Z Sex Forsch 2024; 37(04): 189-197
DOI: 10.1055/a-2451-8321
Originalarbeit

Trieb mit Bedeutung – Überlegungen im Anschluss an die Sigusch-Schmidt-Kontroverse[*]

Drive with Meaning – Reflections on the Sigusch-Schmidt Controversy
Aaron Lahl
1   Psychologische Hochschule Berlin
› Author Affiliations

Zusammenfassung

Einleitung Der Trieb gehört zu den provokantesten und umstrittensten Annahmen der Psychoanalyse. Im deutschsprachigen sexualwissenschaftlichen Diskurs stehen Gunter Schmidt mit seiner kritischen Historisierung des Triebkonzepts und Volkmar Sigusch mit seinem „Lob des Triebes“ exemplarisch für zwei widerstreitende Positionen zum Triebkonzept.

Forschungsziele Der Beitrag möchte die seit Mitte der 1970er-Jahre und bis in die jüngere Vergangenheit geführte Debatte zwischen Schmidt und Sigusch rekonstruieren und dabei konzeptuelle Unklarheiten und Missverständnisse auf beiden Seiten herausarbeiten. Letztlich geht es dabei um das fragliche gesellschaftskritische Potenzial des Triebbegriffs.

Methoden Es wird zwischen einer psychologisch-konzeptuellen und einer zeitdiagnostischen Ebene in der Debatte differenziert und es werden zentrale Argumente Schmidts und Siguschs auf diesen Ebenen herausgearbeitet. Zur Frage der von Sigusch und Schmidt nur ungenügend theoretisierten Dialektik von Sexuellem und Nicht-Sexuellem wird Jean Laplanches „ Allgemeine Verführungstheorie“ in die Debatte eingebracht.

Ergebnisse Schmidt kritisiert ein vereinfachtes Konzept des Triebes, wenn er einen Gegensatz von Trieb und Bedeutung behauptet. Seine Kritikpunkte laufen gegen einen dialektischen Triebbegriff im Anschluss an Sigusch und Laplanche ins Leere. Die zeitdiagnostischen Differenzen zwischen den liberal-optimistischen Einschätzungen Schmidts und den pessimistischen Urteilen Siguschs lassen sich als Konsequenzen aus der ursprünglich differenten Konzeption sexueller Motivation verstehen. Beide Diagnosen werden als vereinfacht problematisiert.

Schlussfolgerung Der Artikel schließt mit einem Plädoyer für den Trieb als Grundbegriff einer kritischen Sexualwissenschaft, in dessen Konzeption theoretische Impulse sowohl von Schmidt als auch Sigusch aufgenommen werden.

Abstract

Introduction The drive is one of the most provocative and controversial assumptions in psychoanalysis. In the German-speaking sexual science discourse, Gunter Schmidt’s critical historicization of the concept of the drive and Volkmar Sigusch’s “Praise of the Drive” are two exemplary opposing positions on the concept of drive.

Objectives The aim of this article is to reconstruct the debate between Schmidt and Sigusch from the mid-1970s to the recent past, and to identify conceptual ambiguities and misunderstandings on both sides. Ultimately, the focus is on the socio-critical potential of the concept of drive.

Methods A distinction will be made between the psychological-conceptual and the social-diagnostic levels of the debate, and Schmidt’s and Sigusch’s central arguments will be discussed on these levels. Jean Laplanche’s “General Theory of Seduction” is introduced into the debate on the question of the dialectic of the sexual and the non-sexual, which is insufficiently theorized by Sigusch and Schmidt.

Results Schmidt criticizes a simplified concept of drive when he claims a contrast between drive and meaning. His points of criticism run into nothing against a dialectical concept of drive following Sigusch and Laplanche. The differences in the diagnosis of contemporary society between Schmidt’s liberal-optimistic assessments and Sigusch’s pessimistic judgments can be understood as consequences of the originally different conceptions of sexual motivation. Both diagnoses are problematized as oversimplified.

Conclusion The article concludes with a plea for the drive as a basic concept of a critical sexual science, in whose conception both Schmidt’s and Sigusch’s theoretical impulses are incorporated.

Fußnoten

* Überarbeitete Version eines Vortrags im Rahmen des Workshops „Kritische Sexualforschung“ (15. – 17.2.2024) am Frankfurter Institut für Sozialforschung.




Publication History

Article published online:
04 December 2024

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Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

 
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