Z Sex Forsch 2025; 38(01): 55-57
DOI: 10.1055/a-2520-9017
Buchbesprechung

Im Spiegelsaal

Johanna Degen
Zoom Image
Liv Strömquist. Im Spiegelsaal. Berlin: Avant 2021. 168 Seiten, EUR 20,00

Liv Strömquist, geboren 1978, ist eine schwedische Künstlerin, Autorin und Feministin, die für ihre scharfe, aber humorvolle Gesellschaftskritik bekannt ist. Sie hat Politikwissenschaften und Gender Studies an der Universität Lund in Schweden studiert. Seit 2005 veröffentlicht sie eine Reihe von illustrierten Comic-Romanen, die politische und manchmal kontroverse Themen aus feministischer Perspektive behandeln und sich mit Themen wie Liebe, Sexualität, Astrologie und Glauben befassen. Ihre Bücher, darunter „Der Ursprung der Welt“ und „Der Ursprung der Liebe“, wurden in viele Sprachen übersetzt und haben internationale Aufmerksamkeit erregt. Sie erhielten zahlreiche Auszeichnungen, insbesondere im skandinavischen Raum (wie den EWK Award). In ihren Rollen als Autorin, Künstlerin, Influencerin und Podcasterin trägt sie zum internationalen feministischen Diskurs bei.

Die gesellschaftskritische Graphic Novel “Im Spiegelsaal”, erschienen im Jahr 2021, verhandelt über ca. 157 Seiten in fünf Kapiteln, philosophisch, historisch und soziologisch fundiert, hochrelevante Aspekte zu den Wirkweisen und Mechanismen von Social Media und der dem Medium inhärenten Selbstdokumentation. Dabei geht es thematisch um Identität und gesellschaftliche Rolle, Sexualität und Beziehung, Schönheitsideale und damit verbundenes Kapital sowie Machtgefälle zwischen den Geschlechtern.

Im ersten Kapitel – „Fünf Schwestern“ – erörtert die Autorin anhand von Kylie Kardashian die Besorgnis, die aus dem sozialen Vergleich resultiert, nicht so auszusehen wie die Figuren, die das Selbst über Social Media beobachtet. Gezeigt wird auch, inwiefern dieses Phänomen typisch weiblich ist und welche Auswirkungen der ständige und medial vermittelte Vergleich mit optimierten Anderen auf das Selbst, den Selbstwert und das (Konsum-)Verhalten hat.

Das Kapitel zwei –“Leas hässliche Augen“-- betrachtet die historisch verwurzelte und scheinbar unlösbare Verknüpfung von Schönheit und Kapital und thematisiert den ökonomischen Heirats- bzw. Beziehungsmarkt. Insbesondere auf der weiblichen Seite gilt: Nur wer schön ist, kann geliebt werden und verdient Liebe.

Im dritten Kapitel – „Geisterhafte Spuren“ – geht es um die Bedeutung der Fotografie. Die Leser*innenschaft begleitet Marilyn Monroe und ihre tragische Geschichte der Objektivierung durch andere (insbesondere Männer, in diesem Fall Fotografen) im Kontrast zu Kim Kardashian, die sich selbst kontinuierlich porträtiert. Dahingehend wird überlegt, inwiefern sich in ihrer Selbstdokumentation ausdrückt, dass sie es schafft, sich selbst schön zu finden, oder ob es sich eher um Selbstobjektivierung handelt. Auch in Bezug auf den durchschnittlichen Menschen (am ehesten Microcelebrity) beschreibt die Autorin den Wandel vom Wert der Schönheit hin zum vorherrschenden Wert der abbildbaren Schönheit, die kontinuierlich selbst evaluiert und halböffentlich dokumentiert werden muss.

Im vorletzten Kapitel – „Schneewittchens Mutter“ – verfolgen Leserinnen und Leser fünf Frauen in der zweiten Lebenshälfte, die sich mit der Vergänglichkeit ihrer Schönheit und den damit verbundenen Veränderungen von Kapital und gesellschaftlicher Rolle auseinandersetzen. Manche bedauern den Verlust von Schönheit und Einfluss, während andere den Alterungsprozess als befreiend oder sogar als demokratisches Prinzip deuten: Demnach seien alle dem körperlichen Verfall ausgesetzt und etwaige Vorteile von Schönheit schwinden über die Zeit, wodurch sich eine egalitäre Wirkung entfalte. Am Ende des Kapitels stürzt Schneewittchens alternde Stiefmutter allerdings schreiend in den Abgrund, während ein junges Paar, von Jugendlichkeit strotzend und gekrönt, von oben zuschaut.

Das abschließende Kapitel nennt die Autorin das „Tyrannische Bild“ und erzählt die Geschichte von Sisi, die einst als schön gesehen wurde, aber in der Konsequenz ihr Leben mit Essstörungen geplagt war und jahrelang aus Scham über ihre Alterungsprozesse ihr Gesicht verschleierte und nur in der Natur Trost finden konnte. Dies bringt die Autorin in Zusammenhang mit der Entfremdung von Ideal und körperlichem Sein von Frauen, die im Zwiespalt stehen, zu gefallen und authentisch zu sein. Sie entfremden sich in der Optimierung und Anpassung so stark, dass die Anerkennung, die sie suchen und im besten Fall erhalten, ihrem Selbst nicht zuträglich sein kann, weil sie nur einem (schönen und optimierten) Teil ihres Selbst gilt. Daran knüpft eine abschließende und grundlegende Kapitalismuskritik im Zusammenhang mit Social Media an; ein Medium, das selbst widerständige Strategien wie die Body-Positivity-Bewegung der eigenen Marktlogik einverleibt. Selbst die (vermeintlich) realistischen Körperbilder multiplizieren demnach lediglich das Schönheitsdiktat, motivieren das Publikum, den Blick auf der App ruhen zu lassen und treiben so die entfremdende Logik voran.

Die Autorin illustriert das Buch eigenständig und so fügen sich Sprache und Stil im Gesamteindruck harmonisch und gleichzeitig wenig vorhersagbar, dafür immer wieder überraschend und treffend zusammen. So illustriert sie beispielsweise Hässlichkeit, ohne ihr die Möglichkeit der eigenwilligen Kraft und Schönheit zu nehmen und verfällt trotz Comicstil nicht ins Vulgär-Plakative, sondern bleibt sensibel und mehrdeutig, wodurch sie auch grafisch zur Identifikation einlädt.

Das gelingt ihr auch sprachlich. Obwohl sie auf hohem Abstraktionsniveau zeitgeistliche Phänomene abhandelt, behält sie anerkennende Sensibilität und subjektive Nachvollziehbarkeit im Fokus und umschifft es damit gelungen, zynisch, entblößend oder gar überlegen und arrogant zu wirken – es sind Geschichten über die kleinen bedeutsamen Dinge (wie Alterungsprozesse und Korpulenz), die jede und jeder kennt und bei sich (zumindest in Teilen) beobachten kann.

Ähnlich den inhaltlichen Bezügen zum Leben ist auch das Buch abenteuerlich, Kapitel sind kaum merklich getrennt, ohne Seitenzahlen, mit Brüchen in der Comiclogik, wenn beispielsweise ganze Seiten illustriert sind oder die Schrift einen “anschreit”. Und auch im Detail der gestalteten Seiten verstecken sich viele Bedeutungen (in Spiegeln und vermeintlichem Hintergrund), so lohnt sich das wiederholte Lesen und genaue Hinschauen, bei dem auch subtile Referenzen neue Nuancen und Zwischentöne in die Geschichten einbringen. Auf diese Weise ordnet sich das Buch intuitiv und zieht in den Bann.

Die entworfenen Figuren nehmen die Leser*innenschaft mit auf eine erschütternde Reise, bei der die Absurdität des Alltäglichen und der intakten, aber illegitimen Lebensbedingungen und ungleiche Chancen zur Teilhabe deutlich werden. Dazu zählt unter anderem, das wenig Individuelle in der millionenfachen Nachahmung von Trends (wieso fühlt man sich besonders, wenn man sich in Massenphänomene fügt? Und wieso können Millionen Followerinnen nicht wegschauen, bei den Kardashians?), der Stress durch neue Unverbindlichkeit in Beziehungen (und der damit verbundenen Bürde, immer sexy zu sein) und Sex als performativer Akt, der weniger an Erleben, als an Kapital und Wert gebunden ist.

Dabei verknüpft sie, mit rotem Faden und scheinbarer Leichtigkeit, Kulturgüter und Figuren von früher und heute. Dazu zählen Kaiserinnen, Märchen und Literaturwerke, einflussreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Kunst von 1484 bis zu den Make-up-Brands von heute, vermarktet über Influencer*innen und deren verzerrte Selbstdokumentation. Strömquist spannt eine Zeitreise auf, die zeigt, wie manches Phänomen tief verwurzelt und alt bekannt, aber heute über Medien katalysiert wird. Die Autorin legt offen, wie soziale und psychische Mechanismen funktionieren, in neuen Gewändern erscheinen und welche Richtung sie haben: vereinzelnd, frauen- und beziehungs-, vielleicht gar lebens- und auf jeden Fall genussfeindlich und entfremdend. Die Effekte sind machttheoretisch bekannt, die Maßnahmen aber der Zeit angepasst, wobei schon früher für das erotische Kapital gehungert wurde, heute lediglich ergänzt um BBL-Operationen (Gesäßvergrößerung) und vertuscht durch Body-Positivity.

Der Autorin gelingt es dabei, gesellschaftliche und subjektive Perspektive integrativ zusammenzubringen, wobei weder das Subjekt determiniert, noch gesellschaftliche Bedingungen marginalisiert werden. Die Qualität des Werkes begründet sich in der unbekümmerten Interdisziplinarität und philosophischen, historischen und soziologischen Fundierung – von Baumann, Herrin, über Illouz und René, inklusive Literatur- und Kunstverzeichnis – die sie scharfsinnig, psychologisch sensibel und klug auf aktuelle Lebenskontexte (Social Media, Dating, Selbstoptimierung und Identität inkl. Schönheitsoperationen, sexuelle Praktiken, Dating und Beziehung, Ehe und Institutionalisierung, Machtgefälle, Ethik und Privilegien) anwendet und deren Bedeutung sprachlich und grafisch veranschaulicht.

Dabei achtet sie darauf, nicht in Eindeutigkeit und Vereinfachung zu verfallen. Zwar nimmt sie eine eindeutig gesellschaftskritisch-feministische Perspektive ein und viele Geschichten werden aus Perspektive von Frauen erzählt, allerdings schafft sie es mit Ernsthaftigkeit komplex und gleichzeitig humorvoll Vor- und Nachteile herauszuarbeiten, zu überraschen, erschüttern und ohne vereinfachende und kausale Schuldzuweisung auszukommen (wieso verzweifeln Männer nicht daran, weniger gut Fußball spielen zu können wie die Profis im Fernsehen, während Frauen aber am mittelmäßig optimierten Social Media Post verzweifeln?). Das Buch bleibt bis zum Schluss uneindeutig und ergebnisoffen; Ratlosigkeit und Beunruhigung werden als Bildungsziel erreicht.

Damit lädt sie auch zur Anwendung ein. Das Buch spricht elegant Personen aller Altersstufen ohne peinlichen Versuch der gestelzten Jugendlichkeit an, kommuniziert von Kind bis Lebensende, quasi niveauflexibel. 7-Jährige finden, dass das Buch das spannendste ist, was sie je gesehen haben und ähnlich fällt das Urteil durch die erwachsene Gesellschaft aus, von Theoretiker*innen und Wissenschaft, über Lehrkräfte, die Klausuren über ethische Fragestellungen schreiben lassen. Auch in der beratenden Praxis würden sich viele Themen entlang der Bildgeschichten entfalten lassen, die in der Vernachlässigung der Bedeutung und Relevanz von Parasozialität bis heute noch zu kurz kommen.

Die Kritik, dass das Buch Sexualität entzaubern würde (wie es auf dem Buchrücken steht), ist meines Erachtens nicht stichhaltig. Eher entzaubert das Buch eine spezifische Sicht auf Sexualität, die aber gleichzeitig einlädt, Wege zu suchen, sich (als Gesellschaft und Subjekt) zu ermächtigen und eine kreative, kritische und damit neue sinnliche Perspektive auf das Leben, den Körper, Beziehung und Sexualität zu erarbeiten – auch in dieser Ergebnisoffenheit leistet das Buch einen gesellschaftlichen Beitrag.

Kurzum, die grafische Novelle ist theoretisch fundiert, kommuniziert trotz inhaltlichen Anspruchs gelungen in Schrift und Bild, mit skandinavischem Twist und Relevanz für alle. Die Autorin demonstriert mit diesem Werk, dass die grafische Novelle eine gelungene und elegante Form von Wissenstransfer darstellen kann, die inklusiv, von Kind bis Lebensende und über die Milieus hinweg anschlussfähig ist, ohne in plakative Vulgarität und eindimensionale Inhalte zu verfallen, die ansonsten im Genre schnell negativ auffallen.

Johanna Degen (Flensburg)



Publication History

Article published online:
18 March 2025

© 2025. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany