B&G Bewegungstherapie und Gesundheitssport 2010; 26(5): 192-194
DOI: 10.1055/s-0030-1262563
GRUSSWORT

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Grußwort DAK

Die älter werdende Gesellschaft: Herausforderungen für die Gesundheitsversorgung
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Publication Date:
26 October 2010 (online)

Die älter werdende Gesellschaft, einhergehend mit der allgemeinen Abnahme der Bevölkerung in Deutschland, stellt eine vielfach diskutierte Entwicklung dar, deren Auswirkungen die Rahmenbedingungen für die Gesundheitsversorgung in der Zukunft stark verändern werden. Bereits jetzt verschiebt sich die Altersstruktur in kurzen Intervallen deutlich. Die Babyboomer-Jahrgänge der 1960er-Jahre werden sich in ca. 20 Jahren um weniger Arbeitsplätze „streiten“. Bis dahin werden sie älter sein, aber nach heutiger Gesundheitsentwicklung nicht gesünder. Sie sind bereits jetzt in einem Alter, in dem sich die ersten Symptome chronischer Erkrankungen manifestieren.

Derzeit steht die Zahl der über 65-Jährigen zu denen der 20–64-Jährigen noch im Verhältnis 1 : 3 [1]. Dieses wird 2030 bereits 1 : 2 betragen, und auch danach weiter anwachsen. Insgesamt wird 2050 jeder Siebte älter als 80 Jahre alt sein – bei gleichzeitig kontinuierlicher Abnahme der jüngeren Bevölkerung. Die Prognose bis zum Jahr 2050 entwirft ein Szenario für die deutsche Bevölkerung gegenüber 2005, das einen Schrumpfungsprozess um 16,6 % auf 68,7 Millionen Einwohner beschreibt [1]. Die entscheidende Frage ist, wie sich die Verschiebung in der Altersstruktur auf die Sozialversicherungsbeiträge und die Versorgungslandschaft auswirken wird.

Ein gut funktionierender Gesundheitsmarkt, auch getrieben vom medizinisch-technischen Fortschritt, trägt maßgeblich zu einer zunehmenden Lebenserwartung bei. So prognostiziert das Statistische Bundesamt für 2050 eine durchschnittliche Lebenserwartung für Männer von 83,5 bzw. für Frauen von 88,0 Jahren. Das bedeutet einen Zuwachs von 7,6 Jahren bei den Männern und 6,5 Jahren bei den Frauen im Vergleich zur Lebenserwartung in Deutschland 2002 / 2004 [2].

Wie wirken sich die Entwicklungen auf die Wirtschaft und deren Beschäftigungsstrukturen aus? Das ist auch für den Arbeitsmarkt von zentraler Bedeutung. Die Alterung der Gesellschaft und besonders die der Belegschaften in den Unternehmen, der sinkende Anteil an Nachwuchskräften, die Verlängerung der Lebensarbeitszeit möglicherweise auch über 67 hinaus, der Bedeutungszuwachs von Wissen und Kompetenz besonders der älteren Belegschaften und die weitere Verdichtung der Arbeit sind Konsequenzen, auf die sich die Wirtschaft noch viel stärker einstellen muss.

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zeichnet für die Jahre bis 2020 noch ein relativ positives Bild für die Unternehmen. Aber bereits ab 2015 beginnt das Erwerbspotenzial zu sinken. Da zurzeit davon ausgegangen wird, dass die Nachfrage nach Fachkräften steigen wird, werden die Auswirkungen hier zuerst spürbar werden, in einigen Branchen sind sie bereits angekommen. In wenigen Jahren wird es mehr Ältere zwischen 50–65 (2030 ca. 35,7 %) als Jüngere zwischen 20–35 (2030 ca. 29,0 %) im erwerbsfähigen Alter geben.

In den letzten Jahrzehnten war die Politik beim Renteneintritt deutlich geprägt durch Maßnahmen zur Frühverrentung. Mit Rücknahme der Renteneinstiegserleichterungen stieg das Renteneinstiegsalter wieder leicht an. Derzeit liegt der Rentenbeginn bei 61 Jahren und damit deutlich unter dem gesetzlichen Eintrittsalter von 67. Entscheidend für das Eintrittsalter ist am Ende des Arbeitslebens der Gesundheitszustand.

Betrachtet man den Krankenstand 2009 am Beispiel der DAK, so wird deutlich, dass mit zunehmendem Alter der Krankenstand ansteigt und damit auch die Gefahr der Berentung ([Abb. 1]).

Abb. 1 Krankenstand nach Alter und Geschlecht 2009.

Der Abfall am Ende der Skala gibt wenig Anlass zu Hoffnungen. Jenseits der 60 sind nur noch die sehr Gesunden und Widerstandsfähigen mit hoher Arbeitsmotivation am Arbeitsplatz. Alle anderen sind entweder in Rente oder im Krankengeldbezug und stehen dem Arbeitsmarkt damit nicht mehr zur Verfügung. Zum einen müssen also die Bemühungen von Arbeits- und Gesundheitsschutzmaßnahmen am Arbeitsplatz ausgebaut werden. Zum anderen haben gerade jüngere Arbeitnehmer, die unter Einschränkungen der Leistungsfähigkeit leiden, bei einer längeren Lebensarbeitszeit einen intensiveren Bedarf an Leistungen zur medizinischen Rehabilitation bzw. Teilhabe am Arbeitsleben, um hier nur einige Beispiele zu nennen. Die psychosozialen Belastungen steigen im stetigen Wandel der Arbeitswelt.

Für die Arbeitgeber bedeuten diese Herausforderungen, unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Lebensphasen mit den einhergehenden altersbedingten Erkrankungen und unterschiedlichen Lernmustern zukunftsfähige Personalentwicklungs-Konzepte zu gestalten und Em?ployability zu fördern. Das muss bei den Unternehmen, Beschäftigten und auch bei den Sozialversicherungsträgern zu einem wachsenden Interesse an gesundheitsförderlichen Arbeitsbedingungen führen, um nicht gravierenden Nachteilen im globalen Wettbewerb ausgesetzt zu sein. Der langfristige Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit und Gesundheit liegt im Interesse aller. Die Zunahme der Beschwerdebilder beginnt i. d. R. ab dem 40. Lebensjahr und wird auch die Unternehmen vor Heraus?forderungen stellen. Produktivitätsverluste, Leistungsminderungen und steigende Fehlzeiten sind die Rahmenbedingungen für unternehmerisches Handeln.

Die Versorgung muss besonders im Hinblick auf die Multimorbidität ausgebaut werden: 80 % der Menschen benötigen keine relevanten Gesundheitsleistungen, weil sie gesund sind. Aber 20 % der Menschen binden 80 % der gesamten Leistungsausgaben auf sich und ihr gesundheitliches Problem. Verschärfend kommt hinzu, dass die Ausgaben für Erkrankungen besonders in den letzten Jahren vor dem Tod stark steigen. Auch dieses Verhältnis wird sich verschlechtern, wenn die ältere Bevölkerung auf 33 % anwächst. Die Zunahme der älteren Menschen wird unmittelbar Einfluss auf die Häufigkeit von chronischen und altersspezifischen Erkrankungen wie z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Asthma und Diabetes mellitus nehmen. Zudem steigt die Zahl der älteren und alten Patienten mit Mehrfacherkrankungen bereits jetzt in allen Versorgungsbereichen an.

Multimorbidität bei älteren Menschen wird heute genau wie die damit verbundenen Probleme der Polypharmazie zumeist immer noch ausgeklammert. Mit der Einnahme mehrerer Medikamente steigt das Interaktionspotenzial vieler Substanzen erheblich. Das schlägt sich z. B. in den Aufnahmedaten geriatrischer Abteilungen nieder, nach deren Schätzungen 10–15 % der stationären Aufnahmen bei älteren Patienten auf das Konto von Medikamentennebenwirkungen gehen [3]. Die Selbstmedikation vieler Patienten verstärkt das Problem zusätzlich.

Vor diesem Hintergrund und aufgrund der in diesem Kontext aufgezeigten stärkeren Besetzung der höheren Altersgruppen interessiert auch die künftig zu erwartende Nachfrage nach Gesundheitsleistungen, vor allem die alters- und geschlechtsspezifischen Ausgabenprofile von Arzneimitteln ([Abb. 2] und [3]).

Abb. 2 Alters- und geschlechtsspezifisches Ausgabenprofil in der DAK 2008.

Abb. 3 Alters- und geschlechtsspezifische Ausgabenprofile in der GKV.

Den [Abb. 2] und [3] zufolge steigen die durchschnittlichen Pro-Kopf-Ausgaben der DAK / GKV pro Jahr für beide Geschlechter ab einem Alter von 50 Jahren deutlich an. Dabei liegt die stärkste Zunahme im Altersbereich zwischen 65 und 80 Jahren. Eine Trendwende findet auf hohem Niveau erst mit einem Alter von ca. 88 Jahren statt. Im Durchschnitt erhalten 35 % der Männer und 40 % der Frauen im Alter über 65 Jahren 9 und mehr Wirkstoffe in Dauertherapie [4].

Vor diesem Ausgabenniveau ist es zwingend notwendig, an verschiedenen Punkten im Gesundheitssystem steuernd anzusetzen: bei der Wirksamkeit der Mittel, Preisgestaltung, Rationierung, in der medizinischen Betreuung über ein gut funktionierendes interdisziplinäres Netzwerk. Um die vielen Erkrankungen effektiv und effizient versorgen zu können, sind verstärkt die Wechselwirkungen von Medikamenten und Begleiterkrankungen in die Qualitätssicherung bei der Behandlung einzubeziehen.

Die moderne Gesundheitsforschung muss zukünftig ihr Augenmerk insbesondere darauf richten, welche bislang ungenutzten Präventionspotenziale und welche speziellen Unterstützungskonzepte zum Erhalt von Gesundheit und Funktionsfähigkeit ?einen wesentlichen Beitrag leisten. Gerade bei den Best Agern – der Altersgruppe der 40–60-Jährigen – versprechen gezielte Betreuungskonzepte, besonders bei den verhaltenskorrelierten Erkrankungen, die Reduzierung der Länge der chronisch kranken Lebenszeit oder mildern die Stärke der Erkrankungen ab. In der Verbesserung der gesundheitlichen Chancen liegt großes Potenzial und eine zentrale Herausforderung der Gesundheitspolitik, aber auch für die Bereiche der Bildungs-, Familien-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik.

Mit den demografischen Entwicklungen ist nicht nur die finanzielle Solidarität bei der Absicherung gegen Krankheit, sondern auch die Solidarität in der Gesellschaft stark beeinträchtigt. Das Solidarprinzip ist ein zentraler Grundsatz der gesetzlichen Krankenkassen und aller Sozialversicherungsträger. Es stellt ein soziales Sicherungssystem zur Chancengleichheit der Mitglieder dar. Sie zielt auf die sozial gerechte Umverteilung der Gelder. Ein System, das bei der demografischen Entwicklung und der 80 : 20-Regel die medizinische Versorgung nicht mehr gewährleisten kann. Die zentrale Herausforderung ist die politische und ökonomische Steuerung des Gesundheitssystems. Erste Reaktionen auf den Forschungsbedarf zeigt das Bundes?ministerium für Bildung und Forschung mit seinem Förderschwerpunkt „Gesundheit im Alter“.

Wenn Finanzzwänge zum primären Handlungsmotiv werden, also eine ökonomische Sachlichkeit über eine valide Nutzenbewertung in der Versorgung gestellt wird, dann sind Fehlsteuerungen im Gesundheitssystem vorprogrammiert. Der zunehmende Kostendruck im Gesundheitssystem erfordert nicht nur Innovationen bei den Gesundheitsdienstleistungen. Wir brauchen Reformansätze, die die Effizienz der Versorgung und der Prävention in den Vordergrund rücken. Prävention, Krankheitsfrüherkennung, Vorsorge und gesundheitsbewusstes Verhalten können, wenn sie effizient und zielgruppenorientiert ausgerichtet und gesteuert sind, dazu beitragen, Krankheiten zu vermeiden oder den Eintritt von Krankheiten auf das Ende des Lebens hin zu komprimieren.

Der Versuch einer systematischen Nutzenbewertung in der Medizin könnte Effizienzgewinne im Bereich der aufwendigen Versorgung aufzeigen, die möglicherweise die Kostensteigerungen durch die Altersverschiebungen bis zu einem gewissen Grad ausgleicht. Effizienz muss an dem Nutzen des Versorgungsangebots für kranke Menschen beurteilt werden, d. h. an dem Grad der Zielerreichung von qualitativer Medizin, guter Versorgungsorganisation, pflegerischer und pharmakologischer Qualität.

Gerade mithilfe der Versorgungsforschung kann z. B. die Beeinträchtigung der Wirksamkeit verschiedener Arzneimittel unter Alltagsbedingungen miteinander verglichen werden, und es werden der Nutzen und die Risiken unter Multimorbidität überprüft. Darüber hinaus ist es notwendig, interdisziplinäre Leitlinien zu erstellen, in denen die Komplexität der medizinischen Versorgung und die Versorgungsstrukturen abgebildet werden. Dies gilt natürlich auch für Versorgungsbereiche wie z. B. die Pflege.

Es geht um die wirtschaftliche Erbringung einer notwendigen Leistung in guter Qualität mit dem Ziel einer schnellen Gesundung. Dazu sind umfassende, verbindliche und unabhängige Studien in der Versorgungsforschung notwendig.

Fazit: Der demografische Wandel und die aktuelle Diskussion um die fehlenden Mittel zwingen uns alle dazu, neue Wege zu gehen und alte zu verbessern. Hier sind sowohl diagnostische, therapeutische und pharmakologische Maßnahmen als auch organisatorische und verwaltungstechnische Abläufe in der Forschung sowie die Nutzenbetrachtung aus Sicht der Betroffenen zu berücksichtigen. Dafür sind in Deutschland erhebliche Investitionen erforderlich, um die notwendige Wissensbasis für eine qualifizierte Innovations- und Methodenbewertung zu schaffen.

Bei allen Betrachtungen der zukünftigen Altersverschiebungen sollte man nicht nur nach qualitativen Versorgungskonzepten zur Symptombehandlung bei alten und hochbetagten Menschen forschen, sondern es stellt sich auch die Aufgabe, Investitionen in den Gesundheitszustand der Beschäftigten zu erbringen, angepasst an die unterschiedlichen Bedürfnisse in den beruflichen Lebensabschnitten.

Hier liegt neben der Verbesserung der Versorgungsqualität der Älteren und Hochbetagten ein wichtiger Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität und zur Hinauszögerung der chronischen Erkrankungen. Ein Ansatz, den die Arbeitgeber gemeinsam mit den Sozialversicherungsträgern gestalten können.

Professor Dr. h. c. Herbert Rebscher, Vorstandsvorsitzender DAK

Literatur

  • 1 Statistisches Bundesamt. Bevölkerungsstruktur, Zeitreihen 2009. Wiesbaden
  • 2 Statistisches Bundesamt. Bevölkerung Deutschlands bis 2050 – 11. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung. Wiesbaden
  • 3 Schnurrer J U, Frölich J C. Zur Häufigkeit und Vermeidbarkeit von tödlichen unerwünschten Arzneimittelwirkungen.  Internist. 2003;  44 889-895
  • 4 Glaeske G. Arzneimittelversorgung im Alter – eine kritische Bestandsaufnahme mit Schlussfolgerungen. Vortrag beim LSBB – Landesseniorenbeirat Berlin, Veranstaltung am 15.01.2010
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