Der Klinikarzt 2010; 39(1): 3
DOI: 10.1055/s-0030-1249230
Editorial

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Autonomie oder Euthanasie?

Günther J. Wiedemann
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Publication Date:
11 February 2010 (online)

Als im September 2009 das Gesetz über die Patientenverfügung in Kraft trat, gab es in der Öffentlichkeit und den Medien überwiegend Zustimmung. In der Süddeutschen Zeitung war die Rede davon, dass dieses Gesetz „dem Kranken nach vielen Jahrhunderten der finalen Entmündigung ein Recht gibt auf den eigenen Tod“.

Ein eigener Tod – was ist das? Steht diese Formulierung wirklich für einen natürlichen Tod, der einem Patienten nach seinem freien Willen zugestanden wird? Wieso musste dann die damalige Justizministerin Brigitte Zypries kurz vor Inkrafttreten des Gesetzes erklären, selbstverständlich könne niemand zur Abfassung einer Patientenverfügung gezwungen werden, schon gar nicht als Bedingung für die Aufnahme in ein Pflegeheim. Hier zeigt sich ein grundlegendes Dilemma der Patientenverfügung. Nicht selten wird eine weitere Behandlung von Schwer- und Sterbenskranken deswegen abgelehnt, weil sie ihren Angehörigen oder der Gesellschaft nicht zur Last fallen möchten. Ist das Patientenautonomie – oder eher ein mehr oder weniger subtil ausgeübter Zwang zum „sozialverträglichen Frühableben“?

Ein weiteres Problem ist die Übertragbarkeit der Situation, in der die Patientenverfügung abgefasst wurde, auf den konkreten Zeitpunkt, zu dem weitere lebensverlängernde Maßnahmen nicht mehr zum Einsatz kommen sollen. Hier bewegen wir uns auf einem schmalen Grat: der Patient versucht im Voraus zu formulieren, unter welchen Umständen er sein Leben nicht mehr lebenswert finden würde. Doch wenn die konkrete Entscheidung ansteht, gerät der Arzt nicht selten in einen Gewissenskonflikt. Oft weicht seine Einschätzung, was „lebenswert“ ist, beträchtlich ab von der vor Jahren formulierten Meinung des Patienten und auch von der Meinung der Angehörigen.

Das Gesetz zur Patientenverfügung gibt hier Rechtssicherheit, denn es bindet den Arzt an die Willenserklärung des Patienten. Doch Rechtssicherheit kann nicht das eigene Gewissen zum Schweigen bringen. Wissen, dass einem Patienten noch mehr Lebenszeit bei guter Lebensqualität geschenkt werden könnte und nichts tun zu dürfen – das ist eine Zumutung für Ärzte. Letztlich werden sie vom Gesetz zur passiven Sterbehilfe gezwungen. Eine Grenzüberschreitung, die uns gefährdet, auch weitere Grenzen leichter überschreiten zu können. Wo liegt schon der Unterschied zwischen sterben lassen durch Unterlassen und nachhelfen mit ärztlichen Mitteln? Unsere niederländischen Nachbarn haben uns vorgemacht, wie diese noch weiter gehende Grenzüberschreitung mit der Zeit zum Alltagsphänomen werden kann.

Passive Sterbehilfe durch Unterlassen ist immer schon ein Faktum, auch in Deutschland. Doch die neue Gesetzeslage ist eine Dimension mehr: sie zwingt Ärzte dazu, unabhängig von ihrer fachlichen Einschätzung der medizinischen Situation. Umso wichtiger wäre es, dass Patienten bei der Abfassung der Verfügung zwingend von einem Arzt beraten werden, um einigermaßen realistische Szenarien vorwegzunehmen. Doch diese Chance hat der Gesetzgeber vertan.

Prof.Dr.Med. Günther J. Wiedemann

Ravensburg