Z Sex Forsch 2025; 38(01): 57-58
DOI: 10.1055/a-2495-4594
Buchbesprechung

Deviant Opera. Sex, Power, and Perversion on Stage

Christiane Plank-Baldauf
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Axel Englund. Deviant Opera. Sex, Power, and Perversion on Stage. Oakland, CA: University of California Press 2020. 280 Seiten, USD 32,95

Oper wird meist als Drama der Affekte beschrieben, ohne dabei die jeweiligen Machtkonstellationen und Beziehungsebenen mitzudenken. Dieser Fragestellung widmet sich der Autor des hier besprochenen Buches „Deviant Opera“, Axel Englund. Als Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Stockholm wählt er einen interdisziplinären Ansatz, bei dem er die eigene Fachdisziplin mit Musiktheaterforschung und dramaturgischer Praxis zusammenführt. Das Buch ist in fünf Kapiteln aufgebaut: Im ersten Kapitel werden zunächst Oper und Sadomasochismus (SM) in ein inhaltliches Verhältnis gesetzt, worauf die nachfolgenden vier Kapitel mit ausführlichen Aufführungsanalysen aufbauen. In diesen spannt Englund den Bogen von der Barockoper bis hin zum zeitgenössischen Musiktheater und arbeitet unterschiedliche Regieansätze heraus, die sich alle zur zentralen Frage verhalten: Können lustvolle Praxen des SM die szenische Darstellung von Gewalt und Macht durchbrechen?

Mit Monteverdis „L’Orfeo“, uraufgeführt 1607 in Mantua, fand die Oper als Drama der Affekte zu ihrer musikalisch-theatralen Dramaturgie, die fortan grundlegend für die Entwicklung des Musiktheaters wurde. Von der Barockoper bis zum zeitgenössischen Musiktheater geht es um die Emotionen der Figuren als Kern der musikalischen Handlung. Die daraus entstehenden Konflikte kreisen u. a. um zurückgewiesene Liebe, um sehnsuchtsvolles Begehren oder Eifersucht. Meist spielen ungleich gewichtete politische, gesellschaftliche und geschlechtsspezifische Machtverhältnisse als äußerer Handlungsrahmen eine Rolle. Die Oper ist jedoch weit entfernt davon, bestehende Machtstrukturen und Geschlechterrollen zu reproduzieren. Denn im Zusammenspiel von Libretto und Musik spielt sie mit (binären) Geschlechtergrenzen. Sie findet subversive Wege, um bestehende Normen und gesellschaftliche Verhältnisse zu hinterfragen, und bietet nachschaffenden Künstler*innen über die Jahrhunderte hinweg viel Raum zur künstlerischen Auseinandersetzung.

Axel Englund beschreibt aus einer provokativen Lesart des 21. Jahrhunderts heraus szenische Darstellungen von subversiver Sexualität und folgt dieser thematischen Spur anhand von repräsentativen Inszenierungen von u. a. Jossi Wieler und Sergio Morabito („Alcina“ von Georg Friedrich Händel), Calixto Bieito („Don Giovanni“ von Wolfgang Amadeus Mozart), Romeo Castellucci („Parsifal“ von Richard Wagner), Robert Carsen („Tosca“ von Giacomo Puccini) und Dmitri Tcherniakov („Wozzeck“ von Alban Berg). Die Auswahl selbst überrascht nicht, enthalten doch alle diese gängigen Repertoireopern bereits auf der musikalisch-textlichen Ebene mehr oder weniger gewaltvolle Machtbeziehungen und charakterliche Abgründigkeiten der Figuren, die in einer Inszenierung herausgearbeitet werden können. Auch wenn sich Vertreter*innen des Regietheaters immer wieder dem Vorwurf stellen müssen, sie würden sich mit ihren szenischen Ansätzen über künstlerische Intentionen der Autor*innen hinwegsetzen, lässt sich dieser Kritikpunkt jedoch schnell entkräften. Denn das Verständnis von einem abgeschlossenen „Werk“ hat es in der Theaterpraxis nie gegeben: Opern wurden immer an die jeweiligen Aufführungsbedingungen angepasst, neue musikalische Nummern wurden hinzugefügt oder umgearbeitet, andere gestrichen und die Orchesterstimmen den besetzungstechnischen Möglichkeiten des jeweiligen Orchesters angepasst. Doch was für Komponist*innen wie Georg Friedrich Händel, Wolfgang Amadeus Mozart oder auch die komponierende Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth noch gängiger Theateralltag war, änderte sich im 19. Jahrhundert, indem eine Komposition zunehmend vor Eingriffen Dritter geschützt wurde. Was die Unantastbarkeit der Partitur anbelangt, gilt dieses geschlossene Werkverständnis noch heute, der Zugriff auf die Handlung durch das Regieteam versucht dagegen, den Bogen zu aktuellen gesellschaftlichen und/oder politischen Themen Gegenwart zu schlagen.

Im Falle von „Deviant Opera“ versteht Axel Englund den „Sadomasochismus“ als verbreitete (pop-)kulturelle Praxis, die – so seine These – einen alternativen Inszenierungsansatz zur szenischen Realisierung drastischer Gewalt und Exzess darstellen kann, die in den letzten Jahren von Opernregisseuren wie Calixto Bieto oder Peter Konwitschny stark in den Fokus gerückt wurden. In seiner Abgrenzung beruft sich Englund auf Susan Sontag, die, Bezug nehmend auf Marquis de Sades „120 Tage von Sodom“, bereits Anfang der 1970er-Jahre auf die Theatralität von SM hinweist. Diese Nähe zum Theater findet sich beispielsweise im Spiel mit Verkleidung sowie in improvisierten und ritualisierten (oft blasphemischen) Handlungen. Seither stellt Englund eine Sichtbarkeit sadomasochistischer Praktiken fest, nicht zuletzt in den Popsongs von Rihanna und Britney Spears oder auch im Bestsellerroman „Fifty Shades of Grey“ und seiner Verfilmung. 1983 grenzt die New Yorker Schwulenbewegung sadomasochistische Praktiken mit dem Ethik-Codex „safe, sane, and consensual“ (SSC) gegenüber sexueller Gewalt ab und betont nochmals die Freiwilligkeit von lustvoll erfahrenem Schmerz sowie die Einvernehmlichkeit zu jedem Zeitpunkt des sexuellen Spiels.

Und genau in diesem Verständnis sieht Englund das Potenzial für einen szenischen Zugriff. Am Beispiel von Bieitos Inszenierung der „Entführung aus dem Serail“ (Komische Oper Berlin) arbeitet er heraus, wie eine realistische Darstellung von Grausamkeit und körperlicher Folter Gefahr läuft, sexuelle Übergriffe und rohe Gewalt zu normalisieren und Mozarts vielschichtige Figurendeutung in sehr eindeutiger Weise zu reduzieren. Reaktionen des Publikums auf das szenische Geschehen sind wesentlicher Teil der theatralen Kommunikation, die sich oftmals auch in körperlichen Abwehrreaktionen (wie Buh-Rufe oder lautstarkes Zuschlagen der Türen beim Verlassen des Zuschauerraums) niederschlagen können. Wie Englund schreibt, sind derartige Reaktionen als Selbstschutz des Opernpublikums zu bewerten, das aufgrund historisch gewachsener Rezeptionskonventionen keine andere Möglichkeit hat, sich dem Zusehen einer gewaltvollen (sexuellen) Bühnenhandlung zu entziehen.

Sind die Vertreter*innen des Regietheaters weniger um Verfremdung von Wirklichkeit als vielmehr um realistische Darstellung bemüht, benennt Englund das Offenlegen der Mittel theatraler Fiktion als Möglichkeit für den Umgang mit Gewalt, im Besonderen das Spiel mit Erotisierung von Grausamkeit und Demütigung. In seinen anschaulichen Analysen der verschiedenen Inszenierungen, arbeitet er Darstellungsmittel in Bühnenbild und Kostümen heraus, die als eindeutige lesbare Zeichen des SM (Lack- und Lederkostüme, Fesseln, Peitschen) und Fetischismus zu deuten sind. Über die rein visuelle Ebene hinaus gibt Englund zahlreiche Beispiele, in denen SM-Praktiken als dramaturgische Motivation eingesetzt werden, etwa wenn Zerlina ihren Verlobten Massetto fesselt und ihm die Augen verbindet, um ihn von seiner Eifersucht auf den eleganten Lebemann Don Giovanni zu heilen. Oder wenn in Nikolaus Lehnhoffs „Tosca“-Inszenierung eindeutige Bildverweise aus Leopold von Sacher-Masochs Novelle „Venus im Pelz“ zu finden sind, die, übertragen auf die Opernhandlung, Tosca nicht zu einem Lustobjekt Scarpias machen, sondern ihr eine feminin-dominate Rolle zukommen lässt, die den Polizeichef nicht zuletzt durch ihren Gesang an seine körperlichen und geistigen Grenzen treibt. Überhaupt gewinnt der Operngesang durch das szenische Setting des SM seine erotisierende Wirkung zurück: Halsbrecherische Koloraturen der Zauberin Armida in Händels „Rinaldo“ entfalten eine geradezu entwaffnende Wirkung und zähmen die widerspenstigen Furien.

Mit seiner Argumentation gelingt Englund eine lesenswerte und jederzeit bereichernde Interpretation, die das Zusammenwirken von theatralem Spiel und Praktiken des SM als Chance begreift, sowohl eigene Limits zu überschreiten als auch machtvolle Beziehungen zu durchbrechen. Als performative Praxis sind sich sowohl die Oper als auch SM ihrer Grenzen bewusst. Und dennoch entwirft der Autor am Schluss die Vision, dass sowohl die Oper als auch der SM kraft ihres Imaginationspotenzials an einer Auflösung (sexueller) Macht und Gewaltstrukturen mitwirken können, um somit den erotischen Machtaustausch vom Inszenierten ins Reale zu verlagern.

Christiane Plank-Baldauf (München)



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
18. März 2025

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