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DOI: 10.1055/s-0030-1256839
Dysmorphophobie
DysmorphophobiaKorrespondenzadresse
Publication History
Publication Date:
17 October 2011 (online)
Zusammenfassung
Die Dysmorphophobie oder besser körperdysmorphe Störung ist eine psychische Störung, die vermutlich zu selten diagnostiziert wird. Die Betroffenen leiden an der hartnäckigen Vorstellung oder Überzeugung einer körperlichen Missgestaltung mit erheblichen Konsequenzen für ihre Lebensgestaltung. Genaue Zahlen zur Prävalenz liegen nicht vor. Schätzungen gehen von einer Häufigkeit von 0,5 – 2,0 % aus. Die Problematik beginnt zumeist in der Adoleszenz und geht häufig mit einer erheblichen psychischen Komorbidität einher, wenn sie nicht im Rahmen einer Adoleszentenkrise auftritt. Die Betroffenen wenden sich mit ihren Behandlungswünschen in der Regel an kosmetisch tätige Dermatologen, HNO-Ärzte, plastische Chirurgen und Zahnärzte. Eine körperdysmorphe Störung stellt eine Kontraindikation für einen operativen Eingriff dar. Bei entsprechendem Verdacht sollte vor Durchführung eines Eingriffs eine Konsiliaruntersuchung durch einen Arzt für psychosomatische Medizin, einen psychologischen Psychotherapeuten oder Arzt für Psychiatrie veranlasst werden.
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Abstract
Dysmorphophobia, or rather Body Dysmorphic Disorder (BDD), is a psychological disorder that is probably underdiagnosed. The affected person is excessively convinced of and preoccupied with a perceived defect in his or her physical features, causing notable distress and impairment in functioning. This disorder is associated with markedly diminished quality of life. The exact prevalence is not known, but estimations range from 0,5 – 2,0 %. Onset of symptoms generally occurs in adolescence and there is frequent comorbidity between BDD and other psychological disorders, although it can occur solitarily within the context of an adolescent crisis. The sufferers usually seek medical care from cosmetics dermatologists, otolaryngologists, plastic surgeons and dentists. BDD schould be considered a contraindication for surgical treatment. A psychosomatic doctor or a psychologist who practices psychotherapy should be consulted prior to a medical procedure if BDD is suspected.
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Einleitung
Die Trias der wahnhaften Überzeugung, von einem körperlichen Defekt betroffen zu sein, in Verbindung mit einer ausgeprägten Scham den Mitmenschen gegenüber sowie einer sexuellen Hemmung bezeichnete der Turiner Neurologe Enrico Morselli 1886 als Dysmorphophobie [1]. Da ein klassisches Kriterium einer Phobie, nämlich die Angstfreiheit durch Vermeidung der furchterregenden Situation, bei der Dysmorphophobie nicht gegeben ist, erscheint die Bezeichnung der Problematik als körperdysmorphe Störung allerdings zutreffender.
Die folgenden Kriterien erlauben nach DSM IV die Diagnose einer körperdysmorphen Störung [2]:
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Es besteht eine übermäßige Beschäftigung mit einem eingebildeten Mangel oder einer Entstellung in der äußeren Erscheinung. Bei einer eventuell vorhandenen leichten körperlichen Anomalie ist die Besorgnis stark übertrieben.
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Die übermäßige Beschäftigung verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leidenszustände oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.
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Die übermäßige Beschäftigung wird nicht durch eine andere psychische Störung (z. B. Anorexia nervosa) besser erklärt.
Die Diskussion, ob es sich bei dem Störungsbild um eine eigenständige Krankheitsentität handelt, ist nicht abgeschlossen [3]. In der Vergangenheit erfolgten sowohl Zuordnungsversuche zu den hypochondrischen Störungen [4] [5] und zu den Zwangserkrankungen. Differenzialdiagnostische Schwierigkeiten entstehen zudem durch die häufig wahnhaft anmutende Überzeugung der Betroffenen, aber auch ein hohes Maß an psychischer Komorbidität [6].
Die schwer oder kaum korrigierbare Angst, dass der Körper oder Körperteile missgebildet, unansehnlich, zu klein oder zu groß sind, lässt die Betroffenen viel Zeit vor dem Spiegel verbringen. Mitunter werden aber auch alle Spiegel und reflektierenden Oberflächen in der Wohnung verhängt. Die Betroffenen verbringen oft mehrere Stunden am Tag mit Gedanken hinsichtlich ihrer „Entstellung“ bzw. deren Kaschierung durch Kleidung oder Make-up. In sozialen Situationen, sofern sie nicht grundsätzlich gemieden werden, führen Vergleiche mit anderen zur Intensivierung der Befürchtungen mit der Folge eines zunehmenden sozialen Rückzugs. Es erfolgt in progredienter Form eine konsequente und vollständige Attribuierung aller Lebensschwierigkeiten und Probleme auf das Aussehen, d. h. den phantasierten Makel. Die dysmorphophoben Befürchtungen werden am häufigsten im Bereich des Gesichts und an den sekundären Geschlechtsmerkmalen lokalisiert ([Abb. 1]).
Häufig ist der Beginn einer körperdysmorphen Störung in der Adoleszenz (16. – 18. Lebensjahr) oder in der Spätadoleszenz (18. – 21. Lebensjahr) als Bestandteil einer sogenannten Adoleszentenkrise auszumachen. Dies steht sicherlich in einem engen Zusammenhang mit den Entwicklungsaufgaben, die in diesem Lebensabschnitt zur Bewältigung anstehen. Dazu gehört insbesondere die Akzeptanz des eigenen, sexuellen Körpers und dessen Integration in ein kohärentes Selbstkonzept.
Ebenso unsicher wie das Schicksal einer Adoleszentenkrise ist die weitere Entwicklung einer körperdysmorphen Störung. Sie kann als passager auftretendes Phänomen wieder verschwinden, sich aber auch zu einem persistierenden Symptombild auswachsen. Von verschiedenen Autoren werden anhaltende körperdysmorphe Störungen mit schwerwiegenden Störungen der Persönlichkeitsentwicklung in einen engen Zusammenhang gerückt [7] [8].
Patienten, deren dysmorphophobe Befürchtungen in eine schizophrene Erkrankung einmünden, sind beschrieben [9] ([Tab. 1]).
Über die Häufigkeit von körperdysmorphen Störungen gibt es kaum valide Untersuchungen. Schätzungen gehen von 0,5 bis 2,2 % Erkrankten in der Gesamtbevölkerung aus. Sicherlich müssen dabei unterschiedliche Ausprägungen in der Symptomentwicklung unterstellt werden. Vermutlich ist die Störung sehr viel häufiger, als sie diagnostiziert wird, da sich die Betroffenen in den wenigsten Fällen an Psychotherapeuten oder Psychiater wenden.
Unter den Patienten einer Sprechstunde für Haarkrankheiten an der dermatologischen Universitätsklinik Berlin wurde bei 2 – 5 % ein Dysmorphophobie-Syndrom diagnostiziert [10] ([Tab. 2]).
Der Versuch des in seiner Identität gestörten Patienten, seine „Minderwertigkeit“ auf vermeintlich defizitäre Aspekte seines Äußeren zu projizieren, führt zwangsläufig zu einer Forderung nach somatischer Therapie. Insofern adressieren Betroffene ihre Wünsche nach einer Problemlösung über lange Zeit zunächst an Dermatologen, HNO-Ärzte, plastische Chirurgen und Zahnärzte. Geht ein Arzt auf das Krankheitskonzept der Patienten ein, unterstützt er damit dessen schwerwiegende Fehlentwicklung. Die alleinige Konfrontation mit seiner Fehleinschätzung des realen Befundes ist therapeutisch ineffektiv und führt in der Regel zum Therapieabbruch oder Arztwechsel.
Ein sehr prominentes Beispiel für einen Menschen mit einer körperdysmorphen Störung und die Erfolglosigkeit einer Vielzahl korrigierender medizinischer, auch dermatologischer Interventionen war Michael Jackson.
Wenn sich in den Anamnesegesprächen bzw. den Voruntersuchungen Hinweise auf das Vorliegen einer körperdysmorphen Störung ergeben, sind Konsiliaruntersuchungen durch einen Facharzt für psychosomatische Medizin, einen psychologischen Psychotherapeuten oder Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie dringend angezeigt. Dem Wunsch des Patienten nach einem korrigierenden Eingriff ist auf keinen Fall nachzukommen. Diese Feststellung gilt auch für die Behandlungsmöglichkeiten innerhalb der kosmetischen Dermatologie. Auch wenn Interventionen mit Laser oder Fruchtsäure und kleinere operative Korrekturen an der Haut als weniger invasiv einzuschätzen sind als etwa eine Brustaufbauoperation oder größere Gesichtseingriffe, lösen sie die zugrunde liegende Problematik des Patienten nicht. Eine subjektive Entlastung des Betroffenen ist allenfalls von begrenzter Dauer und zieht zumeist den Wunsch nach weiteren korrigierenden Eingriffen nach sich. Strian belegt sehr eindrücklich die Dysmorphophobie als Kontraindikation für plastisch-ästhetische operative Eingriffe [11]. In einigen Ländern wird die Finanzierung kosmetisch-ästhetischer Eingriffe durch die Krankenkassen an eine vorgeschaltete psychotherapeutisch-psychiatrische Diagnostik geknüpft.
Die Indiaktion für kosmetisch-dermatologische Eingriffe sollte überdacht werden,
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wenn die Patientin/der Patient sich in der (Spät-) Adoleszenz befindet.
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wenn der Wunsch nach einem Eingriff besonders dringlich und wenig „verhandelbar“ erscheint.
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wenn der Wunsch nach einer operativen Korrektur „objektiv“ schwer nachvollziehbar erscheint.
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wenn andere plastisch-ästhetische Eingriffe vorangegangen sind.
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wenn der Patient mit den Ergebnissen dieser Interventionen, trotz objektiv guter Befundlage, unzufrieden ist.
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wenn es Hinweise auf andere psychische Erkrankungen in der Vorgeschichte gibt (Essstörungen, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, psychotische Episoden).
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wenn sich anamnestisch Hinweise für das Vorliegen einer körperdysmorphen Störung ergeben.
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wenn sich irritierende Gefühle in der „Gegenübertragung“ einstellen.
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Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Danksagung
Ich danke Herrn Niklas Kröhnke für die Anfertigung der Illustration.
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Literatur
- 1 Morselli E. Sulla dismorfofobia e sulla tafefobia. Genova: Boll Acad Med VI; 1886: 110
- 2 Saß H, Wittichen HU, Zaudig M. Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen – DSM IV TR. Göttingen: Hofgrefe; 2003
- 3 Bürgy M. Dysmorphophobie. Nervenarzt 1998; 69: 446-450
- 4 Fuchs T. Über einen Fall von „Wachstumswahn“. Zur Genese und nosologischen Klassifikation der körperdysmorphen Störung. Nervenarzt 1993; 64: 199-203
- 5 Hirsch M. Hypochondrie und Dysmorphophobie. In: Hirsch M. Hrsg. Der eigene Körper als Objekt. Zur Psychodynamik selbstdestruktiven Körperagierens. Berlin Heidelberg, New York: Springer; 1989
- 6 Joraschky P, Moesler TA. Die Dysmorphophobie. In: Kaschka P, Lungerhausen E. Hrsg. Paranoide Störungen. Berlin, Heidelberg, New York: Springer; 1992
- 7 Feldman MM. The Body Image and Object Relations: Exploration of a Method Utilizing Repertory Grid Techniques. Brit J med Psychol 1975; 48: 317-332
- 8 Joraschky P. Das Körperschema und das Körper-Selbst. München: Minerva; 1983
- 9 Mester H. Der Wunsch einer Frau nach Veränderung der Busengröße – ein Beitrag zur Frage der Dysmorphophobie. Z Psychosom Med 1982; 28: 69-91
- 10 Orfanos CE, Grabe C. Therapie der Hautkrankheiten. Berlin, Heidelberg, New York: Springer; 2002
- 11 Strian F. Die Dysmorphophobie als Kontraindikation kosmetischer Operationen. Handchirurgie 1984; 16: 243-245
Korrespondenzadresse
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Literatur
- 1 Morselli E. Sulla dismorfofobia e sulla tafefobia. Genova: Boll Acad Med VI; 1886: 110
- 2 Saß H, Wittichen HU, Zaudig M. Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen – DSM IV TR. Göttingen: Hofgrefe; 2003
- 3 Bürgy M. Dysmorphophobie. Nervenarzt 1998; 69: 446-450
- 4 Fuchs T. Über einen Fall von „Wachstumswahn“. Zur Genese und nosologischen Klassifikation der körperdysmorphen Störung. Nervenarzt 1993; 64: 199-203
- 5 Hirsch M. Hypochondrie und Dysmorphophobie. In: Hirsch M. Hrsg. Der eigene Körper als Objekt. Zur Psychodynamik selbstdestruktiven Körperagierens. Berlin Heidelberg, New York: Springer; 1989
- 6 Joraschky P, Moesler TA. Die Dysmorphophobie. In: Kaschka P, Lungerhausen E. Hrsg. Paranoide Störungen. Berlin, Heidelberg, New York: Springer; 1992
- 7 Feldman MM. The Body Image and Object Relations: Exploration of a Method Utilizing Repertory Grid Techniques. Brit J med Psychol 1975; 48: 317-332
- 8 Joraschky P. Das Körperschema und das Körper-Selbst. München: Minerva; 1983
- 9 Mester H. Der Wunsch einer Frau nach Veränderung der Busengröße – ein Beitrag zur Frage der Dysmorphophobie. Z Psychosom Med 1982; 28: 69-91
- 10 Orfanos CE, Grabe C. Therapie der Hautkrankheiten. Berlin, Heidelberg, New York: Springer; 2002
- 11 Strian F. Die Dysmorphophobie als Kontraindikation kosmetischer Operationen. Handchirurgie 1984; 16: 243-245