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DOI: 10.1055/a-2414-0548
Schärfung des Blicks
Fallerzählungen in Gestalt von schriftlichen Protokollen gehören in die Aus- und Weiterbildung von Krankenhausseelsorger*innen zur Selbstreflexion und Supervision. Die Fallerzählungen, die in Zertifizierungskursen „Medizinethik in der Klinikseelsorge“ an der Goethe-Universität Frankfurt am Main besprochen wurden, ließen die Idee zur vorliegenden Publikation entstehen. Fachpersonen aus Medizinethik, theologischer und philosophischer Ethik und aus der Pastoraltheologie kommentieren Fallberichte aus sechs Feldern ethischer Fragestellungen im Krankenhaus. Herausgeber oder Herausgeberin führen jeweils in die Themen ein.
1. Über die inzwischen wohl in den meisten Kliniken mit der Einrichtung von klinischen Ethikkomitees eingeführten ethischen Fallbesprechungen hinaus, die durch die vier ethischen Prinzipien Respekt vor Autonomie, Nicht-Schaden, Wohltun und Gerechtigkeit strukturiert werden, nimmt Care-Ethik die Konstellationen der Sorge-Beziehung in den Blick, die Haltung der Fürsorge zum Schutz und zur Förderung der menschlichen Würde (19). Seelsorgende bewegen sich in ihren Gesprächen und Begegnungen im Krankenhaus immer im Kontext ethisch bedeutsamer Fragen. Im Erzählen bringen Menschen ihre Erfahrungen und Bedürfnisse in einen Zusammenhang. Die Arbeit mit Narrativen ist Ausgangspunkt narrativer Ethik (NE). NE ist als hermeneutische Ethik am Verstehen interessiert (24). Sie „fragt danach, wie in den Erzählungen von Menschen, aber auch den Erzählungen einer Gemeinschaft oder Kultur ethische Orientierung Gestalt gewinnt“ (25). Auf der Basis des Mitgeteilten können Seelsorgende in therapeutischen Entscheidungssituationen ein hilfreiches, klärendes Gegenüber sein, dabei eine eigenständige ethische Reflexion der Situation vornehmen und Verantwortung für ein ethisch angemessenes Vorgehen übernehmen (31).
2. Die ersten beiden Fallgeschichten betreffen Schwangerschaftsabbrüche nach medizinischer Indikation. Vorangestellt sind die rechtlichen Rahmenbedingungen und das ethische Spektrum für die Entscheidungsfindung. Beide Fälle und die Kommentare decken auf, dass das medizinisch Machbare die Eltern hier quasi überholt hat. Die seelsorgliche Begleitung konnte nicht auffangen, was mit multiprofessioneller Beratung, dem Ausloten der Wertvorstellungen, möglicher Alternativen und ausreichend Zeit den Eltern eine bewusstere, tragfähigere Entscheidung ermöglicht hätte.
3. In der Kinder- und Jugendmedizin benötigen Behandlungsentscheidungen grundsätzlich die Zustimmung der Sorgeberechtigten; das Arzt-Patient-Verhältnis wird zu einer triangulären Konstellation (65). Seelsorge in der Neonatologie ist gefordert, die Eltern in ihrer existenziellen Ausnahmesituation zu begleiten und in der Kommunikation zur Seite zu stehen. Die Fallerzählungen und Kommentare beleuchten die prekäre Situation einer Mutter mit Fluchthintergrund, schwierige Kommunikation im Umgang mit einem sterbenden Kind und den spirituellen Weg einer Abschied nehmenden Mutter.
4. In der Psychiatrie entstehen ethische Konflikte im Spannungsfeld von Fürsorge und Respekt vor der Autonomie, von Einsichtsfähigkeit in medizinisch angezeigtes Handeln und dem Schutz vor Selbst- und Fremdgefährdung durch genehmigungspflichtige Maßnahmen. Die Kommentare spiegeln die Spannung von Vertrauensbildung und Übergriffigkeit, decken offene Fragen auf und gehen der Rolle der Seelsorgenden nach.
5. In der zunehmend evidenzbasierten Medizin können Konflikte durch die Option alternativer Behandlungen entstehen, die für die Patient*innen unterschiedliche Auswirkungen haben. Das Konzept der „partizipativen Entscheidungsfindung“ (PEF) (139) dient dazu, „in einem gemeinsamen Beratungsprozess … eine von beiden Seiten getragene Entscheidung zu erlangen“ (140). In der Schwierigkeit der Willensbildung kann Seelsorge, gerade weil sie nicht auf normative Bewertung aus ist, auf die existenziell relevante Lebenssituation und -geschichte eingehen, sodass im Erzählen und Abwägen gangbare Wege aufscheinen können.
6. Entscheidungen am Lebensende stehen im Kontext erweiterter medizinischer Möglichkeiten und im Kontext kultureller Werte (175). Dabei „sind Seelsorgende als „Expert*innen für Verletzlichkeit“ besonders gefragt“ (178). NE hilft zu verstehen, was für Patient*innen und ihr Umfeld bedeutsam ist und wie die Beteiligten im Krankenhaus den Menschen gerecht werden können (178f.).
7. Im letzten Kapitel werden Narrative daraufhin befragt, welche organisationalen Gegebenheiten sie abbilden. Gibt es eine Organisationsstruktur und -kultur, die Kommunikation und Lernen zulässt und in der Entscheidungen so getroffen werden, dass die Ethik der Organisation und die Organisation der Ethik sich wechselseitig zum Patient*innenwohl befördern (225)? Zum Profil der Klinikseelsorge gehört auch die Wahrnehmung und Reflexion organisationsethischer Sollbruchstellen.
Ein Verzeichnis der Falleinbringer*innen und Kommentator*innen beschließt das Buch. Die vielschichtige Analyse ethischer Fragen und die Reflexion der Narrative, die die Lesenden in den Prozess hineinnimmt, fördert die ethische Kompetenz aller im Krankenhaus Wirkenden und lädt dazu ein, diese multiprofessionell zu leben.
Ulrike Schilling, Kiel
Publication History
Article published online:
04 November 2024
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