Patienten, die aufgrund mangelhafter oder gar ausgefallener Nierenfunktion mit einer meist jahrelangen Dialyse als Ersatztherapie überleben müssen, entwickeln häufig eine Aminosäurenimbalance. Aufgrund der Konzentrationsgradienten werden während der Behandlung Stoffwechselendprodukte aus dem Plasma eliminiert. Grundsätzlich sind dies alle niedermolekularen Substanzen, die in der Dialyselösung nicht vorhanden sind - also auch Aminosäuren. In welchem Ausmaß sie aus dem Plasma entfernt werden, bestimmen die Membraneigenschaften, die Konzentrationsgradienten der membrangängigen, niedermolekularen Substanzen und die Dauer bzw. das Ausmaß der Austauschprozedur.
Klinischer Stellenwert der Aminosäurenhomöostase
Klinischer Stellenwert der Aminosäurenhomöostase
Wir alle wissen: Proteine und Peptide bestehen aus L-Aminosäuren. Diese spielen aber nicht nur als Proteinbausteine eine zentrale Rolle, sondern auch als Ausgangssubstanzen wichtiger Biomoleküle wie Hormone, Enzyme und Neurotransmitter. Logistisch erfolgt die Versorgung der unterschiedlichen Zellen mit Aminosäuren über das Blutplasma.
Maßgebend für die Versorgung aller Organe ist dabei nicht nur die Gesamtkonzentration aller freien Aminosäuren im Plasma, sondern auch die Relation der einzelnen Aminosäuren zueinander, da die etwa 20 genomisch codierten Aminosäuren über bisher 8 bekannte aktive Transportmechanismen in die Zellen aufgenommen werden. Somit verhalten sich verschiedene Aminosäuren in der zellulären Aufnahme kompetitiv.
Eine physiologische Versorgung der Zellen setzt daher ein physiologisches Profil der Aminosäuren im Plasma voraus. Dass trotz der erheblichen Heterogenität der Bereitstellung von Aminosäuren aus der Nahrung die Konzentrationsverhältnisse der einzelnen Aminosäuren im Plasma sehr konstant und stabil sind, unterstreicht die Bedeutung des physiologischen Aminosäurenprofils noch. Konsequenterweise wirken sich alle als Imbalancen bezeichneten Abweichungen von diesem Konzentrationsprofil als Verschlechterung der Syntheseleistung für Proteine in den Zellen aus.
Gemeinsame Ziele und Lösungen, das ist Interdisziplinarität!
Gemeinsame Ziele und Lösungen, das ist Interdisziplinarität!
Dieses Beispiel einer multidisziplinären Zusammenarbeit und der Entwicklung des klinisch brauchbaren Arbeitsansatzes zeigt, dass Interdisziplinarität mehr ist als nur die additive Verknüpfung unterschiedlicher Disziplinen. Damit Interdisziplinarität aber entstehen kann, müssen alle Beteiligten an der Entwicklung von Kompetenzen in den anderen betroffenen Disziplinen arbeiten, um nicht nur eine gemeinsame Sprache, sondern auch gemeinsame Zielsetzungen und Lösungen auf jeweils nicht authentischem eigenen Boden erarbeiten zu können.
"Shrinking man" - Ein Phänomen auch der Aminosäurenimbalance?
"Shrinking man" - Ein Phänomen auch der Aminosäurenimbalance?
Bei Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz können zwar unter einer Dauerdialysetherapie die klassischen Symptome der Urämie eliminiert oder zumindest gemildert werden, die unausweichlichen Veränderungen im Metabolismus der Proteine und Aminosäuren sind aber bis heute ein ungelöstes Problem. Diese Veränderungen werden bei langjähriger Behandlung zu schwerwiegenden wesentlichen Faktoren für Morbidität und Mortalität.
Unter längerfristiger Dialysebehandlung macht sich ein Phänomen bemerkbar, welches - im amerikanischen Sprachraum als "shrinking man" treffend beschrieben - die langfristigen Defizite im Proteinstatus aufdeckt. Schon sehr früh haben quantitative Untersuchungen diesen Aminosäurenverlust thematisiert. Zwar wurden in allen Studien erhebliche Aminosäurenverluste gemessen, die ermittelten Werte schwankten jedoch aufgrund der Messunsicherheiten im offenen System der klassischen Dialysetechnik sehr stark.
Ein Lösungsansatz - Geschlossenes System mit aminosäurenhaltigem Dialysat
Ein Lösungsansatz - Geschlossenes System mit aminosäurenhaltigem Dialysat
In einer Studie mit 11 chronisch niereninsuffizienten Patienten (H. C. Ziegler; Dissertation an der Universität Ulm 2002) wurden daher mit einer im Institut für Innovative Medizintechnik Düsseldorf unter Dr. Bernd Terstegen entwickelten, geschlossenen Dialysiertechnik genaue quantitative Messungen des Verlustes freier Aminosäuren mit und ohne Gradientensteuerung durchgeführt.
Ohne Aminosäurengegensteuerung zeigten sich in 10 konsekutiven Untersuchungen pro Dialysebehandlung Aminosäurenverluste zwischen 4 und 13g. Bei einem 70kg schweren Erwachsenen mit einer Proteinzufuhr von 0,8g/kg täglich entspricht dies etwa 20% seines Tagesbedarfs. Der Dialyseverlust wirkt sich dabei unterschiedlich auf die in verschiedenen Konzentrationen vorliegenden Aminosäuren im Plasma aus - eine Situation, die bereits bestehende Imbalancen noch verstärkt.
Das geschlossene System der in diesem klinischen Versuch verwendeten Dialysetechnik erlaubt über den Einsatz einer Dialyseflüssigkeit mit physiologischen Aminosäurenkonzentrationen von 3,5mmol/l, den Verlust an Aminosäuren nicht nur zu vermeiden, sondern sogar bereits vorliegende Imbalancen auszugleichen: In 10 konsekutiven Behandlungszyklen mit kompensiertem Aminosäurengradienten betrug die mittlere positive Bilanz 1-2g Aminosäuren pro Dialyse mit einem Maximum von 6g bei 2 der 11 Patienten - und eine Steigerung ihrer Lebensqualität bei einem besseren Befinden.
Prof. Dr. mult. Adolf Grünert, Ulm
Vizepräsident MEDICA Deutsche Gesellschaft für Interdisziplinäre Medizin e.V.