Klin Monbl Augenheilkd 2009; 226(11): 867-868
DOI: 10.1055/s-0028-1109864
Editorial

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Neuroophthalmologie – nur noch eine nette Liebhaberei?

Neuroophthalmology – Merely an Interesting Hobby?H. Wilhelm1
  • 1Augenklinik, Department für Augenheilkunde, Universität Tübingen
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Publication Date:
13 November 2009 (online)

Wenn die Effizienz einer Augenklinik von einem Unternehmensberater bewertet würde, würde er die Neuroophthalmologie kritisch betrachten. Mit dem Patienten reden, seitenweise Befunde durchschauen, MR- und CT-Bilder sichten, Kollegen konsultieren, das sind zeitraubende, schlecht bis gar nicht honorierte Beschäftigungen, ganz im Gegensatz zu vielen chirurgischen Maßnahmen. Verzichtet man deshalb lieber auf Neuroophthalmologie und kümmert sich verstärkt um die wirtschaftlich interessanten Seiten der Augenheilkunde?

In der Tat, in vielen Kliniken ist die Neuroophthalmologie nur noch schwer zu entdecken. Sie fristet mitunter ein trostloses Dasein in einem verstaubten Winkel der Sehschule oder sie wurde ganz der Neurologie übereignet, denn diese Kollegen operieren ja nicht und kennen sich mit dem Gehirn und schlecht therapierbaren Krankheiten gut aus.

Was man nicht abschaffen oder weiterleiten kann, sind die Patienten. Sie kommen nach wie vor zum Augenarzt und in die Augenklinik, ja vielleicht sogar häufiger, denn wie in jedem Fach gibt es eine Reihe von Erkrankungen, die mit dem Älterwerden zahlreicher werden. Die Arteriitis temporalis ist eine solche Krankheit „mit Zukunft”. Irgendjemand muss sich um diese Patienten kümmern, und manchmal muss es schnell gehen, um eine Katastrophe zu verhindern. Selbst wenn man sie zur Neurologie weiterleitet, muss man zuerst einmal feststellen, ob es überhaupt neuroophthalmologische Patienten sind. Und da liegt das Problem: Auf einen Patienten mit einer neuroophthalmologischen Erkrankung kommen 10, die eine solche haben könnten, denen aber etwas ganz anderes fehlt. Die Hauptaufgabe eines Neuroophthalmologen ist es deshalb, zu erkennen, was der Patient nicht hat. Fehlt diese Expertise, wird derjenige, dem ein unglückliches Schicksal einen solchen Patienten beschert, Ausschlussdiagnostik betreiben müssen. Konsequenz: Es werden Scharen von Mitarbeitern und Verfahren bemüht, wo der kurze Blick eines Experten genügt hätte. Ein guter Neuroophthalmologe wird vor allem Untersuchungen und Aufwand einsparen. Das lässt sich leider nicht so einfach messen wie Einnahmen.

Ein weiterer Aspekt ist zu bedenken: Die Augenheilkunde muss bei den Neurofächern mitreden, sonst werden viele Patienten schlechter versorgt. Man kann dies leicht an folgendem Beispiel sehen: Gelegentlich werden Patienten mit Meningeomen operiert und sehen nach der Operation viel schlechter als vorher. Wo war da der Ophthalmologe, der vor einer heiklen Operation bei normalem Gesichtsfeld und Visus gewarnt hätte? Der verhindert hätte, dass kosmetische Chirurgie am MR-Bild erfolgte? Nur ein Augenarzt beherrscht die funktionelle ophthalmologische Diagnostik, die unbedingt notwendig ist, wenn es zu entscheiden gilt, ob und wie ein Tumor behandelt werden muss. Er ist es, der die Funktion überwacht. Wenn wir uns nicht mehr einbringen, werden trotz besserer Operationstechniken und überragender Bildgebung die Ergebnisse schlechter werden.

Augenärzte müssen deshalb mitreden, mit unseren Kollegen das optimale Vorgehen diskutieren und abstimmen. Nur so werden unnötige Eingriffe vermieden, nur so wird verhindert, dass der rechte Zeitpunkt für einen Eingriff verpasst wird.

All das sind Aufgaben, deren Nutzen sich nicht in Euro und Cent ausrechnen lässt. Man wird nicht einmal unbedingt bemerken, wenn der Neuroophthalmologe fehlt, es sei denn, man schaut genau hin und sieht das Ganze einer Klinik oder gar des Gesundheitssystems. Diejenigen, die uns zum gewinnbringenden Arbeiten antreiben, möchten uns lieber eine Simultanagnosie verordnen. Man schaue gebannt auf die kleinstmögliche Einheit, rechne deren Einnahmen und Ausgaben und ignoriere, wenn im großen Stil anderswo Geld vergeudet wird, weil die Zusammenarbeit nicht mehr funktioniert. Es resultiert ein klinisches Schrebergartenmilieu, in dem jeder eifrig sein Grundstückchen pflegt und am Jahresende einen stolzen Ertrag präsentiert, sich aber hütet, allzu weit über seine Hecke zu schauen.

Neuroophthalmologie ermöglicht eine bessere Betreuung und effektiveres Arbeiten. Sie erwirtschaftet vergleichsweise wenig, ihr Nutzen entsteht in einem größeren Zusammenhang. Sie ist aber unbestreitbar kein finanziell attraktives Fach. Das gilt für viele andere Teilgebiete der Augenheilkunde auch, z. B. für die Immunologie oder die konservative Retinologie.

Augenheilkunde war noch nie ein rein operatives Fach, die konservative Augenheilkunde ist im ambulanten Bereich sogar dominierend. Wie kann vermieden werden, dass ein Bereich nach dem anderen wegbricht, die Refraktion an die Optiker, die Neuroophthalmologie an die Neurologen und die Immunologie an die Rheumatologen geht? Hier sind die großen Kliniken in der Pflicht. Jede Klinik mit voller Weiterbildungsberechtigung muss einen hauptamtlichen Neuroophthalmologen beschäftigen. Dieser kann gerne auch in der Neurologie angesiedelt sein, aber er braucht eine ophthalmologische Ausbildung, da er die Funktionsdiagnostik beherrschen muss. Er darf gerne mehr beherrschen als nur Neuroophthalmologie, aber diese muss er beherrschen. Von einer Etablierung der Neuroophthalmologie wie in den USA (wo jede große Klinik einen bzw. mehrere Neuroophthalmologen hat) sind wir weit entfernt. Austausch zwischen den Kliniken könnte dazu beitragen, die Aus- und Weiterbildung in diesem Fach zu verbessern.

Dazu soll auch dieses Themenheft beitragen. 5 Arbeiten werden präsentiert, eine Originalarbeit und 5 Übersichtsarbeiten. In der Originalarbeit von Wilhelm et al. werden die Symptome der Meningeome der vorderen Sehbahn erfasst. Die Meningeomtherapie ist in Tübingen ein Paradebeispiel einer fachübergreifenden, von der Neuroophthalmologie ausgehenden Kooperation, die es unter Einbeziehung der Strahlentherapie geschafft hat, bislang als untherapierbar geltende Tumoren erfolgreich zu behandeln. Die Erstpublikation der Therapieergebnisse soll in einer radioonkologischen Zeitschrift erfolgen, da jene Kollegen die Hauptlast getragen haben. Später ist eine Übersichtsarbeit zur Therapie in dieser Zeitschrift geplant.

Eine Übersichtsarbeit zum Thema Optikusneuropathien und ihre Therapie von Lagrèze vermittelt den aktuellen Stand und hinterfragt kritisch, wie viel „Evidenz” es eigentlich für die einzelnen lieb gewordenen Therapiemaßnahmen gibt. Gerade bei der Optikusneuritis sind kritische Anmerkungen, aber auch Hoffnung weckende Ausblicke zu finden.

Wermund und Salchow erklären verständlich das eigenartige Krankheitsbild der Neuromyotonie und entwickeln eine eigene Theorie zu deren Pathophysiologie, die hier zur Diskussion gestellt wird.

Ein sehr schwieriges Feld sind Pupillenstörungen bei Schäden der retrochiasmalen Sehbahn. Karolina Skorkóvskas Beitrag versucht, Klarheit zu schaffen. Sie kooperiert seit 2008 mit unserer Arbeitsgruppe Pupillenforschung.

Auch toxische Schäden sind Themen der Neuroophthalmologie, die Elektrophysiologie gehört zu unserem „Handwerkszeug”. Pluta und Rüther geben klare Ratschläge zu einem wichtigen Thema: Wie kontrolliert man Patienten unter Chloroquintherapie am besten?

Es mag scheinen, als bestünde die Neuroophthalmologie im Wesentlichen aus Diagnostik. Dies trifft aber nur dann zu, wenn man die naive Vorstellung hat, ärztliche Hilfe bedeute, jemanden gesund zu machen, gewissermaßen zu reparieren. Es ist richtig, solche therapeutischen Erfolge wie bei einer richtig indizierten Katarakt-Operation wird man in der Neuroophthalmologie selten erleben. Aber viele unserer Patienten brauchen dennoch Hilfe. Der Beitrag von Trauzettel-Klosinski ist ein wichtiger Beleg dafür, was Medizin auch ist: Helfen, auch wenn eine Restitutio ad integrum nicht möglich ist. Das Spektrum der ärztlichen Tätigkeit wird weiter definiert. Hilfe braucht man gerade da, wo es einfache Lösungen nicht gibt.

Diese Beiträge geben einen Eindruck, welch weiten Bereich die Neuroophthalmologie abzudecken hat. Den Autoren sei herzlich für ihre Mitarbeit gedankt.

H. Wilhelm, Tübingen

Prof. Dr. med. Helmut Wilhelm

Augenklinik, Department für Augenheilkunde, Universität Tübingen

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72076 Tübingen

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