Psychiatr Prax 2009; 36(6): 301-302
DOI: 10.1055/s-0029-1239620
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Das autistisch-undisziplinierte Denken im psychiatrischen Jargon

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01 September 2009 (online)

 

Die wohl meistzitierte Publikation von Eugen Bleuler nach der mit seinem Namen untrennbar verknüpften "Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenien" (1911) ist das 1919 erschienene Büchlein "Das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin und seine Überwindung" [1]. Das Erscheinungsdatum der 1.Auflage jährt sich dieses Jahr zum 90.Mal und im Gegensatz zu nahezu allen anderen Publikationen aus dieser Zeit ist bei dieser die unverminderte Aktualität unter einer nur dünnen historischen Patina sofort zu erkennen. Ironischerweise war kein anderes Werk Bleulers bei seinem Erscheinen so heftig kritisiert worden. Zu diesem Zeitpunkt immerhin schon seit 33 Jahren psychiatrischer Anstaltsdirektor und seit 21 Jahren Ordinarius in Zürich, hatte Bleuler sich angemaßt, Denkstile und Behandlungsgewohnheiten nicht nur in der Psychiatrie, sondern in der gesamten Medizin einer scharfen Kritik zu unterziehen. Die Grundlage seiner Analyse war die Beobachtung der psychischen ebenso wie aller Formen von körperlichen Erkrankungen bei den Anstaltsinsassen im langjährigen Verlauf. Die zahlreichen Behandlungsvorschläge der damaligen Medizin, mit denen er sich durchweg kritisch auseinandersetzte und die er für eher schädlich als nützlich hielt, sind heute, abgesehen von der unbeirrt fortbestehenden Eigenwelt der Homöopathie, ausnahmslos längst dem Urteil mangelnder Wirksamkeitsnachweise zum Opfer gefallen. Bleulers Argumentation bezog sich darauf, wie das vermeintliche ärztliche Wissen und die hohe subjektive Überzeugung von Ärzten und Patienten zustande kamen: Wunschdenken, Geltungsbedürfnis, Erwartungshaltungen, Placeboeffekte, falsche Kausalattributionen und falsche logische Schlussfolgerungen. Dieses Denken, das er überall in der Medizin antraf, nannte er "autistisch-undiszipliniert": "Dieses hat seine besonderen von der (realistischen) Logik abweichenden Gesetze, es sucht nicht Wahrheit, sondern Erfüllung von Wünschen; zufällige Ideenverbindungen, vage Analogien, vor allem aber affektive Bedürfnisse ersetzen ihm an vielen Orten die im strengen realistisch-logischen Denken zu verwendenden Erfahrungsassoziationen" ([1], S.1). Viele uns unvermindert beschäftigenden Probleme benannte er weitsichtig und in klaren Formulierungen. Dazu gehören die recht beliebige Verwendung unscharf definierter Begriffe ([1], S.57ff.) ebenso wie die Notwendigkeit der Kenntnis unbehandelter Verläufe zur Beurteilung eines Therapieverfahrens, wenngleich "Kontrollgruppe", "Verblindung" und "Randomisierung" noch nicht erfunden waren. "Es ist eine alte und selbstverständliche Konstatierung, dass je mehr Mittel gegen eine Krankheit empfohlen werden, umso gewisser keines wirkt; da liegt bei allen den zahlreichen Krankheiten, wo viele Mittel empfohlen werden, die Frage sehr nahe: Wäre es nicht am besten oder wenigstens gleich gut, gar nichts zu machen? da ich selbst in den vielen hierher gehörigen Fällen das Nichtsanwenden 15 Jahre lang an einer Anstaltsbevölkerung von über 800 Personen und in meiner Familie erprobt habe, glaube ich zu wissen, dass wirklich für eine ziemliche Zahl der gewöhnlichen Krankheiten das Nichtsmachen oder wenigstens das Nichtmedizieren gar nicht unzuträglich ist" ([1], S. 10-11). Bleuler hatte durchaus restriktive Ansichten bezüglich des Nutzens der Medizin. Seine Haltung würde man heute als "strikt evidenzbasiert" bezeichnen und sie etwa im Grundtenor des British Medical Journal wiederfinden: "Ich meine also, man solle medizinieren, wo man weiß, dass es nötig oder nützlich ist, sonst aber nicht, und man sollte zu erforschen suchen, nicht nur welches Mittel besser ist als ein anderes, sondern ob überhaupt die Anwendung eines Mittels besser ist, als die Natur machen zu lassen" ([1], S.16). Dabei war ihm die Komplexität medizinischer Fragestellungen (der wir auch heute noch oft in der Forschung mit viel zu restriktiven Methoden begegnen) durchaus bewusst: "Auch da, wo wir richtige Fragestellungen haben, ist die Kompliziertheit und Unübersehbarkeit mancher Probleme oft so groß, dass ihr das realistische Denken unmöglich gerecht werden kann und die Grenzen zwischen ungenügend begründeter Hypothese und autistischer Scheinerklärung verschwinden" ([1], S.3). Dass das in der Medizin so verbreitete undisziplinierte Denken und die Neigung zu voreiligen Schlussfolgerungen keine entschuldbare Attitüde sind, sondern für das gesamte Ideengebäude und den Kenntnisstand recht fatale Auswirkungen haben, beschrieb er unmissverständlich: "Irrtümer, nicht Lücken, hindern die Wissenschaft am Fortschreiten. Zu den folgenschwersten Irrtümern gehört, dass man meint, etwas zu wissen, was man nicht weiß; und wenn man sich auch nur vor anderen den Anschein gibt, etwas zu wissen, was in Wirklichkeit unbekannt ist, so hat das auf die anderen und schließlich auch auf sich selber die nämliche Wirkung" ([1], S. 15-16).

Literatur

  • 01 Bleuler E . Das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin und seine Überwindung. 5. Auflage. Berlin: Springer, 1976. 
  • 02 Fritze J . Aldenhoff J . Bergmann F . et al . für die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) und die Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie und Pharmakopsychiatrie (AGNP). Wirksamkeit von Antidepressiva - Stellungnahme zu Irving Kirsch. Der Nervenarzt 2008; 79: 505. 
  • 03 Rush AJ . Trivedi MH . Wisniewski SR . et al . Acute and longer-term outcomes in depressed outpatients requiring one or several treatment steps: a STAR*D report.  Am J Psychiatry. 2006;  163 1905-1917
  • 04 Luborsky L . Rosenthal R . Diguer L . et al . The Dodo bird verdict is alive and well - mostly.  Clin Psychol Sci Pract. 2002;  9 2-12
  • 05 Meyer R . Postmenopausale Hormontherapie: Das Brustkrebsrisiko wurde erneut bestätigt.  Dtsch Ärztebl. 2009;  106 (22) 371-376
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  • 09 Seiler CM . Knaebel HP . Wente MN . et al . Plädoyer für mehr evidenzbasierte Chirurgie.  Dtsch Ärztebl. 2004;  101 (6) A 338
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  • 11 Steinert T . Wirksamkeit von Antidepressiva: Evidence b(i)ased Medicine.  Psychiat Prax. 2008;  9 151
  • 12 Perkonigg A . Rumpf HJ . Wittchen HU . Remission from substance dependence without formal help among adolescents and young adults.  Sucht. 2009;  55 86-97