Notfall & Hausarztmedizin 2008; 34(7): 347
DOI: 10.1055/s-0028-1085044
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Gesundheit – eine Reform des Begriffs?

Katrin Große, Ulrich Rendenbach
Further Information

Publication History

Publication Date:
05 August 2008 (online)

Spätestens seitdem sich die Allgemeine Ortskrankenkasse AOK in „Gesundheitskasse“ umbenannte, sind Zweifel am alten Inhalt des Wortes Gesundheit angebracht. Kann man sich für oder gegen Gesundheit versichern? Die bekannte Definition der WHO hat mindestens den Mangel, statisch zu sein, vom Augenblick auszugehen. Gesundheit ist jedoch auch dynamisch und nicht nur ein augenblicklicher Zustand. Ist jeder, der sich momentan nicht wohl fühlt, gleich krank? Erst wenn Krankheit zum Wunsch führt, gesund zu werden, erlebt man einen Verlust. Dabei hat jeder einzelne aus seiner Lebensphilosophie heraus eigene Vorstellungen, was gesund zu sein bedeutet. Alter, gesellschaftliche Akzeptanz und Modeströmungen beeinflussen den Menschen mit einem Gefühl von Wohl- oder Unwohlsein, das am ehesten zu den Emotionen passen könnte. Manch ein Mensch wird allein dadurch zum Leidenden, zum Patienten, weil er „sich eben nicht wohl fühlt.“ Im Gegensatz dazu erlebt sich manch ein Kranker durchaus als gesund und leistungsfähig. Krankheit muss heute in ein System von Normen passen, die im ICD 10 stehen, die Symptome machen, die gemessen werden können. Sind Gesundheit und Krankheit überhaupt Gegensätze in dem Sinne, wer sich nicht gesund fühlt, muss eben krank sein oder doch eher dynamische Prozesse des Lebens, die gar ineinander übergehen können? Wäre der Mensch überhaupt gesund, wenn es keine Krankheit gäbe? Was krank ist, bestimmt unter anderem auch die Ökonomie und gesellschaftliche Normen. Wenn erst ein Medikament gefunden wurde, dann findet die Wissenschaft auch eine Krankheit, die dazu passend „geheilt“ werden kann. Schleichend wurden Krankheit und Gesundheit zu technisch messbaren Veränderung degradiert, zu einem Zustand, den andere regulieren, zum Beispiel „Leistungserbringer“ und staatlich reglementierte Kassen. Das ursprüngliche Bedürfnis, gesund zu werden, war an eine Krankheit gebunden. Dem ist der Wunsch, gesund zu bleiben hinzugetreten. Heute gilt die Maxime, aktiv seine Gesundheit zu erhalten. Dieser Wandel änderte auch ärztliches Handeln, neben der Therapie etablierte sich die Prävention. Diese wird jedoch eher als bezahlte Leistung der Kostenträger konsumiert, denn aus innerer Überzeugung gelebt. Wellness, die „gute Gesundheit“, leitet schließlich über zur „Über-Gesundheit“. Parallel hat sie sich vor allem im gesellschaftlichen Vorreiter USA entwickelt, und wird wohl nach Deutschland überschwappen. Dabei sind die vielen kosmetischen Operationen noch das kleinste Übel. Hier gilt die WHO-Definition der Gesundheit eher nicht mehr, sondern das Angepasstsein, das Funktionieren und Leisten in einer erfolgsorientierten Gesellschaft, das fast schon pathologisch-läppische Glücklichsein stehen im Vordergrund. Als Beispiele seien der Konsum von Modafinil (Vigil®) in den USA genannt, oder in Deutschland der inakzeptabel hohe Verbrauch von Methylphenidat (u. a. Ritalin®) bei unangepassten Kindern. Aber Kinder müssen nicht perfekt sein. Sie „verbessern“ zu wollen, ist ein Bedürfnis gestresster Eltern und Lehrer, und keinesfalls das der Kinder. 2003 legte das oberste bioethische Gremium der USA, das President's Council on Bioethics, [1] einen Bericht vor mit dem Titel „Beyond Therapy“. Der Untertitel „The Pursuit of Happiness“ (das Streben nach Glück) lenkt auf eine Zukunftsvision der „Über-Gesundheit“: „Better Children“ meint offenbar, dass Kinder optimiert werden sollten, „Superior Performance“ zielt in Richtung Steigerung der Leistungsfähigkeit, „Ageless Bodies“ befasst sich mit dem Nichtaltern von Körpern und „Happy Minds“ ist auf die Entwicklung einer glücklichen Psyche gerichtet. Als „Enhancement“, die Steigerung, definiert Parens [2] Eingriffe, „die die Konstitution oder Funktionalität des Menschen über das Maß hinaustreiben, das für gute Gesundheit nötig ist.“ Und die Neuro-Pharmakologie macht's möglich, das Memory-blunting (blunt = abstumpfen): Erinnerungen werden positiver, Schlimmes aus der Biografie einfach im Gedächtnis gelöscht [3]. Wie fade ist da Shakespeare! Macbeth verlangt von seinem Arzt, der Königin die Gewissensnot zu nehmen. Jedoch der Arzt antwortet: „Hier muss der Kranke selbst das Mittel finden.“ [4].

Literatur

  • 1 President's Council on Bioethics. Beyond Therapy. Biotechnology and the pursuit of Happiness. A Report of The President's Council on Bioethics. 2003
  • 2 Parens E.. Enhancing Human Traits. Ethical and Social Implications. Washington D.C.: Georgetown University Press 1998
  • 3 www.linus-geisler.de/art2007/200701universitas-drohendes_ glueck.html
  • 4 Shakespeare W.. Macbeth. 5: 3

Dipl.-Psych. Katrin Große
Dr. med. Ulrich Rendenbach

Dresden

Leipzig