Psychiatr Prax 2025; 52(02): 66-67
DOI: 10.1055/a-2515-5595
Debatte: Pro & Kontra

Psychiatrische Vorsorgedokumente – schafft Digitalisierung die erhoffte Akzeptanz? – Pro

Julian Schwarz

Pro

In den letzten Jahren hat die Implementierung von Interventionen zur Verhinderung von Zwangsmaßnahmen und zur Förderung der Autonomie der Nutzenden (NU) in der Psychiatrie zugenommen. Ein wichtiges Instrument in diesem Zusammenhang sind psychiatrische Vorsorgedokumente (engl. „Psychiatric Advance Directive“, kurz: PAD), die es NU ermöglichen, im Voraus festzulegen, ob und wie sie in einer psychischen Krise behandelt werden wollen. PADs sollen unter anderem dazu beitragen, dass Behandlungswünsche der NU besser gehört und befolgt werden.

Studien zeigen, dass PADs, wie z. B. Patientenverfügungen, Behandlungsvereinbarungen und Krisenpässe, die wahrgenommene Autonomie der NU und die therapeutische Beziehung verbessern und unfreiwillige Behandlungen sowie Zwangsmaßnahmen reduzieren können [1]. Darüber hinaus befürworten internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen (UN) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Einsatz von PADs. Auch Leitlinien, wie die S3-Leitlinie zur Prävention von Zwang, empfehlen PADs mit dem höchsten Evidenzgrad [2].

Dennoch gibt es zahlreiche Implementierungsprobleme, die vor allem die Erstellung, den Zugang und die Nutzung von PADs in psychiatrischen Notfällen betreffen. So werden NU häufig nicht über die Möglichkeit, ein PAD zu erstellen informiert, und Ärzt*innen fehlt die Zeit und teilweise auch die Motivation, NU bei der Erstellung eines PAD zu unterstützen. In Krisensituationen sind PADs, die häufig in Papierform geführt werden, oft nicht vorhanden, nicht mehr aktuell oder werden von Behandelnden aus unterschiedlichen Gründen nicht beachtet.

Obwohl Maßnahmen wie peer-begleitetes Ausfüllen, Anreize für Behandler*innen und Schulungen für alle Beteiligten die Implementierung von PADs fördern können, bleibt ihre Wirksamkeit begrenzt, wenn PADs im Krisenfall nicht für die zuständigen Personen zugänglich sind.

Ein vielversprechender Ansatz besteht darin, PADs in digitaler Form z. B. in die elektronische Patientenakte (ePA) einzubetten [3]. Dadurch würde eine stets aktuelle, für NU und Behandler*innen zugreifbare Version eines PAD geschaffen. Dieser Weg ist insofern relevant, da in diesem Jahr die widerspruchsbasierte ePA für alle Versicherten in Deutschland eingeführt wird (Opt-Out). Neben der automatischen Befüllung der neuen ePA mit persönlichen Gesundheitsdaten, wie z. B. Medikationsplänen und Laborbefunden, können auch weitere Dokumente in strukturierter bzw. standardisierter Form gespeichert werden. Dies eröffnet die Möglichkeit, ein landes- oder sogar bundesweit einheitliches PAD abzustimmen. Hierdurch und durch die Opt-In-Regelung ist eine deutliche Steigerung der Nutzung der ePA und der darin hinterlegten Dokumente zu erwarten. Dies könnte auch dazu beitragen, dass PADs stärker wahrgenommen und in die Behandlung integriert werden.

Die Idee, Vorsorgedokumente in digitaler Form zugänglich zu machen, ist nicht neu und wird bereits in verschiedenen Ländern realisiert [4]. So können US-Bürger*innen beispielsweise mit Hilfe der Smartphone App „My Mental Health Crisis“ eine Schritt-für-Schritt-Anleitung durchlaufen, um ein PAD zu erstellen. Dabei werden sogar die gesetzlichen Bestimmungen verschiedener US-Bundesstaaten berücksichtigt. Das App-generierte PAD kann anschließend mit relevanten Personen digital geteilt werden, z. B. über einen QR-Code. Die einzige standardisierte Speicherung eines PAD in der Gesundheitsdateninfrastruktur wird derzeit vom britischen National Health Service (NHS) erprobt [5].

Die bisher vorgestellten Ansätze zur Digitalisierung von PADs haben ein erhebliches Potenzial, die Akzeptanz dieser Dokumente zu verbessern, wenn zumindest folgende zusätzliche Aspekte berücksichtigt werden:

Die Forschung hat gezeigt, dass PADs besser angenommen werden, wenn der Ausfüllprozess unterstützt wird. Es ist jedoch fraglich, ob die dafür notwendigen personellen Ressourcen langfristig in ausreichendem Maße zur Verfügung gestellt werden können. Digitale Angebote, wie z. B. Videomaterial mit Ausfüllanleitungen, können für einen Teil der NU leichter zugänglich sein als Informationsmaterial in Papierform. Darüber hinaus könnte ein Chatbot-basierter Assistent NU durch den Ausfüllprozess eines PADs leiten, wie von Redahan & Kelly (2024) skizziert [6]. Dabei könnten Erklärungen und Beispielformulierungen gegeben und sichergestellt werden, dass ein PAD vollständig bzw. korrekt ausgefüllt wird. Auf diese Weise könnten NU das PAD in ihrem eigenen Tempo ausfüllen und es anschließend – sofern gewünscht – mit einer Vertrauensperson, Peers oder medizinischem Personal hinsichtlich der Umsetzbarkeit besprechen und ggf. Anpassungsvorschläge machen. Hierdurch würde sich der Zeitaufwand für Kliniker*innen erheblich reduzieren.

Darüber hinaus ist es notwendig und zeitgemäß, dass NU den Zugriff Dritter zu ihrem PAD selbst steuern können. Die widerspruchsbasierte ePA bietet derzeit bereits die Funktion Inhalte zu verbergen. Hiervon könnten NU beispielsweise Gebrauch machen, wenn sie nicht (mehr) möchten, dass ihr PAD mit medizinischem Personal geteilt wird. Um die im PAD enthaltenen hochsensiblen personenbezogenen Daten zu schützen und um sicherzustellen, dass der Zugriff nur im psychiatrischen Notfall durch die daran beteiligten Personen erfolgt, wird jeder Zugriff auf Dokumente der ePA namentlich protokolliert.

Ein Problem bei papierbasierten bzw. nicht zentral in der Telematikinfrastruktur verwalteten PADs ist, dass verschiedene Versionen nebeneinander existieren können. So kann im Notfall möglicherweise nicht nachvollziehbar sein, ob es sich bei einem Dokument um die aktuell gültige - oder eine veraltete – Fassung handelt. Dies spielt insbesondere bei rechtlich bindenden Patientenverfügungen (nach §1827 BGB) eine Rolle, die auch umgesetzt werden können, wenn Behandelnde bei NU eine Einwilligungsunfähigkeit feststellen. Ein standardisiert in der ePA gespeichertes PAD ermöglicht es NU, ihre (Nicht-)Behandlungswünsche aktuell zu halten, falls sich die eigenen Präferenzen für eine Notfallbehandlung im Laufe der Zeit ändern.

Mit der Einführung digitaler PADs ergeben sich jedoch auch neue Herausforderungen, die es zu untersuchen gilt. So muss sichergestellt werden, dass NU, die z. B. nicht über moderne Endgeräte oder (mobiles) Internet verfügen, nicht von dem Angebot ausgeschlossen werden. Eine mögliche Lösung wäre, PADs an Klinikterminals erstellen und ausdrucken zu können. Um diese und weitere Risiken aufzudecken und ein adressat*innengerechtes digitales PAD zu entwickeln, sollte ein partizipativer Designprozess durchlaufen werden. Denn nur wenn NU systematisch am Entwicklungsprozess beteiligt werden, ist eine Nutzung digitaler PADs zu erwarten. Die bislang deutliche Mehrheit klinischer Forscher*innen und Medizinethiker*innen gegenüber Peer-Forscher*innen bei der Entwicklung und Evaluation von PADs ist möglicherweise eine Ursache dafür, dass die Nutzung von PADs hinter den Erwartungen zurückbleibt.

Zusammenfassend wäre die Integration von PADs in die ePA zwar ein kleiner, aber bedeutender Beitrag zu einer selbstbestimmten, gerechten und transparenten psychiatrischen Krisenversorgung. Damit die Einführung der vorgeschlagenen Innovation gelingt, sollte der Entwicklungsprozess jedoch sorgfältig geplant werden. Ein erster Schritt wäre die Initiierung eines Arbeitskreises im Kompetenzzentrum für Interoperabilität (KIG) der Gematik, um das Vorhaben strukturiert zu diskutieren. Ziel sollte es sein, PADs als standardisierte Dokumente in die nationale Gesundheitsdateninfrastruktur zu integrieren, sodass sie von medizinischem Fachpersonal nicht übersehen werden können.



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
12. März 2025

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