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DOI: 10.1055/s-0028-1121946
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York
Seelische Erkrankung, Religion und Sinndeutung
Publication History
Publication Date:
15 January 2009 (online)
Herr Dr. Norbert Mönter, der Herausgeber - Arzt für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie und Psychoanalyse - hat eine große Fülle religiös-spiritueller Themen an Fachkollegen, Betroffene und Angehörige geschickt verteilt, sodass ein sehr lebenspraktisches und versorgungsrelevantes "Patchwork" der aktuellen Berührungspunkte von Religion und Psychiatrie entstanden ist, ohne daraus ein "missionierendes" Grundsatzwerk zu machen.
Noch vor 10 Jahren wäre ein derartiges Buch nur bei Insidern auf Interesse gestoßen; heute nimmt man fast erschrocken zur Kenntnis, dass Fragen zur Religion oder Spiritualität bisher nicht Bestandteil der Routineexploration sind (Reischies).
Dieser Aspekt mutet auf den ersten Blick geradezu paradox an, da die Rate an Menschen ohne Bekenntnis von 0% im Jahr 1960 über 2% 1970 auf mittlerweile 34% im Jahre 2005 angestiegen ist und sich vermutlich exponenziell weiter erhöhen wird. S. Freud, so referiert Stoffls, würde wohl "jubeln". Für ihn war Religion ein Sinnbild für pathologische Verdrängung und Verleugnung von Triebwünschen und somit "Brutstelle der Neurosen". Für Otto Kernberg jedoch, den bekannten Borderline-Forscher mit psychoanalytischem Hintergrund, ist die Religion zum "Helfershelfer" der Psychotherapie geworden, ohne die eine haltgebende Sinnfindung in der Erkrankung nicht möglich sei.
P. Bräunig beleuchtet die gemeinsamen Wurzeln von Religion und Psychiatrie. Durch die Aufklärung mit sukzessiver Säkularisation der ehemaligen religiösen Domänen habe in den letzten 100 Jahren die Bedeutung von Seelsorgern und Priestern stark nachgelassen, die Funktion des Psychiaters als "Seelensorger" jedoch erheblich an Bedeutung gewonnen. Nach Einschätzung des Referenten wird hierbei die anhaltende Gültigkeit des bekannten Kant-Zitates, die "Metaphysik" sei "unhintertreiblich", sehr deutlich. Auch wenn molekulargenetische Forschungen vermuten lassen, dass die Empfänglichkeit für Religiosität genetisch codiert sei (Northoff), kann die naturwissenschaftliche Entmystifizierung des Menschseins gerade bei chronisch kranken Menschen das Gefühl von Verlassenheit und Verlorenheit verstärken: "Wer den Himmel leerfegt, verstärkt die Geworfenheit des Menschen".
Der klassische Religionsbegriff hat sich erweitert zugunsten pluralistischer "Privatbekenntnisse". Dieser "Patchwork-Glaube" scheint Ausdruck dafür zu sein, dass dem Menschen neben seiner naturwissenschaftlichen Ratio ein endogenes Bedürfnis nach transzendenter Sinnerfüllung, Geborgenheit und Heilserwartung innewohnt. Im Sinne von Viktor Frankl kommt hierbei der Religiosität vor allem bei chronischen Erkrankungen eine sinnstiftende Funktion zu.
Allen psychiatrisch-psychotherapeutisch Tätigen jeglicher religiöser Couleur ist die Lektüre dieses Buches dringend zu empfehlen, um im wahrsten Sinne des Wortes durch eine "ökomenische Kooperation" unseren Auftrag optimal erfüllen zu können: die bei uns Hilfe suchenden Menschen ganzheitlich zu unterstützen.
Josef Bäuml, München
Email: j.baeuml@lrz.tu-muenchen.de
Mönter N, Hrsg. Seelische Erkrankung, Religion und Sinndeutung. Bonn: Psychiatrie Verlag, 2007. 19,90 € ISBN 978-3-88414-419-0