A Comprehensive Review and Meta-Analysis. Psychiatry Res 2020; 294: 113514
- 4 Livingston G, Huntley J, Liu KY. et al. Dementia prevention, intervention, and care: 2024 report of the Lancet standing Commission. Lancet 2024; 404: 572-628
- 5 Löbner M, Riedel-Heller SG. Die Prävention psychischer Störungen in der Arbeitswelt. Psychiat Prax 2024; 51: 5-8
- 6 Dragano N, Riedel-Heller SG, Lunau T. Haben digitale Technologien bei der Arbeit Einfluss auf die psychische Gesundheit?. Nervenarzt 2021; 92: 1111-1120
- 7 Porath-Waller AJ, Beasley E, Beirness DJ. A meta-analytic review of school-based prevention for cannabis use. Health Educ Behav 2010; 37: 709-723
- 8 Anderson P, Bruijn de A, Angus K. et al. Impact of alcohol advertising and media exposure on adolescent alcohol use: a systematic review of longitudinal studies. Alcohol Alcohol 2009; 44: 229-243
- 9 Hahn RA, Kuzara JL, Elder R. et al. Effectiveness of policies restricting hours of alcohol sales in preventing excessive alcohol consumption and related harms. Am J Prev Med 2010; 39: 590-604
- 10 Mei C, van der Gaag M, Nelson B. et al. Preventive interventions for individuals at ultra high risk for psychosis: An updated and extended meta-analysis. Clin Psychol Rev 2021; 86: 102005
- 11 van Zoonen K, Buntrock C, Ebert DD. et al. Preventing the onset of major depressive disorder: a meta-analytic review of psychological interventions. Int J Epidemiol 2014; 43: 318-329
- 12 Cuijpers P, van Straten A, Smit F. et al. Preventing the onset of depressive disorders: a meta-analytic review of psychological interventions. Am J Psychiatry 2008; 165: 1272-1280
- 13 Robert Koch Institut. Nationale Mental Health Surveillance (22.08.2024). Im Internet https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Studien/MHS/mhs_node.html Stand: 28.08.2024
- 14 Reininghaus U, Schomerus G, Hölling H. et al. Shifting the Curve“: Neue Entwicklungen und Herausforderungen im Bereich der Public Mental Health. Psychiat Prax 2023; 50: 160-164
- 15 Riedel-Heller SG, Reininghaus U, Schomerus G. Public Mental Health: Kernstück oder Stiefkind von Public Health?. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 2023; 66: 356-362