Der Klinikarzt 2009; 38(9): 367
DOI: 10.1055/s-0029-1242039
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Bewertungen und Entscheidungen auf der Basis von Referenzwerten

Adolf Grünert
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Publication Date:
02 October 2009 (online)

Die Eisschnellläuferin, mehrfache Olympiasiegerin und Weltmeisterin Claudia Pechstein soll wegen angeblichen Dopings für 2 Jahre gesperrt werden. Diese schockierende Mitteilung finden wir in der Ausgabe 127 vom 10./11. Juli 2009 der Ärzte–Zeitung auf Seite 2 unter dem Titel: Opfer oder Täterin? Der Dopingverdacht gegen Claudia Pechstein ist medizinisch komplex.

Um es gleich klarzustellen: Uns geht es keineswegs um eine Einmischung in den unergründbaren Sumpf des Dopings im Leistungssport. Vom ethischen, biochemischen und medizinisch–gesundheitlichen Standpunkt kann es keinen Zweifel an der Ächtung leistungssteigender Manipulationen im Sport im Allgemeinen und im Hochleistungs–Spitzensport im Besonderen geben. Nur, wo liegen die Anfänge und Grenzen solcher Maßnahmen?

Das IOC definiert Doping heute: „Doping ist die beabsichtigte oder unbeabsichtigte Verwendung von Substanzen aus verbotenen Wirkstoffgruppen und die Anwendung verbotener Methoden entsprechend der aktuellen Dopingliste”. www1.uni-hamburg.de/spomed/scripte_2005_2006/19072/Doping.pdf

In dem oben zitierten Beitrag geht es um eine sogenannte Indizienbeweisführung zur Begründung der Sperre, der ein Musterbeispiel an arroganter, ignoranter Verwendung von Messwerten und sogenannter Referenzwerte von Retikulozytenzahlen zugrunde gelegt wurde. In unverschämter Weise wird mit einer offensichtlich nicht selbst empfundenen Anmaßung eine Scheinbegründung zurechtgezimmert für eine harte Entscheidung durch die Internationale Eisschnelllauf–Union – offensichtlich ohne jede Sachkompetenz.

Es ist richtig, dass die Interpretation einer biochemischen oder allgemein labordiagnostisch ermittelten Messgröße nur sinnvoll bezüglich der physiologischen oder pathologischen Qualität möglich ist, im Vergleich mit den Daten eines dem individuell untersuchten Menschen entsprechenden Kollektivs „gesunder Vergleichspersonen”. Die international benutzten Referenzwert–Bereiche zeigen aber Einschränkungen ihrer Gültigkeit, die in der täglichen Anwendung weder berücksichtigt werden, noch wirklich bekannt sind und wahrgenommen werden: Die Kollektive sind in aller Regel sowohl was den Umfang und die Zusammensetzung als auch die Kenngrößen wie Alter, Gewicht, Konstitution und Gesundheitszustand betrifft, nicht präzisiert. Auch die physikalischen Rahmenbedingungen wie die Technik der Blutentnahme, Position des Patienten (liegend, sitzend, stehend), Tageszeit und viele andere Parameter sind unbekannt, obwohl die Beeinflussungen der Messwerte durch diese Rahmenbedingungen unstrittig sind. Einen ganz mächtigen Einfluss üben die eingesetzten Messverfahren aus, bei denen nicht nur die speziellen physikalisch–analytischen Messverfahren selbst, sondern in überwiegendem Maße auch die eingesetzten Kalibrierungstechniken, Kalibratoren und Matrixbeschaffenheiten die Ergebnisse beeinflussen.

Der entscheidende Punkt ist dabei, dass die aktuell eingesetzten Messverfahren und Arbeitsvorschriften meist den für die Erstellung der Referenzwerte eingesetzten Verfahren nicht entsprechen. Allein aufgrund dieser zahlreichen und beliebig vermehrbaren Aspekte ist leicht nachvollziehbar, dass es obsolet ist, sowohl von Normwerten als auch von Normbereichen zu sprechen. Beide Begriffe unterstellen für die Referenzwerte, wie auch die anhand der biologischen Streuung naturgegebenen Bereichsbildungen eine Allgemeingültigkeit und „juristisch” einsetzbare Qualität, wie sie im biologischen Bereich nicht vorkommt. Nur so kann es passieren, dass solche Wertekonstellationen zu Entscheidungen herangezogen werden, für die sie nicht geeignet sind. Die vorgetragenen Überlegungen zum Referenzwerte–Problem zeigen gerade mit den im angeführten Sportlerstreit benutzten Bereich der Retikulozyten ein Musterbeispiel der missbrauchten Daten, welches die gesamte Problematik überdeutlich belegt: Den angeführten Referenzbereich für die relativen Retikulozytengehalte kann man nur einsetzen, wenn bekannt ist, ob es sich dabei um einen auf die Hämatokritwerte normierten Bereich handelt und ob die Messtechnik in beiden Fällen die gleiche ist: Wie hinreichend belegt und bekannt ist, unterscheiden sich die Messwerte nicht nur zwischen den mikroskopischen und z. B. durchflusszytometrischen Analysen als auch bezüglich der Probenmaterialien erheblich, was im Prinzip die Anwendbarkeit des gewählten Referenzwerte–Bereichs entscheidet.

Wir müssen ganz entschieden davor warnen, jetzt mit großem „pseudowissenschaftlichen” Argumentieren genom–analytische Untersuchungen zu fordern, um durch eine genomische Variante, die unter den in 9 Jahren erfolgten Kontrollen der Retikulozytenkonzentrationen bei etwa 15? % der Ergebnisse außerhalb des angeführten aber nicht näher charakterisierten Referenzwerte–Bereiches liegenden Werte als plausibel zu interpretieren. Man würde dabei an einer einzelnen Schraube eines sehr komplexen Systems drehen, deren Auswirkung nicht nur nicht vorhersehbar, sondern aufgrund der Komplexität mit Sicherheit nicht interpretierbar wäre. Bei allen Spekulationen empfehlen wir, auf den gesicherten Boden wie der Definition des Dopings durch das IOC zurückzukehren, um von vornherein Spekulationen der Manipulation und gezielter Kampagnen zu unterbinden.

Prof. Dr. mult. Adolf Grünert

Ulm

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