Für den mit der Begutachtung der Asbestose befassten Leser ist
der Artikel eine äußerst spannende Lektüre. Den Autoren gelingt
es, gleich mehrere Konventionen in der gutachterlichen Bewertung von
asbestbedingten Folgeschäden nachhaltig zu erschüttern. So gilt es
nach einschlägigen Empfehlungen [1] bislang als
ausgemacht, dass „obstruktive
Ventilationsstörungen … bei Asbestose nicht typisch
bzw. nicht häufiger als in der Allgemeinbevölkerung zu
erwarten” sind. Als „erhebliche” (d. h.
MdE-relevante) Pleuraveränderungen gelten derzeit lediglich solche der
„visceralen Pleura (diffuse langstreckige Veränderungen),
Pleuraschwarten insbesondere mit Verlötung des costophrenischen Winkels
(CW) und/oder Ausbildung von Rollatelektasen und Lappenschrumpfungen”
[1]. Für geringer ausgeprägte Pleurabefunde
wird bislang allenfalls eine Stütz-MdE von 10 v. H.
diskutiert. Die von Baur und Wilken dargestellten Ergebnisse von klinischen und
Lungenfunktionsbefunden bei Exponierten ohne radiologisch objektivierbare
Veränderungen spielen für die gutachterliche
Entschädigungspraxis derzeit keine Rolle.
Wenn es, wie die Autoren schlussfolgern, richtig ist, dass
„parenchymatöse Schäden mit funktionellen Auswirkungen bereits
bei fehlenden oder nur geringgradigen radiologischen Befunden”
vorliegen, so unterstreicht dies die Notwendigkeit einer umfassenden pulmonalen
Funktionsdiagnostik als Grundlage einer wohlbegründeten und gerechten
Entschädigungspraxis. Mit einer spirometrischen Messung (wie von manchen
beauftragenden Berufsgenossenschaften praktiziert) ist hier nichts
auszurichten.
Der Artikel wirft wie jeder innovative Diskussionsbeitrag eine Reihe
von Fragen auf, die man als praktisch tätiger Gutachter gerne beantwortet
hätte:
-
Lässt sich die durch Pleurabefunde bedingte
Einschränkung der Lungenfunktion noch differenzierter nach Art
(visceral/parietal) bzw. Ausmaß der Pleuraplaques darstellen?
-
Wäre es möglich, im Rahmen einer integrierenden
Metaanalyse der aufgeführten Studien die asbestbedingten
Lungenfunktionseinschränkungen den jeweiligen radiologischen Befunden
zuzuordnen?