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DOI: 10.1055/s-0028-1086192
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York
Titelbild - Gustav Kolb (1870-1938)
Publication History
Publication Date:
30 September 2008 (online)
Kolb gehört ohne Zweifel in die vorderste Reihe der Sozialpsychiater der ersten Jahrzehnte des 20.Jahrhunderts. Nach seiner Assistentenzeit in Bayreuth wurde er 1905 Direktor der neuen oberfränkischen Kreis-Irrenanstalt Kutzenberg und dann ab 1911 der mittelfränkischen Heil- und Pflegeanstalt Erlangen. Dieser stand er bis 1928 vor und machte für die psychosoziale Versorgung den Begriff des Erlanger Modells zum Synonym für extramurale Fürsorgemaßnahmen. Da Kranke in den psychiatrischen Anstalten oft ein Leben lang hinter Mauern verschwanden, empfand er sich fast mehr als Kerkermeister und Feind seiner Patienten. Um der zeittypischen und scheinbar unvermeidlichen Überfüllung entgegenzuwirken, erkannte Kolb in der offenen Fürsorge das probate Mittel. Diese organisierte er in Mittelfranken musterhaft, weit über 4 000 Patienten ließ er zuletzt durch Fürsorgeärzte und Pflegerinnen oft in Familienpflege versorgen. Auch die Angehörigen bezog er in den Rehabilitationsprozess mit ein. Neben der Aufnahme erleichterte er vor allem die Entlassung aus seiner Anstalt, die er durch berufliche und soziale Wiedereingliederungsprogramme begleitete. Doch auch innerhalb seiner Klinik verwirklichte er nach dem Vorbild Simons statt Sedierung, Zwang, Bad- und Bettbehandlung eine sinnvolle Arbeitstherapie. Weiterhin engagierte er sich für den Aufbau von Kinderabteilungen, Trinkerheilstätten und Altenheimen und forderte sogar die Errichtung von Irrenschutzgerichten zur Kontrolle des internen Anstaltsbetriebes. Für seine Zeit war Kolbs Erlanger Modell wegweisend, zeigte es doch fundamental andere Möglichkeiten auf, psychisch kranke Menschen zu behandeln. Daran tun auch Missstände, die zum Teil als Folge der Kostenintensität auftraten und zur Einschränkung der offenen Fürsorge führten, keinen Abbruch.
Holger Steinberg