Sprache · Stimme · Gehör 2008; 32(3): 136
DOI: 10.1055/s-0028-1085428
Kunst und Kommunikation

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Himmelsstrebend

P. Eich
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Publication Date:
10 October 2008 (online)

Die Hallgrímskirkja in Reykjavik/Island (Guòjon Samüelson, 1945–1986)

Architektur ist die Kunstform, mit der wir am häufigsten in Berührung kommen; auf Schritt und Tritt sind wir von Architektur umgeben – es sei denn, wir bewegen uns in der freien Natur. Dass wir sie nur in Ausnahmefällen als Kunstform wahrnehmen, mag daran liegen, dass sie eben so alltäglich und allgegenwärtig ist und wir Architektur vor allem nach ihrem Gebrauchswert einschätzen. Das Wort „Architektur” ist zusammengesetzt aus den griechischen Wörtern αρχη [arché] (=„Anfang”, „Ursprung”, „Grundlage”, „das Erste”) und τεχνη [techné] =„Kunst”, „Handwerk”, auch tectum aus dem Lateinischen –„Gebäude”. Es ließe sich daher wörtlich mit „Erstes Handwerk” oder „Erste Kunst”übersetzen. Das deutsche Äquivalent für Architektur ist Baukunst, wobei es eine nichtendenwollende Diskussion darüber gibt, wo das „bloße Bauen” (also reine Zweckbauten) aufhört und die Baukunst anfängt.

Architektur manifestiert sich vor allem mit Bauten, die über die reine Zweckbestimmung hinausgehen, wie zum Beispiel Kirchen, Theater, Museen und repräsentative Bauten des Gemeinwesens – Rathäuser, Parlamente, Gerichte. Die Architektur dieser Bauten will uns etwas über die Bedeutung dessen mitteilen, für das sie gebaut wurden: Ein Theater will uns schon von außen sagen, dass hier Kunst stattfindet, ein Parlamentsgebäude hebt auf die Bedeutung der demokratischen Staatsform ab und Kirchen mahnen uns, dass es noch etwas anderes außer unserem irdischen Leben gibt.

Die Hallgrimskirkja[*] in der isländischen Hauptstadt Reykjavik ist so ein Bauwerk, das, am höchsten Punkt der Stadt gelegen, mit seiner himmelsstrebenden Landmarke Architektur als weithin sichtbare ein Zeichen für das Göttliche, für den Glauben setzt. Die Betonstreben an den Turmkanten nehmen die in Island in der vulkanischen Natur häufig vorkommenden Basaltsäulen als Stilelement auf. Der Turm, in dem die Betonstifte kulminieren, ist 75 m hoch und wurde erst 1974 fertiggestellt. In Auftrag gegeben wurde die Kirche schon 1937, Baubeginn war 1945 und geweiht wurde die evangelisch-lutheranische Kirche 1986. Architekt war der isländische Staatsarchitekt Guðjon Samúelsson (1887–1950), der die Vollendung seines wichtigsten Bauwerks nicht mehr erleben konnte. Die Kirche hat 1 200 Sitzplätze. Eine eindrucksvolle Orgel hat 72 Register und 5 275 Pfeifen. Sie ist etwa 15 Meter hoch und wiegt 25 Tonnen. Gebaut hat sie der deutsche Orgelbauer Johannes Klais aus Bonn, eingeweiht wurde sie 1992.

Island ist nach Großbritannien die größte Insel Europas; das Land hat 316 000 Einwohner, von denen 117 000 in der Hauptstadt Reykjavik leben. Die Insel mit ihrer eindrucksvollen Natur – schroffe Schuchten, sanfte Weiden, grandiose Wasserfälle, endlose Lavawüsten, die größten Gletscher Europas – ist dünn besiedelt (zum Vergleich: Bielefeld hat 320 000 Einwohner). Island wurde erst etwa im 10. Jahrhundert besiedelt und seitdem hat dieses kleine Land eine relativ isolierte Existenz geführt, auch wenn es von anderen Ländern beherrscht wurde (bis 1944 gehörte es zu Dänemark). Das hat zu einem eigenwilligen, selbstbewussten und naturverbundenen Menschenschlag geführt. Bis heute spielen Trolle und Elfen in der Gedankenwelt der Isländer eine Rolle; die isländische Literatur ist voller mystischer, dunkler Ereignisse. Noch Jahrhunderte nach der Christianisierung wurde Brauchtum aus dem alten nordischen Götterglauben gepflegt. Heute sind über 80% der Isländer Protestanten. Mit der Hallgrimskirche wollte der Architekt in einer schwierigen Zeit – kurz vor Ausbruch des 2. Weltkriegs – mit seinem zum Himmel zeigenden Bauwerk die Menschen mahnen und daran erinnern, dass es eine Macht gibt, die nicht von dieser Welt ist und die uns gleichzeitig hoffen lässt.

Peter Eich

    1 Benannt nach dem isländischen Pastor und Dichter Hallgrímur Pétursson (1614–1674), hervorgetreten vor allem durch seine Psalmendichtungen. Die Kirche trägt seinen Vornamen, weil in Island der Vorname der wichtigere Name ist. In Island sind z. B. die Telefonteilnehmer im Tele fonbuch nach ihren Vornamen verzeichnet.