Psychiatr Prax 2009; 36(7): 348-349
DOI: 10.1055/s-0029-1242047
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Leserbrief
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Steinert T. Das autistisch-undisziplinierte Denken im psychiatrischen Jargon. Psychiat Prax 2009; 36: 301-302

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Publication Date:
01 October 2009 (online)

 

Die Ausführungen von Tilman Steinert haben mich ungeheuer stark angesprochen; sie treffen ins Zentrum der morschen Psychiatrie.

Ich habe nur einen einzigen Einwand - besser: eine Ergänzung: Die (Sprach-)Zustände in der heutigen Klinikpsychiatrie sind noch viel schlimmer, als Tilman Steinert schreibt (er muss auch mehr Rücksicht nehmen als ich). Es herrscht ubiquitär Lug und Trug und Schönrednerei. Birger Dulz aus und in Hamburg hatte im September 2009 den Mut, zu eben diesem Thema "Lug und Trug" ein Symposium für Psychotherapeuten und Kliniker zu veranstalten.

Ich spreche dieses harte Urteil nach nunmehr bald 40 Jahren Psychiatrieerfahrung als Klinischer Psychologe der PUK Zürich, der kurz vor seiner Pensionierung steht. Wohlverstanden: Ich bin nicht der Verbitterungspersönlichkeitsstörung, die uns demnächst als 13. Blume im bunten Strauß der DSM-Persönlichkeitsstörungen beglücken wird, anheimgefallen - im Gegenteil: Ich betrachte das Klinikgeschehen eher im Rahmen einer Groteske oder Burleske oder als surreales Theater.

Was uns die jeweiligen Revisionen von ICD und DSM an neuen reduktionistischen Kunststückchen bescheren, geht auf keine Kuhhaut; und wie die Begriffe autistisch-undiszipliniert changiert und rangiert werden (zum Teil aus political correctness), das schleckt, wie wir in der Schweiz sagen, keine Geiß ohne Indigestionen weg. Diesen Un- und Wahnsinn durchschaut nur der, der die Mutationen von IC-6 (wo die Psychiatrie zum ersten Mal auftaucht) zu ICD-10 (und ICD-11 steht schon bedrohlich ante portas) minutiös nachvollzieht und schaut, was sich wie gewandelt, wo es hingekommen und wo es hergekommen ist. Aus neuen, meist schlechteren Begriffen, die man scheinbar für wertfrei hält, werden flugs neue Krankheiten (also, epistemologisch gesprochen: aus Benennungen werden durch Reifizierung Entitäten), für die das passende Medikament, der brandneue Erfassungsbogen und die maßgeschneiderte Psychotherapie schon bereitliegen. Die Diagnostik wird nur nichtssagend pseudoverfeinert, denn die vorhandenen Therapien (es sind im Wesentlichen die gleichen wie vor 40 Jahren) können nicht mehr Schritt halten. Differenzialdiagnostik und Differenzialtherapie grüßen sich nicht mehr, da sie sich nicht mehr kennen. Wir haben zum Beispiel 12 Persönlichkeitsstörungen nach DSM (wunderbar erfassbar mittels SKID-II), aber selbstverständlich nicht 12 Psychotherapien oder 12 Medikamente zu deren Behandlung. Wir haben nicht einmal eine einzige Psychotherapie und nicht ein einziges Medikament zur Behandlung von Persönlichkeitsstörungen, auch wenn dies Dutzende von klugen Büchern behaupten. Die prätentiöse Differenzialdiagnostik ähnelt einem akrobatischen Seilakt: es erhebe sich derjenige, der eine Depression als Affektstörung von einer depressiven Persönlichkeitsstörung trennen kann.

Ich kann es nicht, und ich will es auch um Gottes willen nicht lernen. Und schon gar nicht mit dem unsäglichen SKID-I oder SKID-II.

Forschungsstudien zur differenziellen Wirksamkeit von Behandlungen kann ich nicht mehr lesen und auf Kongressen nicht mehr hören: VT gegen PA, WBT gegen Remeron, kognitives Training gegen supportive Therapie usf. Alle diese Studien, die im Wesentlichen von Universitätskliniken und Universitätsinstituten stammen, leiden unter dem unausrottbaren und unvermeidlichen Selektionsbias eines hoch selektiven Patientengutes, das nichts anderes darstellt als die milden, benignen, leichten Krankheitsfälle von Patienten mit enormer Compliance. Alles Schwerkranke und Unbehandelbare und Negativistische ist nicht mit von der Partie. Oder haben Sie schon einmal erlebt, dass sich ein chronisch misstrauischer paranoider Patient frohgemut in eine PET-Röhre legt für eine neurophysiologische Studie - oder mit einem sanften Lächeln 25 nette Fragebögen ausfüllt? Ich nicht. Oder eine weitere Wahrheit zur Wirksamkeit von hoch gelobten Therapien: DBT bei Borderline-Patientinnen: Wer sie braucht (das maligne Drittel), kann sie nicht; und wer sie kann (das benigne Drittel), braucht sie nicht.

Was zur Validität von grassierenden Metastudien zu sagen ist, steht im gleichen Heft wie die Steinert-Glosse.

Machen wir uns nichts vor: die Psychiatrie mutiert zur Neurologie, obwohl gerade die härtesten Proponenten des neurophysiologischen Mainstreams nicht müde werden zu betonen, welchen Stellenwert sie gerade in ihrer Klinik den psychotherapeutischen Behandlungsmethoden (wobei meistens die VT gemeint ist) einräumen. Dass das so kommt, war schon lange zu spüren. Dass aber alle Erkenntnisse der anthropologischen Psychiatrie, die unabdingbar sind für eine auf dem Erleben des Patienten fußende Psychopathologie, für eine Begegnungsdiagnostik und für eine personorientierte Psychotherapie nach bereits einen halben Jahrhundert vergessen sind, sodass die jungen Assistenzärzte meinen, Kisker sei ein Fußballer (um sogar einen der jüngeren Anthropopsychiater und Soziater zu nennen), das ist katastrophal und sinister. Die meisten unserer Assistenzärzte und klinischen Psychologen haben noch nie etwas von den Scharfetterschen Ich-Bewusstseinsstörungen bei Schizophrenen gehört, deren Entwicklung gerade mal ein Menschenalter zurückliegt. Ja, Herrschaften, glaubt denn wirklich einer, man könnte die Schizophrenie mit einem Fragebogen aus dem CIPS, der 38,5 Items umfasst oder so, diagnostizieren? Wie kann denn überhaupt ein klinischer Fragebogen ein persönliches Gespräch zur Psychopathologie ersetzen?

Ein Fragebogen, den man womöglich dem Patienten noch in der aufgeregten Situation der Aufnahme in die Klinik vorlegt, damit man dessen invalides Resultat gleich in den Leistungs- und Entschädigungskatalog der Krankenhasse (so weit sind wir inzwischen in der Schweiz) einordnen kann?

Ich kenne keine anderen Wissenschaften, die so ahistorisch sind wie die Psychiatrie und die Psychologie und deren Verbindung, die Psychopathologie. Kennen Sie jemanden, der noch das psychiatriehistorische Mammutwerk von Pauleikhoff gelesen hat?

So, ich höre auf. Ich habe mich heiß geschrieben. Ich entschuldige mich bei der Redaktion der Psychiatrischen Praxis für meine Tirade und dass sie als Protestkübel herhalten musste.

Hans-Martin Zöllner, Zürich

Email: hans-martin.zoellner@puk.zh.ch