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DOI: 10.1055/s-0029-1220816
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York
Die Sprache der Wissenschaft ist unreformierbar
Zum Beitrag von Hoffmann-Richter U. Wissenschaftssprache - Hindernis oder Denkhilfe? - eine Sprachkritik. Psychiat Prax 2008; 35: 369-372Publication History
Publication Date:
06 April 2009 (online)
Ulrike Hoffmann-Richter denkt - sicher nicht nur in diesem Beitrag - über die Wissenschaftssprache nach, über deren Mängel, Verbote und Rituale, über deren Adressaten und Funktionen. Und, wie es sich für eine Ärztin gehört, über Therapien. So indiziert all die Überlegungen sind, so wage ich - als Nichtmediziner, sondern als Medizinjournalist - eine Prognose: Dies ist verlorene Liebesmüh, so erfreulich die in dieser Zeitschrift erwünschte Debatte darüber auch sein mag. Die Sprache der Wissenschaftler ist unreformierbar.
Wenn es, wie sie schreibt, heute noch Standard ist, dass ein Wissenschaftler in einem Text nicht "ich" sagen darf, dass er nicht erzählen und keine Metaphern benutzen darf, dann ist die Beziehung zur (oder besser: das Verständnis der) Sprache so massiv gestört, dass dagegen auch hundert solch gut gemeinter Beiträge nicht ankommen.
Die Welt mag sich verändert haben im Lauf der Geschichte, aber noch immer gefallen sich Akademiker - einschließlich der Psychiater und Psychologen - mit ihrem sterilen Fachkauderwelsch und dem beklagenswerten Rückzug ins unpersönliche, subjektivfreie Passiv. Das allein hat viel gravierendere Folgen als das Ich- und Metaphern-Verbot. Überdies: Hat es denn jemals ein Wissenschaftler erlebt, dass ein Text abgelehnt oder heftig redigiert wurde, weil darin ein paar Ichs und Metaphern und erzählerische Passagen vorkamen? Steht davon etwas in den Autorenhinweisen für Zeitschriftenbeiträge, Sammelbände und Monografien? Warum wird denn nicht begriffen, dass diejenigen, die anschaulich, verständlich, alltagsbezogen, aber treffend über ein Thema schreiben können, die Sache viel eher begriffen haben und ihr öffentlich mehr dienen als die Medizinlateiner und Soziologenchinesen?
Ich gebe ein Beispiel. Ich habe einmal eine Rechtsmedizinerin gebeten, mir zu sagen, wie sie die Qualität dieses einen Satzes einschätzt, der einen Beitrag zu einer Dekapitation einleitete und im "Archiv für Kriminologie", Heft3 und 4/2006, erschienen war: "Wegen der allfälligen Gefahr der Vortäuschung einer sich zunächst aus der Auffindungssituation ergebenden Evidenz einer suizidalen, aufgrund eines Sturzes in die laufende Schlinge eines Strangwerkzeuges bedingten Dekapitation bedarf es zur Minimierung der Wahrscheinlichkeit einer homizidalen Thanatogenese neben der Durchführung autoptischer, spurenkundlicher und (zum Ausschluss einer Beeinträchtigung der Handlungsfähigkeit ) toxikologischer Plausibilität zuerst der kritischen Überprüfung der dynamischen Überprüfung des Dekapitationsvorganges - erst recht dann, wenn wie in dem im Folgenden vorzutragenden Fall die Lage und der Zustand des infrage stehenden Strangwerkzeuges aus kriminalpolizeilicher Sicht Zweifel am dynamischen Ablauf aufkommen lassen."
Sie diagnostizierte, dass der Text sich einer bewusst komplizierten Terminologie bedient und war - nach harter Arbeit - in der Lage, ihn etwas verständlicher und sogar knapper zu fassen. Erstrebenswert ist es aber, dass solch ein Satz gar nicht erst in einen Kopf kommt, am besten nie gedacht und von keiner Redaktion veröffentlicht wird. Aber darauf können wir lange, lange warten.
Ulrike Hoffmann-Richter stellt fest, "dass mit der Textsorte die Entscheidung über den bzw. die Adressaten fällt". Das ist nicht falsch gesehen, aber viel richtiger und wichtiger ist das Gegenteil: Die Adressaten entscheiden über die Textsorte. Mit anderen Worten: Einem Gericht kann man kein Gedicht vortragen, einem 15-jährigen Drogenkonsumenten kein Gutachten, der Tante keinen Forschungsantrag. Vielleicht ist es kein dummer Gedanke, den Glauben an fein säuberlich zu trennende Textsorten etwas zu dämpfen, für die es ja ohnehin kaum unverrückbare, überall anerkannte und praktizierte Regeln gibt (ich sage das als jemand, der einmal ein Buch über 19 journalistische Textgattungen geschrieben hat).
Die Autorin beklagt, dass es zu diesem Thema kaum Literatur gibt. Das war einmal. Die Masse der Bücher, Aufsätze, Seminare und Tagungen zu diesem Thema ist seit einigen Jahren gar nicht mehr zu durchdringen. Anleitungen zum (guten) wissenschaftlichen Schreiben, zur professionellen Wissenschaftskommunikation gibt es zuhauf, ich nenne nur - als Auswahl - Autorennamen wie Pörksen, Ebel, Bliefert, von Aretin, Wess, Langer, Schulz von Thun, Tausch, Esselborn-Krumbiegel, von Werder, Jakobs und Knorr. Besonders nützlich und zahlreich sind die einschlägigen Titel des Berliner Verlages Autorenhaus;dort sind rund 50 Bücher allein zum Thema Schreiben erschienen,auch zum Abfassen wissenschaftlicher Texte.
Sehr empfehlenswert ist genau zu den Punkten, die Hoffmann-Richter mit Blick auf Metaphernmangel und Textsortenwahl anspricht, die Dissertation des Mathematikers und Linguisten Vasco Alexander Schmidt: "Grade der Fachlichkeit in Textsorten zum Themenbereich Mathematik", mit 756 Seiten 2003 bei Weidler in Berlin erschienen. Schmidt zeigt unter anderem, dass es in einer angeblich so trockenen und komplizierten Materie wie der Mathematik oft erzählende Texte gibt - und die haben beste Chancen, gelesen und verstanden zu werden. Übrigens: Es gibt (auch im Internet) seit Längerem mit dem Gunning-Fox- und dem Flesch-Index recht brauchbare Verfahren, mit deren Hilfe man seine Texte - getrennt nach Englisch und Deutsch - auf Verständlichkeit überprüfen kann.
Das Dilemma wird sich so lange nicht lösen, wie ein Verlag ein von ihm herausgegebenes Buch (in diesem Fall das von Margot Müther mit dem Titel "Bericht an den (VT)Gutachter. Schneller, leichter, kompetent") mit diesen Worten ankündigt: "Der Kassenantrag mit Bericht an den Gutachter gehört wohl zu den meistgehassten Arbeiten in der psychotherapeutischen Praxis, die man von Wochenende zu Wochenende vor sich herschiebt." Woher diese Phobie, dieses gebrochene Verhältnis zum Alltagswerkzeug Sprache?
Eckart Klaus Roloff, Bonn
Email: ekroloff@web.de