Die Therapie mit Opioiden der WHO-Stufe III ist immer eine individuelle Therapie, die die Besonderheiten des Patienten und seines Krankheitsbildes berücksichtigen muss. Es kann keinen Goldstandard geben, wenn man damit ein Präparat/einen Wirkstoff bezeichnen will, der immer und in jedem Falle der richtige für jeden Patienten ist. Aber natürlich gibt es in der Gegenüberstellung der Wirkstoffe und Präparate eine Reihe von Argumenten, die bestimmte Wirkstoffe mit ihrer Galenik zum Präparat erster Wahl machen.
Als Goldstandard bezeichnet man eine Therapie oder ein Medikament, welches bei einer entsprechenden Indikationsgruppe mit höchstmöglicher Sicherheit den höchstmöglichen Erfolg bringt. In der Therapie opioidbedürftiger Schmerzen müsste also das Medikament als Goldstandard bezeichnet werden, welches in den meisten Fällen den größten Erfolg hat. Dieser "Erfolg" eines Medikamentes - so verlangt es die Evidenz based Medicine - müsste durch entsprechende Studien belegbar sein. Die Studienlage zu den Opioiden der WHO-Stufe III ist jedoch recht dürftig. Für die Opioide Morphin, Oxycodon und Hydromorphon in der Tumortherapie finden sich in den wichtigsten medizinischen Datenbanken zwischen 1980 und 2005 nur 34 randomisierte kontrollierte Studien. Zwar ist die Wirksamkeit für alle nachgewiesen und wir kennen auch annähernd die Äquivalenzdosen. Aber Vergleiche von Wirkstoffen oder gar gegen Placebo sind nicht durchgeführt worden [1]. Eine systematische Übersicht der Cochrane Database kommt zum gleichen Ergebnis [2]. Rein empirische Daten würden aber eigentlich nicht ausreichen. In diesem Sinne kann es zurzeit keinen Goldstandard geben - auch wenn Morphin meistens so bezeichnet wird.
Was wissen wir über Opioide?
Was wissen wir über Opioide?
Obwohl es nur sehr wenige Studien gibt, die Opioide miteinander vergleichen, lassen sich Medikamente objektiv miteinander vergleichen und auch bewerten, da man einiges über die Eigenschaften der verschiedenen Wirkstoffe weiß:
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Wir wissen, dass alle Opioide der Stufe III hochwirksam sind.
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Wir wissen, dass sie eine unterschiedliche Potenz haben - somit also in unterschiedlich hohen Dosierungen verabreicht werden müssen, um eine vergleichbare Schmerzlinderung zu erreichen.
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Wir wissen, dass alle Medikamente Nebenwirkungen verursachen, die aber in unterschiedlicher Häufigkeit auftreten.
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Wir haben diverse Informationen über die Verstoffwechselung und die pharmakologischen Eigenschaften. Auch wenn bezüglich der Abbauwege und Ausscheidungen noch Unklarheiten bestehen, lassen sich doch diverse Unterschiede der Wirkstoffe feststellen.
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Wir wissen, dass es kein "Standard-Opioid" geben kann. Wir werden immer wieder Misserfolge und Unverträglichen haben, immer wieder wird es Non-Responder geben (Polymorphismus!).
Die Frage lautet also nicht: "Gibt es ein Opioid, welches für jeden Patienten das richtige ist?", sondern: "Bei welchem Wirkstoff ist unter Berücksichtigung des jeweiligen Patienten und der Informationen, die wir über den Wirkstoff und den Patienten haben, die Wahrscheinlichkeit eines möglichst guten Therapieerfolges am größten?". Würden wir feststellen, dass es eine Substanz gibt, bei der wir bei einer sehr großen Patientenzahl eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit des Therapieerfolges haben, wäre diese Substanz nicht immer, aber sehr oft "Mittel ersten Wahl".
Therapieerfolg heißt in der Schmerztherapie eine gute Schmerzlinderung bei einem Minimum an Nebenwirkungen und somit einem Maximum an Lebensqualität.
Was wissen wir über die relevanten Wirkstoffe?
Was wissen wir über die relevanten Wirkstoffe?
Vergleicht man die Wirkstoffe bezüglich ihrer Wirkpotenz, zeigen uns die durch Studien belegten Äquivalenzdosen, dass alle Stoffe hochpotent sind, und - in der jeweiligen Äquipotenzdosis gegeben - eine annähernd gleiche Wirksamkeit haben. Deutliche Unterschiede bestehen in der Nebenwirkungsrate und den Therapierisiken, hier vor allem im Kumulations- und Interaktionsrisiko. Diese Unterschiede lassen sich meist durch die unterschiedliche Verstoffwechselung und Ausscheidung erklären (Tab. [1]). Daher stellt sich für den Therapieerfolg die wesentliche Frage, ob aktive Metaboliten entstehen, welchen Einfluss Nieren- oder Leberinsuffizienz auf das Geschehen haben und ob die Substanzen Cytochrom-P-neutral sind oder nicht (Tab. [2]).
Tab. 1 Metabolisierung und Eliminationswege
Tab. 2 Relevante Nebenwirkungen
Ein Beispiel: Wenn eine Flasche Grapefruitsaft ausreicht, um die Wirksamkeit und Wirkdauer von Viagra® zu verdoppeln, machte das einen meiner Patienten sehr glücklich (und seine Partnerin hoffentlich auch). Mir macht es bewusst, wie leicht Wirkdauer und -intensität sowie Interaktionen beeinflusst werden können.
Wenn die Morphindosis erhöht werden muss, weil Carbamazepin - ein Standard-Koanalgetikum - gleichzeitig gegeben wird (Interaktion in CYP P450), spielt die CYP-P-Neutralität bei Therapieentscheidungen eine Rolle.
Welche besonderen "Eigenschaften" haben unsere Patienten?
Welche besonderen "Eigenschaften" haben unsere Patienten?
Der alte Patient
Bei alten, polymorbiden Patienten ist die renale Ausscheidungsfähigkeit durch Abnahme der glomerulären Filtrationsrate reduziert. Die Stoffwechselleistung der Leber nimmt ab, sowohl durch Abnahme der Gesamtmasse der Leber als auch der zellulären Leistungsfähigkeit. Daraus resultieren häufig niedrige Plasma-Eiweißspiegel. Da der alte Patient meist diverse weitere Medikamente einnimmt, besteht ein erhöhtes Interaktionsrisiko, wodurch der Leber- und Nierenstoffwechsel stärker belastet ist (z. B. NSAR).
Fazit: CYP-Neutralität und geringe Kumulationsgefahr sind bei der Opioidauswahl entscheidend.
Der Tumorpatient
Bei Tumorpatienten treten neben Schmerzen oft weitere Symptome auf. Häufig erhalten sie daher verschiedene weitere Medikamente, womit die Interaktionsgefahr steigt. Da für den Tumorpatienten ein Höchstmaß an Lebensqualität entscheidend ist, ist ein niedriges Nebenwirkungsrisiko besonders wichtig. Auch bei ihm sind die Stoffwechselfähigkeiten meist reduziert, die Leber- und Nierenfunktion sind oft belastet oder beeinträchtigt. In der Endphase tritt immer das relative Nierenversagen im Sterbeprozess auf. Bei stark begrenzter Lebenserwartung ist für einen Opioidwechsel keine Zeit mehr. Oft sind hohe Dosen zur Schmerzlinderung erforderlich.
Fazit: Ein geringes Nebenwirkungsrisiko, CYP-Neutralität und geringe Kumulationsgefahr sind entscheidend. Wichtig ist auch der Applikationskomfort.
Der chronifizierte Schmerzpatient
Der chronifizierte Schmerzpatient benötigt häufig diverse Medikamente, vor allem Koanalgetika aus der Gruppe der Psychopharmaka und/oder der Antiepileptika. Daher braucht er ebenfalls ein Opioid, das wenig Nebenwirkungen verursacht und vor allem nicht mit den Koanalgetika interagiert. Bei der Galenik kommt es auf gleichmäßige Serumspiegel an, um Dosiseskalationen zu vermeiden.
Fazit: Auch hier sind CYP-Neutralität und geringe Nebenwirkungen neben dem Einnahmekomfort (Compliance!) die wesentlichsten Kriterien bei der Opioidauswahl. Wichtig ist zudem der Applikationsweg.
Welche Galenik: oral oder transdermal?
Welche Galenik: oral oder transdermal?
Wenn wir die verschiedenen Opioide bewerten wollen, sind auch die Applikationswege beziehungsweise die Galenik von entscheidender Bedeutung. Hierbei geht es einerseits um die Sicherheit der Galenik (also das Erzeugen gleichmäßiger Serumspiegel), andererseits um die Compliance des Patienten.
Grundsätzlich ist eine orale Applikationsform retardierter Präparate der transdermalen vorzuziehen, da auf diesem Weg weniger Variablen die Resorption beeinflussen und somit gleichmäßigere Serumspiegel entstehen. Bezüglich der Compliance bieten insbesondere die auf 24 Stunden retardierten Präparate im Vergleich zu den transdermalen Systemen keinen Nachteil.
Bei den oralen Formen ist die Frage der Magensaftresistenz von großer Bedeutung (Tab. [3]). Prof. Henning Blume, Pharmakologe und Geschäftsführer der SocraTec R&R GmbH, Oberursel, untersuchte, wie sich die Serumspiegel verändern, wenn retardierte Präparate nicht magensaftresistent sind und nicht auf nüchternen Magen eingenommen werden. Er zeigte auf, dass aufgrund des Verschlusses des Pylorus die Medikamente länger als gewünscht im Magen verweilen. Wenn das Präparat dann dort bereits in Lösung geht, gelangt eine Mischung aus retardiertem und nicht retardiertem Wirkstoff in den Darm. Die Folge ist eine schnellere Resorption mit schneller ansteigenden Wirkstoffspiegeln im Serum und eine deutlich kürzere Wirkdauer. Hierin ist meines Erachtens der Grund dafür zu sehen, dass insbesondere im ambulanten Bereich die Wirkdauer retardierter Morphinpräparate meist keine 12 Stunden erreicht, obwohl das Präparat auf 12 Stunden retardiert ist. Kaum ein Patient nimmt derartig "starke" Medikamente konsequent auf leeren Magen ein. Spätestens wenn Übelkeit als Nebenwirkung auftritt oder aus anderen Gründen eine Magenreizung verspürt wird, versucht der Patient seinen Magen durch ein Glas Milch oder einen Zwieback vorher zu "schützen". Wenn das Präparat nicht sicher magensaftresistent ist, reicht dies bereits für eine veränderte Resorption aus.
Tab. 3 Resorptionsort und Magensaftresistenz
Zu bedenken ist auch, dass die Agonisierung der µ-Rezeptoren per se bereits durch Hemmung der Acetylcholinfreisetzung den Tonus der glatten Pylorus-Muskulatur erhöht.
Fazit
Fazit
Bei der Therapie mit Opioiden der Stufe III kann es keinen Goldstandard geben, wenn man damit ein Präparat/einen Wirkstoff bezeichnen will, der immer und in jedem Fall der richtige für jeden Patienten ist. Vielmehr muss eine solche Therapie immer individuell sein und die Besonderheiten des Patienten und seines Krankheitsbildes berücksichtigen.
Aber natürlich gibt es in der Gegenüberstellung der Wirkstoffe und Präparate eine Reihe von Argumenten, die bestimmte Wirkstoffe mit ihrer Galenik zum Präparat der ersten Wahl machen. Dieses Präparat würde bei der überwiegenden Anzahl der Patienten die größte Wahrscheinlichkeit des gewünschten Therapieerfolges erzielen und müsste folgende Eigenschaften haben:
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weitgehende CYP-Neutralität, keine Interaktionen, Hydrophilie
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geringstmögliche Nebenwirkungsrate (keine aktiven Metabolite)
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geringstmögliche Kumulationsgefahr, auch bei Leber- oder Niereninsuffizienz
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orale Applikationsform
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möglichst gleichmäßige Serumspiegel
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magensaftresistente Galenik
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Retardierung auf 12, besser noch 24 Stunden
Aus der Gegenüberstellung der Eigenschaften der Wirkstoffe und Präparate ergibt sich, dass dieses Mittel erster Wahl nicht Morphin sein kann, sondern Hydromorphon in einer magensaftresistenten Galenik, auf 24 Stunden retardiert. Wurde bisher Morphin als Goldstandard bezeichnet, sollte jetzt Hydromorphon diese Stellung einnehmen.
Korrespondenz
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Dr. med. Wolfgang Schwarz
Dr. med. Wolfgang Schwarz
Palliativzentrum St. Marianus
Schlöpke Weg 8
21357 Bardowick
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Email: St.marianus@t-online.de