Z Sex Forsch 2010; 23(3): 191-193
DOI: 10.1055/s-0030-1262586
EDITORIAL

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Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen

Vorstand der DGfS
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Publication Date:
23 September 2010 (online)

Warum wird der Missbrauch von Jungen in Institutionen plötzlich öffentlich diskutiert, nachdem bezogen auf Mädchen und Frauen eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema sexueller Missbrauch bereits in den 1980er- und 1990er-Jahren geführt wurde? Damals waren es Frauengruppen, die das Thema aufgriffen und Öffentlichkeit und Wissenschaft dazu brachten, sich damit zu beschäftigen, was sexueller Missbrauch ist und wann, auf welche Weise und in welchen Zusammenhängen er sich traumatisierend auswirkt. Auch am Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf wurden zu diesem Thema verschiedene, unter anderem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Studien durchgeführt (Richter-Appelt und Tiefensee 1996 a, 1996 b). Deutlich wurde, dass sich traumatisierender sexueller Missbrauch kaum je als ein isoliertes Phänomen darstellt und dass sexueller Missbrauch keine Diagnose ist. Diagnosen können sich immer nur auf die vielfältigen Folgen des Missbrauchs beziehen. Die Sexualität kann, muss aber nicht in jedem Fall betroffen sein.

Während früher angenommen wurde, dass Missbrauch vor allem durch Fremde verübt wird, rückte die Aufmerksamkeit nun zunehmend in den Nahbereich und in die Familie. Nicht berücksichtigt wurden in den Hamburger Studien hingegen Angaben zu Institutionen und religiösen Aspekten. Auch junge Männer wurden befragt, sie hatten deutlich seltener sexuelle Übergriffe erlebt. Aus der psychotherapeutischen Arbeit ist allerdings bekannt, dass Männer, die sexuellen Übergriffen ausgesetzt gewesen sind, diese anders verarbeiten als Frauen.

Auch viele Männer, die selbst Kinder missbrauchen, haben schwierige, zum Teil erniedrigende und traumatisierende Erfahrungen gemacht. Natürlich haben nicht alle Männer, die Kinder missbrauchen, selbst sexuelle Gewalt oder sexualisierten Machtmissbrauch erlebt und es wird nur ein sehr geringer Anteil der von sexueller Gewalt in der Kindheit Betroffenen später zu Tätern. Für manche Männer, die zu Tätern geworden sind, ist die Frage, ob sie „selbst als Kind missbraucht“ wurden, auch gar nicht mit einem einfachen „ja“ zu beantworten, oft klären sich ihre Erfahrungen erst im therapeutischen Kontext. Es braucht meist lange Zeit, viel Mühe und Mut, bis eine verzerrte Wahrnehmung einer als traumatisierend erlebten Grenzverletzung aufgegeben werden kann. Denn die in der Folge aufkommenden Gefühle von Angst, Scham, Trauer, Schrecken oder Wut sollen vermieden werden.

Zu warnen ist vor schnellen Zirkelschlüssen und wohlfeilen Verallgemeinerungen. Die Gründe für sexuelle Grenzverletzungen von Erwachsenen an Kindern sind vielfältig und lassen sich durch ex cathedra formulierte Behauptungen genauso wenig fassen, begreifen und verändern wie durch oberflächliche Schuldbekenntnisse, Anklagen und Strafen.

Die hinter Institutionen stehenden Machtrepräsentanzen genießen den Schutz einer Institutionsmoral. Dabei machen es die institutionellen Bedingungen den entsprechend Disponierten unter Umständen schwer, zu widerstehen. Die andauernde Nähe zu Kindern, das Verbot gelebter Sexualität für den katholischen Priester, die Verleugnung von Homosexualität, die Möglichkeit der Externalisierung von Schuldgefühlen durch die Beichte, das Schweigekartell in den Institutionen, das kirchliche Netzwerk – hier zeigen sich viele Ansatzpunkte für offene Fragen.

Natürlich muss den betroffenen Opfern wie auch den Tätern qualifizierte Hilfe zuteil werden. An den Forschungsstellen der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung findet seit vielen Jahren eine wissenschaftliche Auseinandersetzung sowohl im Hinblick auf die Betroffenen als auch hinsichtlich der Sekundärprävention durch wirksame Therapie von Sexualstraftätern statt. Begonnen hat die Arbeit mit Sexualstraftätern in einem von der DFG geförderten Projekt unter der Leitung von Eberhard Schorsch (vgl. Schorsch et al. 1985) und wurde vor allem von Wolfgang Berner, Andreas Hill und Peer Briken (Berner et al. 2007 a, 2007 b) weiter entwickelt und zum Beispiel um pharmakotherapeutische Behandlungsansätze erweitert (Briken und Kafka 2008). Auch gegenwärtig sind im Bereich der Versorgung (z. B. in der Nachbetreuungsambulanz für Sexualstraftäter am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf) und in den curriculären Fort- und Weiterbildungsangeboten der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung die Folgen sexueller Traumatisierungen und die Therapie von Sexualstraftätern oder potenziell fremdgefährdenden sexuellen Neigungen vorrangige Inhalte. Es bleibt zu hoffen, dass auch Kirche und Gesellschaft die aktuellen Entwicklungen zum Anlass nehmen, ihr Verhältnis zu Kindern und zur Sexualität zu überdenken, so unwahrscheinlich dies auch sein mag.

Der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung gibt dieses Schwerpunktheft zum sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in einer Zeit heraus, in der es schwer fällt, mit den aktuellen Entwicklungen wissenschaftlich Schritt zu halten oder ihnen etwas entgegenzusetzen. Nicht vorschnell und in falscher Eindeutigkeit Stellung zu beziehen, scheint uns gerade in dieser Debatte notwendig zu sein, wenn sich nicht nur die Betroffenen, die Täter und die Presse, sondern auch manche Fachleute dazu hinreißen lassen, eindeutige Positionen einzunehmen ohne zu erklären, warum sie dies tun. Wissenschaft braucht Zeit, braucht eine Darlegung unterschiedlicher Standpunkte und letztlich auch emotionale Distanz. Im vorliegenden Heft haben wir Originalarbeiten, aber auch kontrovers zu diskutierende Debattenbeiträge zum Thema zusammengestellt. Dabei ging es uns darum, einen Teil der vielschichtigen Problematik sexueller Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen darzustellen und die weitere Diskussion anzuregen, nicht hingegen darum, einer bestimmten Haltung Vorschub zu leisten. Es genügt nicht, Missbrauch aufzudecken und Täter zu bestrafen. Vielmehr muss der Frage nachgegangen werden, wer unter welchen Umständen gefährdet ist, Missbrauch, Vernachlässigung und Misshandlung zu erleben oder aber Missbrauch an Abhängigen oder fremden Kindern und Jugendlichen zu begehen.

Literatur

  • 1 Berner W, Hill A, Briken P, Kraus C, Lietz K. Behandlungsleitlinien Störungen der sexuellen Präferenz. Darmstadt: Steinkopff 2007
  • 2 Berner W, Briken P, Hill A. Sexualstraftäter behandeln. Köln: Deutscher Ärzteverlag 2007
  • 3 Briken P, Kafka M P. Pharmacological Treatments for Paraphilic Patients and Sexual Offenders.  Curr Opin Psychiatry. 2007;  20 609-661
  • 4 Richter-Appelt H, Tiefensee J. Soziale und familiäre Gegebenheiten bei körperlichen Mißhandlungen und sexuellen Mißbrauchserfahrungen in der Kindheit aus der Sicht junger Erwachsener: Ausgewählte Ergebnisse der Hamburger Studie (Teil I).  Psychother Psychosom Med Psychol. 1996;  46 367-378
  • 5 Richter-Appelt H, Tiefensee J. Die Partnerbeziehung der Eltern und die Eltern-Kind Beziehung bei körperlichen Mißhandlungen und sexuellen Mißbrauchserfahrungen in der Kindheit aus der Sicht junger Erwachsener: Ausgewählte Ergebnisse der Hamburger Studie (Teil II).  Psychother Psychosom Med Psychol. 1996;  46 405-418
  • 6 Schorsch E, Galedary G, Haag A, Hauch M, Lohse H. Perversion als Straftat. Dynamik und Psychotherapie. Berlin: Springer 1985

Prof. Dr. med. P. Briken

Geschäftsführer der DGfS · Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie · Zentrum für Psychosoziale Medizin · Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Martinistraße 52

20246 Hamburg

Email: briken@uke.uni-hamburg.de

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