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DOI: 10.1055/s-0028-1090077
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Wissenschaftssprache – Hindernis oder Denkhilfe? – eine Sprachkritik
Language of Science – Barrier or Thinking Tool?
Dr. med. Ulrike Hoffmann-Richter
SUVA
Fluhmattstraße 1
6002 Luzern, Schweiz
eMail: ulrike.hoffmannrichter@suva.ch
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
17. November 2008 (online)
- Sprache als Störfaktor
- Wahre Sätze
- Stilistische Tarnkappe
- Adressatenorientierung
- Leitfunktion der Sprache für das Denken
- Hilfen durch die Sprache
- Literatur
„Am besten wäre es, wenn man in Gutachten alle Befunde in Zahlen ausdrücken könnte”, bemerkte ein Kollege vor einiger Zeit, „dann würden die Unklarheiten verschwinden, die sich mit den Worten einschleichen”. Der Gedanke ist keineswegs neu: Die Wissenschaft sei der natürliche Feind der Sprache, setzte Theodore Savory 1967 als Motto über seine „Language of Science” [1].
#Sprache als Störfaktor
Bereits mit der Blüte der Naturwissenschaften ab dem 17. Jahrhundert wurde die Sprache von den Forschern als Störfaktor betrachtet: Sie sei eine Ansammlung von Wörtern, die die Erkenntnis von Sachen und die Mitteilungen über sie behindere. Im 17. Jahrhundert sahen die britischen Wissenschaftler zwei mögliche Lösungswege: erstens eine wissenschaftliche Universalsprache. Sie sollte Wörter und Sachen zur Deckung bringen. Jonathan Swift karikierte diese Bemühung in Gullivers Begegnung mit Gelehrten auf der fliegenden Insel Laputa. Sie trugen stets riesige Bündel von allen möglichen Dingen mit sich herum, um sie im Gespräch mit Kollegen auszupacken und vorzuweisen. Der 2. Lösungsweg bestand im Bemühen um eine größtmögliche Transparenz von Sprache [2]. In Deutschland verband Friedrich I die Gründung der Berliner Akademie der Wissenschaften 1700 mit dem Anliegen sich der Kultur der deutschen Sprache anzunehmen. Harald Weinrich vermutet, dass das Anliegen sich nicht nur der Wissenschaftssprache, sondern auch der deutschen Gemeinsprache anzunehmen auf die Kurfürstin und spätere Königin von Preußen Sophie Charlotte zurückging, die hochgebildet war und mit Leibnitz, dem die erste Berliner Akademie ihre Konzeption verdankte, freundschaftlich verbunden war. Im Gegensatz zur 1662 gegründeten Royal Society of London for the Improvement of Natural Knowledge und zur 1666 gegründeten Académie des Sciences gesellten sich in der Berliner Akademie zur Mathematik und Physik, auf die sich nach Leibnitz die Institution ursprünglich ausrichten sollte sprachliche und kulturelle Themen. Leibnitz plante denn ein dreiteiliges großes Wörterbuch mit einem Band der Gemeinsprache, einem etymologischen zweiten Band und einem dritten der Fach- und Wissenschaftssprachen. 1989 stellte Weinrich fest, dass bis in die Gegenwart der Auftrag sich um die Wissenschaftssprache zu bemühen seiner umfassenden Erfüllung harre [3]. Im 18. Jahrhundert einigten sich die deutschsprachigen Naturwissenschaftler in der Erkenntnis, dass eine Trennung zwischen Gedanken und Ausdruck nicht möglich sei und sprachen sich für stilistische Klarheit aus. Hieraus erwuchs die Idealvorstellung einer durchsichtigen Wissenschaftssprache.
#Wahre Sätze
Im gegenwärtigen Wissenschaftsverständnis ist es Aufgabe der Linguistik, sich mit Fragen der Wissenschaftssprache zu befassen. Im deutschen Sprachraum sind Themen der Fach- und Wissenschaftssprachen seit etwa 1980 langsam ins Blickfeld getreten. Der Wissensstand entspreche aber noch keineswegs dem Gegenstand, so Weinrich. Auch gebe es in der Wissenschaftslandschaft wenig Anreize, sich die notwendige – fachliche und sprachwissenschaftliche – Doppelkompetenz zu erwerben, „da viele Wissenschaften ihr Ethos und ihren Ehrgeiz daransetzen, bei ihren Arbeiten nur an der Sache interessiert zu sein und sich von dieser ,objektiven‘ Sachlichkeit durch nichts, am wenigsten aber durch die Sorge um die Sprachform, ablenken zu lassen. Die Frage ist allerdings, ob diese Auffassung einer genaueren wissenschaftstheoretischen Betrachtung standhalten kann und sich nicht vielmehr selber als eine nicht unbedenkliche, an bestimmte historische Voraussetzungen gebundene Wissenschaftsideologie darstellt, die vielleicht gar nicht so ,sachgemäß‘ ist, wie es auf den ersten Blick scheint…” ([3] / 122). Neben den Wörtern, die bislang noch am ehesten untersucht seien, und der Sprachenwahl skizziert Weinrich als wichtige Gebiete, Sätze, Texte und Textsorten. Während sich die Wissenschaftssprachen von der Alltagssprache in ihrem Wortschatz vor allem durch ihre große Komplexität und Expansivität unterschieden, verhielten sie sich in Syntax und Grammatik im Vergleich zur Gemeinsprache reduktiv bis reduktionistisch. Weinrich benennt drei entscheidende Verbote:
-
Ein Wissenschaftler sagt nicht „Ich”.
-
Er erzählt nicht.
-
Der Wissenschaftler benutzt keine Metaphern.
-
Eduard Benes hat die Personalpronomen in Wissenschaftstexten ausgezählt und festgestellt, dass die 1. Person Singular nur in 0,2 % der Sätze auftritt [4]. Da nirgendwo ein Ich-Verbot für wissenschaftliche Texte explizit formuliert wurde, ist dieses Ergebnis erklärungsbedürftig. Es werde wohl stillschweigend aus dem Gebot wissenschaftlicher Objektivität abgeleitet, nimmt Weinrich an. Für die Wahrheit wissenschaftlicher Sätze gebe es keine linguistischen Regeln. Zuerst einmal entscheide über den Wahrheitsgehalt der Sachverhalt, unter bestimmten Bedingungen auch die logische Form des Satzes. Das gelte grundsätzlich auch für Ich-Sätze. Man könne nur annehmen, dass wissenschaftliche Sätze, da sie überindividuelle Geltung beanspruchen, vom Ich, und natürlich auch vom Du absähen. Die Syntax der Wissenschaftssprache werde dadurch uniform, dass sie sich in den meisten Fällen auf eine Struktur in der 3. Person Singular reduziere. Das Ich des Verfassers wird zu „der Verfasser”, „der Referent” etc. oder greift zur Verwendung der ersten Person Plural. Eine weitere, vor allem gegenüber der Alltagssprache auffällig gebräuchliche Formulierung verzichtet gänzlich auf ein handelndes Agens und hilft sich mit Passivkonstruktionen. Solange dies lediglich zu Eintönigkeit führe, könne man dies akzeptieren. Da solche Aussagen jedoch eine „Deagentivierung” zur Folge hätten, müsse man sich fragen, wann und wo sie mit einer Denkhürde einhergingen.
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Aus diesem Ich-Verbot resultiert das Erzählverbot in gewisser Weise. Grundsätzlich werden wissenschaftliche Ergebnisse und Erkenntnisse beschrieben. Diese Deskription wird üblicherweise hervorgehoben, um sich gegen Normierung und Normativität abzugrenzen. Die strikte Ablehnung narrativen Verhaltens wird nur selten benannt. Weil es aber in der Wissenschaft wie in anderen fachlichen Zusammenhängen durchaus einiges zu erzählen gibt, weichen die Narrationen in andere Textgattungen aus, seien es Bücher, Buchbeiträge oder Beiträge für spezielle Periodika. Als Beispiel kontrastiert Weinrich die „Nature”-Publikation von Watson und Crick über ihre Entdeckung der DNA-Doppelhelix am 25.4.1953 auf einer Druckseite gegenüber dem Watson-Buch über die Doppelhelix, das 1968 erschien und einen kleinen Skandal ausgelöst habe. „Ich frage mich nun, wo hier eigentlich die Wahrheit der Wissenschaftssprache liegt: in dem knappen Zeitschriftenbericht, der in seiner zuchtvollen Sprachform an das Bulletin eines Generalstabs oder meinetwegen auch an ein Sonett erinnert, oder in der ausführlichen und umständlichen Erzählung, in der einer der Forscher aufschreibt, ,wie es wirklich gewesen ist‘.” Spätestens wenn sich Geschichtswissenschaften und Theologie dem Erzählverbot anzuschließen versuchen, können wesentliche Inhalte nicht mehr vermittelt werden ([3] / 136).
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Während das Ich- und das Erzählverbot unbestritten zu sein scheinen, wirkt das Metaphernverbot grotesk, da sich wissenschaftliche Texte, auch und gerade aus den Biowissenschaften zahlreicher Metaphern bedienen. Nichtsdestotrotz wird die Regel, dass bildhafte, dass metaphorische Sätze keine wahren Sätze sein könnten, weiter kolportiert.
Die ausgefallenen und vielfältigen Fachbegriffe seien kein unüberwindliches Hindernis in der Vermittlung von Spezialwissen und Forschungsergebnissen, so Weinrich, und wenn einem Wissenschaftler dies trotzdem nicht gelinge, nehme man ihm das eigentlich nicht übel. „Wehe aber, wenn er seine Sätze anders bildet als es sich für einen Wissenschaftler gehört! Wer also mehr ,ich‘ sagt, wer mehr erzählt, oder wer mehr Metaphern gebraucht, als es in wissenschaftlichen Veröffentlichungen schicklich ist, der geht ein hohes Risiko ein oder gerät doch wenigstens gegenüber seiner Zunft in einen starken Rechtfertigungszwang. Hier, nicht im Bereich der Terminologie, liegen die eigentlichen Empfindlichkeiten der Wissenschaftssprache” ([3] / 139).
#Stilistische Tarnkappe
Die Idealvorstellung der durchsichtigen Wissenschaftssprache hält sich hartnäckig. Sie tritt in der „Fensterscheiben-Theorie” … Joseph R. Gusfields noch deutlicher hervor, wenn er erklärt, die wissenschaftliche Sprache solle so transparent wie klares Glas sein, um die Aufmerksamkeit unmittelbar auf die dargestellten Fakten und wissenschaftlichen Thesen zu lenken [5]. Die Sprache trage bis in die Gegenwart hinein eine „stilistische Tarnkappe”, so Kretzenbacher. Das Medium Sprache sei in wissenschaftlichen Texten der Wahrnehmung entzogen. Weinrichs Beschreibung der syntaktischen Regeln als Verbote geht Kretzenbacher deshalb nicht weit genug. Es handle sich um veritable Tabus, das heißt, „absolute, unausgesprochene und unhinterfragbare Verbote” ([2] / 26).
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Das Ich-Tabu, so Kretzenbacher weiter, sei mehr als eine Konvention der Höflichkeit. Durch die weitgehende Vermeidung aller Hinweise auf die Gesprächsrollen Sender und Empfänger werde eine von subjektiver Beeinflussung freie Übermittlung reiner Information suggeriert. Die Bedingungen menschlicher Kommunikation setzten immer eine spezifische Situation mit spezifischen Kommunikationspartnern voraus. Das, was die Bedeutung eines Textes genannt werde, werde jeweils in einem sozialen Prozess zwischen den kommunizierenden Partnern ausgehandelt. Und von diesem Aushandlungsprozess lenke die sprachliche Strategie der Deagentivierung ab. Diese Strategie trägt zum Eindruck bei, dass die Bedeutung eines wissenschaftlichen Textes etwas ist, das hinter dem Text selbst liegt und damit von der Kommunikation unabhängig. Wenn die untersuchende Person aber aus der Versuchsanordnung nicht wegzudenken ist, wenn insbesondere in der Psychiatrie bestimmte Erkenntnisse nur über die Subjektperspektive erfahrbar sind, und wenn weiter die Mitteilung in einem Text sich am Adressaten ausrichtet, ist der Verfasser eines wissenschaftlichen Textes ein Autor, und der kommunikative Akt ist weder aus seiner Textproduktion noch aus dessen Inhalt wegzudenken.
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Das Erzähltabu suggeriert, dass jegliche Erkenntnis in der Form einer Beschreibung mitteilbar ist. Dies gilt spätestens dann nicht mehr, wenn zeitliche Bezüge Inhalte wesentlich mitbestimmen, und wenn ohne eine Perspektive eine Aussage in sich zusammenfällt. Denn es gibt keine „Nullstufe der Mittelbarkeit” [6]. Auch können Zahlen oder Messreihen Inhalte nicht exakter vermitteln. Sie machen lediglich eine andere Aussage als ein Text. Und dort, wo Zahlen vermeintlich eine Beschreibung oder Erzählung ersetzen, wird ihre Aussage nicht klarer, sondern vager. Klassisches Beispiel dafür sind Schulnoten.
-
Metaphern sind nicht nur unvermeidlich bei der Vermittlung von spezifischem Fachwissen an ein Laienpublikum. Sie sind in der Forschung ein wichtiges Hilfsmittel, damit neue Erkenntnisse Gestalt annehmen können. Hans Blumenberg sieht in ihnen „eine authentische Leistungsart der Erfassung von Zusammenhängen” [7], Bernhard Debatin einen rationalen Vorgriff [8]. Bekanntere Beispiele sind die Kampf- und Kriegsmetaphern in der Krebsforschung, in der Psychiatrie Kraepelins Dementia praecox oder Eugen Bleulers Schizophrenien [9].
Adressatenorientierung
Wenn zur wissenschaftlichen Terminologie bereits einige Arbeit gemacht ist, und Ansätze im Bereich der Syntax vorliegen, fehlen selbst Grundlagen zur Fachtext-Linguistik sowohl was die mündlichen als auch was die schriftlichen Textsorten betrifft. Ein Text kann nur verstanden und korrekt analysiert werden, wenn die Regeln der Textsorte bekannt sind. Ohne explizierte Regeln kann auch die Verfassung der entsprechenden Textsorten an angehende Fachpersonen – Assistenzärzte, Fachärztinnen, junge Wissenschaftler – nur schlecht vermittelt werden. Dies geschehe noch immer durch Nachahmung, also „in der altertümlichen Form der Meisterlehre”, moniert Weinrich. Es gebe Arbeiten über den Essay, eine Rekapitulation, Exzerpte, Vorlesungen oder Seminarreferate, nicht oder kaum über Fachaufsätze, Monografien, Lehr- und Handbücher, Forschungsberichte, bei den mündlichen Textsorten kaum etwas zu Vorlesung, Vortrag, Referat, Moderation, Podiumsdiskussion, Interview, und bei den fachinternen Textsorten zu Forschungsanträgen, Zeugnis, Empfehlung, Bescheinigung, Forschungsgutachten … [3]. Ich füge an – Arztbriefe, medizinische Gutachten, Exploration, … Wer dieses Anliegen als akademisch beiseite legen möchte, sei darauf aufmerksam gemacht, dass mit der Textsorte die Entscheidung über den bzw. die Adressaten fällt. Wissenschaftliche Tätigkeit ist prinzipiell mit dem Gebot der Veröffentlichung verknüpft. Die Aufgabe der Kommunikation ist auch mit fast jeder ärztlichen Tätigkeit in der einen oder anderen Weise verbunden. Der Verfasser oder die Verfasserin trifft mit der Form ihres Textes eine Vorentscheidung über den „invisible colleague”. Die Adressaten werden mitgedacht. In der Textstruktur kann man den „impliziten Leser” erkennen [10]. Solange diese Arbeit nicht getan ist, gilt Kretzenbachers pointierte Formulierung: „Alle wissenschaftlichen Texte, von der Rezension bis zur Monografie, von der Vorlesung bis zum Handbuchartikel, werden verfasst mit dem übergeordneten Handlungsziel der Überzeugung der Kommunikationspartner, sie sind primär persuasive Texte. Die erfolgreichsten Äußerungen in der wissenschaftlichen Kommunikation wissen mit den stilistischen Mitteln der durchsichtigen Sprache diesen persuasiven Charakter am besten aus dem Bewusstsein der Hörer oder Leser zu verbannen. Erst in den letzten Jahren hat in der Wissenschaftssoziologie und der Wissenschaftslinguistik eine systematische Untersuchung der wissenschaftlichen Rhetorik begonnen, die ihren eigenen rhetorischen Charakter erfolgreich verleugnet …” ([2] / 34–35).
#Leitfunktion der Sprache für das Denken
In der Idealvorstellung einer durchsichtigen Wissenschaftssprache steckt die von Kretzenbacher benannte Annahme, die wissenschaftliche Wahrheit liege hinter dem Text. Die dazugehörige Metapher ist die der Sprache als Fensterscheibe: Wenn man sie nur klar genug putzt, tritt die Wahrheit von selbst zutage. Nun ist die Sprache aber keine Fensterscheibe, sondern unser wichtigstes Kommunikationsmedium. Je besser man sie beherrscht, je gründlicher man seine Regeln kennt, desto gezielter kann man sie einsetzen. Weder die Abschaffung der Sprache noch der Versuch sie unsichtbar zu machen führen zu einer besseren, eindeutigeren Verständigung. Nur über die Beschäftigung mit der Sprache, nicht nur ihrer Terminologie, sondern auch ihrer Grammatik, Syntax und Textstrukturen können Erkenntnisse klarer mitgeteilt und Informationen vermittelt werden. Nur mit ihrer Hilfe werden die Denkwege der Verfasser hörbar, ihre Perspektive sichtbar und der Kontext, aus dem heraus sie sich mitteilen lesbar. Es trifft nicht zu, dass Erste-Person-Sätze unwahr, Dritte-Person-Sätze aber wahr sind. Es trifft nicht zu, dass Erzählen generell unwissenschaftlich, Beschreiben aber wissenschaftlich und somit wahr sei. Auch trifft es nicht zu, dass Metaphern unwissenschaftlich, weil unwahr sind, da sie Bilder heranziehen. Metaphern sind weder wahr noch falsch. Auch wenn man die Frage nach ihrer Wahrheit aufwirft, kann sie weder mit Ja noch mit Nein beantwortet werden. Diese Alternative ist theoretisch gar nicht entscheidbar, stellt Blumenberg klar: „… Sofern also ,Wahrheit‘ das Ergebnis eines methodisch gesicherten Verfahrens der Bewahrheitung ist bzw. ex definitione zu sein hat, kann die Metaphorik diesem Anspruch nicht genügen, sagt also nicht nur nicht die ,strenge Wahrheit‘, sondern überhaupt nicht die Wahrheit. Absolute Metaphern ,beantworten‘ jene vermeintlich naiven, prinzipiell unbeantwortbaren Fragen, deren Relevanz ganz einfach darin liegt, dass sie nicht eliminierbar sind, weil wir sie nicht stellen, sondern als im Daseinsgrund gestellt vorfinden … Als Metaphorologie Betreibende haben wir uns schon der Möglichkeit beraubt, in Metaphern ,Antworten‘ auf jene unbeantwortbaren Fragen zu finden … unsere Situation ist daher gekennzeichnet durch das positivistische Programm einer entschlossenen Kritik der Sprache in ihrer Leitfunktion für unser Denken …” ([7] / 23–24).
#Hilfen durch die Sprache
Weil ein Medium zur Verständigung – zur Vermittlung von Gedanken, von Forschungsergebnissen und Erkenntnissen hohen Anforderungen genügen muss, benötigt die Sprache sehr viele Regeln, die gekannt und beherrscht sein wollen. Sie eröffnet aber auch unendliche Varianten an Ordnungs- und Darstellungsmöglichkeiten. Für Fach- und Wissenschaftstexte harren viele noch ihrer Entdeckung. Einige wenige Beispiele seien genannt:
-
Erste- und Dritte-Person-Sätze zeigen, wo aus dem Erleben einer Einzelperson, aus den Erfahrungen einer Fachperson oder einer Forschungsgruppe, und wo aus dem Stand des wissenschaftlichen bzw. fachlichen Wissens berichtet wird. Der Satzbau genügt um dies klarzustellen.
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Eine Beschreibung im Präsens benennt einen momentanen oder auch einen dauerhaften Zustand, während Vergangenheitsformen die Darstellung einer zeitlichen Entwicklung erfassen. Tempuswechsel eröffnen vielfältige Darstellungsmöglichkeiten, selbst von sehr komplexen Zeitbezügen [11] [12].
-
Indirekte Rede wie Zitate erlauben eine Differenzierung zwischen Aussagen unterschiedlicher Personen, ohne dass die Verfasserin und der Verfasser ihre Position zu diesen Aussagen sofort kommentieren muss. Die Tempuswahl genügt. Weitere Kommentare sind nicht notwendig.
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Weil auch und gerade in Fachtexten die Vermittlung von Dingen, Äußerungen, Meinungen, Erkenntnissen … eine wichtige Rolle spielt, kann die Mittelbarkeit mithilfe einer bewussten Wahl der Perspektive explizit gemacht werden. Perspektivenwechsel sind möglich und dienen der Differenzierung unterschiedlicher Positionen. Die einzige Notwendigkeit besteht darin eine Perspektive zu wählen. In diesem Wissen wird aus dem Erzählen als Fauxpas ein gezielter Einsatz von Erzählpassagen als Mittel für die entsprechende Aussage, die ohne Mittelbarkeit ihre Bedeutung verliert.
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Metaphern sind für die Erfassung von Zusammenhängen und für die Vermittlung von Erkenntnissen unvermeidlich. Sie verweisen überdies aber auch auf Hintergrundannahmen des Verfassers, die ohne bewusste Wahrnehmung der Metapher verborgen bleiben.
-
Sobald Regeln von Textformen allgemein bekannt sind, helfen Sie Inhalte zu erfassen und die Bedeutung von Aussagen zu klären.
Wie man mit Harald Weinrich auf Entdeckungsreise in der (allgemeinen deutschen, nebenbei gesagt auch in der französischen) Textgrammatik gehen kann, wäre eine Fachtext-Grammatik höchst erwünscht, die in die Grundformen fachlicher und wissenschaftlicher Textgattungen einführen würde, vor allem aber die Aussage- und Verständigungsmöglichkeiten eröffnen, die mit Grammatik, Syntax und Textsorten zur Verfügung stehen. Bis es soweit ist, sei auf einige Anleitungen zum fachlichen, beruflichen und wissenschaftlichen Schreiben hingewiesen [13] [14] [15] [16]. Es ist bemerkenswert, dass in englischsprachigen Anleitungen für die Verfassung wissenschaftlicher Texte vereinzelt auf den Umgang mit dem Tempus und einmal sogar mit der 1. Person Singular hingewiesen wird. Allerdings geschieht dies ausschließlich im Sinne einer Gebrauchsanweisung, nicht in Form eines reflektierten Umgangs mit Grammatik, Syntax und Textform [16]. Mittlerweile bieten eine Reihe von Universitäten Schreibseminare für Beruf und Wissenschaft an. Die Psychiatrische Praxis wird ab diesem Heft regelmäßig Beiträge zur Sprachkritik in der Psychiatrie publizieren und lädt zur Mitarbeit ein.
#Literatur
- 1 Savory T H. The Language of Science (Rev. Ed. 1967). London; Andre Deutsch 1953
-
2 Kretzenbacher H L.
Wie durchsichtig ist die Sprache der Wissenschaften? . In: Kretzenbacher HL, Weinrich H Forschungsbericht 10: Linguistik der Wissenschaftssprache. Berlin; Walter de Gruyter 1994: 15-39 - 3 Weinrich H. Formen der Wissenschaftssprache. In: Jahrbuch 1988 der Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 1989: 119-158
-
4 Benes E.
Die formale Struktur der wissenschaftlichen Fachsprachen in syntaktischer Hinsicht. In: Bungarten T Wissenschaftssprache. Beiträge zur Methodologie, theoretischen Fundierung und Deskription. München; 1981: 185-212 - 5 Gusfield J R. The Literary Rhetoric of Science: Comedy and Pathos in Drinking Driver Research. Am Sociol Rev. 1976; 41 16-34
- 6 Stanzel F K. Theorie des Erzählens, 7. Aufl. Göttingen; Vandenhoek & Ruprecht 2001
- 7 Blumenberg H. Paradigmen einer Metaphorologie. Frankfurt; Suhrkamp 1998
- 8 Debatin B. Die Rationalität der Metapher. Eine sprachphilosophische und kommunikationstheoretische Untersuchung. Berlin; de Gruyter 1995
-
9 Hoffmann-Richter U.
Schizophrenie als Metapher. In: Dies Psychiatrie in der Zeitung. Urteile und Vorurteile. Bonn; Das Narrenschiff im Psychiatrie Verlag 2000: 183-219 - 10 Iser W. Der Akt des Lesens, 4. Aufl. München; Wilhelm Fink 1994
- 11 Weinrich H. Tempus. Besprochene und erzählte Welt, 1. Aufl. 1964. München; CH Beck 2001
- 12 Weinrich H. Textgrammatik der deutschen Sprache. Mannheim; Dudenverlag 1993
- 13 Becker H S. Die Kunst des professionellen Schreibens. Ein Leitfaden für die Geistes- und Sozialwissenschaften. Frankfurt; Campus 1994
- 14 Kruse O, Jakobs E M, Ruhmann G. Schlüsselkompetenz Schreiben. Neuwied; Luchterhand 1999
- 15 Frank A, Haake S, Lahm S. Schlüsselkompetenzen: Schreiben in Studium und Beruf. Stuttgart; J. B. Metzler 2007
- 16 Coghill A M, Garson L R. The ACS Style guide: Effective Communication of Scientific Information, 3. Aufl. Washington DC; ACS 2006
Dr. med. Ulrike Hoffmann-Richter
SUVA
Fluhmattstraße 1
6002 Luzern, Schweiz
eMail: ulrike.hoffmannrichter@suva.ch
Literatur
- 1 Savory T H. The Language of Science (Rev. Ed. 1967). London; Andre Deutsch 1953
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2 Kretzenbacher H L.
Wie durchsichtig ist die Sprache der Wissenschaften? . In: Kretzenbacher HL, Weinrich H Forschungsbericht 10: Linguistik der Wissenschaftssprache. Berlin; Walter de Gruyter 1994: 15-39 - 3 Weinrich H. Formen der Wissenschaftssprache. In: Jahrbuch 1988 der Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 1989: 119-158
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4 Benes E.
Die formale Struktur der wissenschaftlichen Fachsprachen in syntaktischer Hinsicht. In: Bungarten T Wissenschaftssprache. Beiträge zur Methodologie, theoretischen Fundierung und Deskription. München; 1981: 185-212 - 5 Gusfield J R. The Literary Rhetoric of Science: Comedy and Pathos in Drinking Driver Research. Am Sociol Rev. 1976; 41 16-34
- 6 Stanzel F K. Theorie des Erzählens, 7. Aufl. Göttingen; Vandenhoek & Ruprecht 2001
- 7 Blumenberg H. Paradigmen einer Metaphorologie. Frankfurt; Suhrkamp 1998
- 8 Debatin B. Die Rationalität der Metapher. Eine sprachphilosophische und kommunikationstheoretische Untersuchung. Berlin; de Gruyter 1995
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9 Hoffmann-Richter U.
Schizophrenie als Metapher. In: Dies Psychiatrie in der Zeitung. Urteile und Vorurteile. Bonn; Das Narrenschiff im Psychiatrie Verlag 2000: 183-219 - 10 Iser W. Der Akt des Lesens, 4. Aufl. München; Wilhelm Fink 1994
- 11 Weinrich H. Tempus. Besprochene und erzählte Welt, 1. Aufl. 1964. München; CH Beck 2001
- 12 Weinrich H. Textgrammatik der deutschen Sprache. Mannheim; Dudenverlag 1993
- 13 Becker H S. Die Kunst des professionellen Schreibens. Ein Leitfaden für die Geistes- und Sozialwissenschaften. Frankfurt; Campus 1994
- 14 Kruse O, Jakobs E M, Ruhmann G. Schlüsselkompetenz Schreiben. Neuwied; Luchterhand 1999
- 15 Frank A, Haake S, Lahm S. Schlüsselkompetenzen: Schreiben in Studium und Beruf. Stuttgart; J. B. Metzler 2007
- 16 Coghill A M, Garson L R. The ACS Style guide: Effective Communication of Scientific Information, 3. Aufl. Washington DC; ACS 2006
Dr. med. Ulrike Hoffmann-Richter
SUVA
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