manuelletherapie 2010; 14(3): 89-90
DOI: 10.1055/s-0029-1245520
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Direct Access – Wunschtraum oder vielleicht bald Wirklichkeit?

C. Beyerlein1
  • 1physiotherapie Beyerlein, Privatpraxis für Physiotherapie und Manuelle Therapie
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
29. Juli 2010 (online)

Sicherlich haben Sie schon von Direct Access, First Contact Practitioner oder Erstzugang gehört. Alle Bezeichnungen beschreiben ein Phänomen, das im europäischen und angloamerikanischen Ausland seit vielen Jahren erfolgreich praktiziert wird. Mit erfolgreich meine ich insbesondere, ohne dem Patienten Schaden zuzufügen oder ihn zu gefährden.

Direct Access bedeutet die Behandlung des Patienten durch den Physiotherapeuten ohne ärztliche Überweisung. Wie steht es denn um den Direct Access? Wann wird er realistisch in Deutschland etabliert sein? Welche Hürden müssen wir auf diesem Weg nehmen? Wer definiert eigentlich den Zugang zur Patientenversorgung und den Umfang zur GKV-Leistung? Fragen, auf die wir zurzeit nicht immer eine konkrete Antwort haben. Zwar scheinen die Wogen etwas geglättet, aber bis vor einiger Zeit machten Schlagzeilen wie „feindliche Übernahme” und „Akademisierung des Proletariats” die Runden, wenn es darum ging, dass Physiotherapeuten Patienten im Direktzugang behandeln.

Auch der Hauptstadtkongress in Berlin im Mai dieses Jahres zeigte deutlich, dass man zwar versucht, sich gegenseitig anzunähern, aber die Gräben nach wie vor sehr tief sind. Der Gesundheitsökonom Prof. Neubauer erklärte das z. B. mit einer dramatischen Finanzierungsnot der Gesundheitsleistungen in Deutschland. Das Behandlungsmonopol der Ärzte in Deutschland hat einen ökonomischen Hintergrund. Rein fachlich gesehen, müssten die Ärzte bei jeder Verordnung eigentlich wissen, was der Spezialist macht – ein Widerspruch in sich. Das bedeutet, seitens der Physiotherapeuten besteht trotz größerer Expertise (z. B. bei Beschwerden am muskuloskelettalen System) eine inhaltliche Abhängigkeit von der ärztlichen Verordnung.

Vielleicht ist das der Hauptgrund, warum die überwiegende Mehrheit der deutschen Physiotherapeuten den Direct Access will. Sie möchten eigenständig über die adäquate Therapie für den Patienten bei einem spezifischen Problem entscheiden ebenso wie darüber, welcher Patient für eine physiotherapeutische Behandlung überhaupt geeignet ist oder eben nicht. Hierbei geht es keineswegs um den Ersatz einer ärztlichen Diagnose nach ICF, sondern um das „Filtern” (Screening) des Patienten.

Neben der inhaltlichen besteht die ökonomische Abhängigkeit. Diese mündet häufig in ökonomische Gefälligkeiten, besser bekannt unter „integrativer Versorgung”. Neugebauer sieht derzeit 3 verschiedene Möglichkeiten für den Direct Access: (1) Festlegung der Bedarfsnotwendigkeit (Indikation) durch den Arzt, d. h. Therapie, Behandlungsdauer und -frequenz wählen die Physiotherapeuten frei; (2) Heilmittelersteller (Physiotherapeuten) legen Bedarfsnotwendigkeit und Angemessenheit der Heilmittelversorgung selbst fest, Kontrolle und Budgetierung durch die Krankenkasse und (3) Direktzugang für Selbstzahler und Patienten, die Kostenerstattung und prozentuale Kostenbeteiligung gewählt haben, die Kassen steuern Patienten direkt zu bevorzugten Heilmittelerstellern (z. B. Physiotherapeuten mit bestimmten Qualifikationen).

Jetzt wird es interessant: Welche Kompetenzen müssen Physiotherapeuten eigentlich haben, um im Direktzugang zu praktizieren? Bringt eine langjährige Ausbildung in Manueller Therapie entscheidende Vorteile für den Direct Access? Wie viele Jahre Berufserfahrung sind dazu notwendig, und ist ein Studium für den Direct Access verpflichtend? Welche Hausaufgaben haben wir letztendlich zu machen?

Prof. Heidi Höppner aus Kiel gab ihrer Präsentation auf dem Hauptstadtkongress den Untertitel Mögen die Richtigen das Richtige richtig tun. Ich fand das sehr treffend! Mögen Physiotherapeuten in der Befunderhebung/Untersuchung erkennen, wann ihre Grenzen erreicht sind. Die Fähigkeiten, Risikofaktoren (Red Flags) für die Behandlung zu erkennen, müssen in der Schulausbildung sowie der Fort- und Weiterbildung von Physiotherapeuten fester Bestandteil sein –, ganz besonders in der Ausbildung zum Manualtherapeuten! Wenn wir diese Kernkompetenzen in die Ausbildung integrieren, haben wir einen wichtigen Schritt getan. Dann geht es – wie auch auf dem Hauptstadtkongress betont – nicht um die Frage Direct Access ja oder nein, sondern vielmehr darum, wie der Direktzugang umgesetzt und ausgestaltet werden kann.

Aus meiner Sicht darf der Direct Access auch nicht an die Akademisierung gekoppelt werden. Diese ist für die Entwicklung zu einer Profession wichtig, aber warum sollten Manualtherapeuten mit einem OMT-Abschluss weniger geeignet sein als Physiotherapeuten mit einem Bachelor? Das wäre nicht nachvollziehbar. Jeder Physiotherapeut, der den Direktzugang praktizieren möchte, sollte die Chance bekommen, seine Fähigkeiten mit einer Kenntnisprüfung unter Beweis zu stellen. Dabei sollten die Sicherheit des Patienten und die Qualität der Behandlung im Vordergrund stehen. Sicherheit erreichen wir durch Erfahrung einerseits und der Kenntnis der eigenen Grenzen andererseits. Das Ziel muss sein, die Patienten nicht zu schädigen oder ihre Leideszeit zu vergrößern. Die Qualität der Behandlung erzielen wir durch eine Evidenzbasierung und dem Wissen über Nutzen und Wirksamkeitsnachweise in der Physiotherapie. Wenn wir das beherzigen, sind wir auf einem guten Weg und eben auch weniger angreifbar für die Berufsgruppe der Ärzte.

Physiotherapeuten in Deutschland werden sich zukünftig weiter auf erheblichen Gegenwind einstellen müssen, gerade auch, weil der Kuchen im Gesundheitswesen eben nur eine bestimmte Größe hat. Laut Prof. Neubauer hat jeder Mensch das Recht, nach seinem Vorteil zu streben, und deshalb werden Ärzte versuchen, ihr Kuchenstück so gut es geht zu verteidigen. Wir als Berufsgruppe müssen uns im Klaren sein, dass der Direct Access neben seinen Rechten (Behandlung von Patienten unabhängig von der ärztlichen Verordnung) auch Pflichten (z. B. höhere Verantwortung, Budgetierung, Regressforderungen) mit sich bringen kann. Wenn wir uns dessen bewusst sind und uns als Einheit präsentieren, ist der Direct Access meines Erachtens kein Wunschtraum mehr.

Wie denken Sie eigentlich über den Direktzugang? Schreiben Sie uns Ihre Meinung dazu an die Redaktion der Zeitschrift manuelletherapie.

Ich wünsche Ihnen einen schönen und erholsamen Sommer. Bleiben Sie gesund!

Herzliche Grüße

Claus Beyerlein

Claus Beyerlein

PT/OMT-DVMT, MManipTh, (Curtin University/Australien)

eMail: info@physiotherapie-beyerlein.de

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