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DOI: 10.1055/a-2452-8811
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Schulabsentismus, Trennungsangst, Autismus, Depression, Störungen des Sozialverhaltens und viele andere Störungsbilder in der Kinder- und Jugendpsychiatrie stellen uns immer wieder vor die Herausforderung der frühzeitigen, effektiven Behandlung, welche möglichst langfristig trägt. Ziel einer jeden Behandlung muss neben fundierter Diagnostik das Erreichen und Erhalten eines guten psychosozialen Funktionsniveaus sein, um mögliche Chronifizierungen zu verhindern. Hierbei spielt die Wahl des Settings eine entscheidende Rolle.
Nur wenige Länder verfügen über derart umfangreiche Möglichkeiten zu vollstationärer kinder- und jugendpsychiatrischer und -psychotherapeutischer Behandlung im Krankenhaus wie Deutschland. Gerade in Zeiten knapper Ressourcen im Gesundheitssystem, sowohl was finanzielle Mittel als auch Fachkräfte unterschiedlicher Berufsgruppen angeht, muss nach effizienten Ressourcen gesucht werden, wie Kinder und Jugendliche ihre Entwicklungsaufgaben in ihrem natürlichen Umfeld meistern und psychische Störungen vor Ort behandelt werden können. Hier ist die Einführung einer „stationsäquivalenten Behandlung“ (StäB) eine Option. StäB verfolgt die Idee, dass nicht der Patient ins Krankenhaus kommt, sondern das multiprofessionelle therapeutische Team aufsuchend zum Patienten. Das ermöglicht unter anderem einen deutlich stärkeren Einbezug der Familie, verbessert den Transfer in den Alltag und spart ein 3-Schicht-System im Pflege- und Erziehungsdienst. StäB grenzt sich von ambulanten Einzelleistungen dadurch ab, dass nicht einzelne Hausbesuche stattfinden, sondern das Team sich tagesaktuell auf Augenhöhe zur Behandlung austauscht, so dass ähnlich wie auf einer Station im Krankenhaus gemeinsam mit verschiedenen Blickwinkeln, berufsgruppenübergreifend ein Thema bearbeitet werden kann, das im Einzel- oder Familiengespräch aufgekommen ist.
Während StäB voraussetzt, dass eine vollstationäre Behandlungsindikation besteht und deshalb tägliche Kontakte erfolgen müssen, zielen innovative neue Behandlungsformen, welche ebenfalls eine multiprofessionelle aufsuchende Behandlung im Team etablieren, darauf ab, die Intensität der angebotenen Kontakte an den tatsächlichen Bedarf der Familien anzupassen, so dass eine schrittweise Verantwortungsübergabe an die*den Patient*in bzw. das familiäre System erfolgen kann. So werden nicht nur die Bedürfnisse der Familie und der Patienten individuell in den Blick genommen, es ist auch die bisher vorprogrammierte Bruchkante zum Zeitpunkt des Abschlusses einer StäB (als einer sehr intensiven Versorgungsform mit 7 Terminen pro Woche) mit Abgabe der Behandlung an die weitere ambulante Versorgung (mit i.d.R. 1 Termin/Woche) besser aufzufangen.
Bisher konnten niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater*innen über die Sozialpsychiatrie-Vereinbarung (SPV) ein Entgelt für die Koordination komplexerer Fälle im Team mit nicht-ärztlichen Therapeut*innen erhalten, um gut verzahnte ambulante Behandlungen zu ermöglichen. Die neue Richtlinie des gemeinsamen Bundesausschusses zur Komplexbehandlung (koordinierten, strukturierten, berufsgruppenübergreifenden Behandlung) schwerer psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen (KSVpsych-RL) zielt darauf ab, noch einen Schritt weiterzugehen und Netzwerke mit einem Bezugsarzt/-ärztin/-therapeut/-therapeutin zu fördern, in die mehrere Leistungserbringer eingebunden sind. Eine verbesserte Vernetzung des medizinischen und des Jugendhilfesystems dürfte hierbei auch eine wesentliche Rolle spielen. Die Abstimmung im Rahmen der SPV-Pauschale oder zukünftig einer Komplexbehandlung bleibt jedoch naturgemäß deutlich hinter der tagesaktuellen Abstimmung in einem eingespielten therapeutischen Team wie bei StäB oder in der Terminhäufigkeit dosierbaren aufsuchenden multiprofessionellen Behandlung zurück.
Allen gemein ist es, das Funktionsniveau der Patientinnen und Patienten im natürlichen Umfeld bestmöglich zu erhalten und zu fördern. Erkrankungen, bei denen der Einbezug des häuslichen Umfelds in die Behandlung indiziert ist, wie z.B. bei Schulabsentismus mit Trennungsangst, stellen somit eine klare Indikation für eine aufsuchende, flexible, multiprofessionelle Behandlung dar. Es können zu Hause Schulängste zunächst in Einzelgesprächen aufgegriffen, die nötigen Hilfestellungen für einen gelingenden Schulbesuch durch die Eltern in engmaschigen Elterngesprächen besprochen und die erste Anbahnung des Schulbesuchs und damit auch Angstexposition durch Schulbegleitung vom Team aufgegriffen werden, um so einen dauerhaften Schulbesuch sicherzustellen und Rückfälle nach Schulferien oder Krankheitszeiten zu vermindern.
Der enge Einbezug der Eltern in die Behandlung sowie Kompetenzzugewinn der Eltern wurde in bisherigen Studien so auch als ein Hauptwirkfaktor von aufsuchenden Behandlungsmodellen dargestellt. Eltern sollten in keinem Fall kategorisch als wahrscheinliche Ursache der Probleme angesehen, sondern differenziert betrachtet und nach Möglichkeit in die Behandlung eingebunden werden. Dabei spielen Elterntrainings, die in verschiedenen Formaten angeboten werden können, eine wesentliche Rolle.
Neben therapeutischen Fortschritten stellt aber auch eine angemessene Psychoedukation und eine realistische Erwartungshaltung hinsichtlich notwendiger Anpassungen des Umfelds an spezifische Bedürfnisse der Patient*innen, einen typischen Aspekt kinder- und jugendpsychiatrischer Arbeit dar, weswegen gerade bei Patientengruppen, welche individualisierte Behandlungskonzepte erfordern, aufsuchende Behandlungsformen mitgedacht werden sollten.
In dieser Ausgabe KJP up2date werden alle diese Themen aufgegriffen und in ihren Grundsätzen beleuchtet. Anzumerken ist, dass – neben den vorgestellten Störungsbildern und Beispielfällen – (fast) alle Krankheitsbilder der KJPP bei Bereitschaft zu kreativem Denken, Motivation der Familie und der Patienten, flexiblem Einsatz möglicher Behandlungselemente und Individualisierung des Therapieplans in aufsuchenden Behandlungsmodellen behandelbar sind.
Publication History
Article published online:
27 January 2025
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