Zeitschrift für Palliativmedizin 2024; 25(06): 289
DOI: 10.1055/a-2414-0531
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Lebensliteratur

Ein Vaterbuch

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„Mein Vater, der immer lacht, der immer schwankt. Der mit dem längsten Sterben der Welt. Der lebendigste Tote, den es je gab. Der, dessen größtes Verdienst es ist, dass er trotz allem lebt. Der, auf dessen Tod ich mich gründlich vorbereitet hatte. Mein Vater. Der leise weint und sehr viel lacht. Der sehr oft schweigt. Und gerne erzählt … Mein Vater hat Krebs!“

So beginnt der autobiografische Roman „Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an“ von Mely Kiyak, einer deutschen Autorin mit kurdisch alevitischen Wurzeln.

Dieses Buch ist aus der Perspektive der Tochter geschrieben. Ungeheuer plastisch und berührend wird die Wut und Verzweiflung geschildert, die Trauer und die Angst vor dem nahen Abschied. Gleichzeitig aber herrscht Leben und Humor. Man schmunzelt, wenn der Vater Bett und Beet verwechselt und sich wundert, warum es ein Schild gibt, worauf steht, „dass die Patienten ihre Zigarettenstummel nicht ins Bett werfen sollen“. Eingestreut sind auch Abenteuergeschichten aus der kurdischen Heimat des Vaters, die von Entführungen, Blutfehde, Mord und Totschlag handeln, und im Stil der alten Geschichtenerzähler geschrieben sind.

Diese wechselnden Stimmungen, in die der Leser gemeinsam mit der Protagonistin eintaucht, machen diesen Text zu etwas ganz Besonderem, und spiegeln den palliativen Alltag wider.

Mit feiner Beobachtungsgabe wird der Krankenhaus-Aufenthalt, der eigentlich nur 3 Tage dauern sollte, und sich dann über Wochen hinstreckt, geschildert. „Aus meinem Vater, der morgens unter vitalem Protest ins Krankenhaus begleitet wurde, aus meinem Vater, der seine eigene Tasche tragen konnte, ist ein Kranker geworden, der nicht einmal mehr ein Wasserglas greifen kann. Und das nur, weil er ein Krankenhaus betreten hat. Für meinen Vater ist es das erste Krankenhaus seines Lebens.“

Eigentlich möchte der Vater sterben, einen schnellen und schmerzlosen Tod, so wie er es in den alten Geschichten von früher, seiner Tochter erzählt. In bedingungsloser Liebe kämpft die Tochter für ihren Vater, überredet ihn zur notwendigen Pleuradrainage und später zur Chemotherapie. Sie scheut nicht die Konfrontation mit dem Pflegepersonal und den Ärzten. Man würde die Tochter wohl mit dem Attribut „schwierige Angehörige“ versehen. „In diesem Krankenhaus wird viel therapiert und wenig kommuniziert. Darunter leidet er sehr. Er hat ein schlechtes Gewissen, weil er krank geworden ist und meint, mir damit zur Last zu fallen. Die Ärzte sagen oft „Zeit gewinnen“. Wenn er „Zeit gewinnen“ hört, denkt mein Vater sich: Warum hinauszögern, was auch schneller geht?“

Einzig der Spitals-Psychologe Hr. Wächter findet einen guten Draht zur Familie. „Fürsorglicher Belagerungszustand“, so beschrieb Hr. Wächter Vaters Situation. „Wir stehen ihm bei, obwohl er uns nicht bittet. Aber wir tun es aus Fürsorge.“

Mely Kiyak findet wunderbare Metaphern, um den Gefühlszustand, die Sprachlosigkeit der verzweifelten Tochter zu beschreiben, und hält uns gleichzeitig einen Spiegel vor, wie wir mit unserem „molekularem Geschwätz“ vielleicht das Hirn erreichen, aber nicht den Verstand.

„Es handelt sich bei uns im Krankenzimmer nicht um die vertraute Teestille. Was zwischen uns anschwillt, ist Sprachlosigkeit. Wie ein dicker, feuchter Nebel liegt sie zwischen uns und macht es mir unmöglich, zu meinem Vater durchzudringen.“

Im Sinne der narrativen Medizin kann man aus diesem Buch viele wertvolle Erfahrungen mitnehmen, die wesentliche palliative Themenbereiche ansprechen: interkulturelle Aspekte, Kommunikation, Trauer, Angst, Umgang mit Angehörigen, Humor und Hoffnung.

Bei aller Kritik an dem Gesundheitswesen, den Abläufen im Spital, den wenig empathischem, vor allem mit sich selbst beschäftigtem Krankenpflegepersonal und den um die richtigen Worte ringenden Ärzten, ist die Tochter auch zur Selbstreflexion und Selbstkritik fähig.

„Man ist so einfältig in seiner Liebe. Ich meinte behilflich zu sein und es stellt sich die berechtigte Frage, wem ich eigentlich behilflich bin außer mir selbst. „Papa, hör auf zu weinen“ – wie oft sage ich diesen Satz und warum bin ich Holzkopf nicht zu meinem Vater gegangen und habe ihn in den Arm genommen. Wenn er mit dem Weinen aufhörte, dann nicht, weil ich es befahl, sondern weil er fertig geweint hatte. Ich aber ging nach Hause und dachte, uff, war anstrengend, aber er hat aufgehört, was bin ich ein an Überzeugungskraft strotzendes Wunderkind.“

Kurzum ein Buch, dass man unbedingt gelesen haben sollte!

Otto Gehmacher, Hohenems



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Article published online:
04 November 2024

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