Rehabilitation (Stuttg) 2010; 49: S5-S36
DOI: 10.1055/s-0030-1263118
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Lösungsoptionen der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation zur Überwindung von Problemen bei der Versorgung mit Hilfsmitteln

Overcoming Problems in the Provision of Technical Aids: Options for Their Solution Submitted by the German Association for Rehabilitation, DVfRDeutsche Vereinigung für Rehabilitation1
  • 1Deutsche Vereinigung für Rehabilitation, Heidelberg
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Publication Date:
25 October 2010 (online)

Zusammenfassung

Die Deutsche Vereinigung für Rehabilitation e. V. (DVfR) hat sich als Zusammenschluss der mit der Rehabilitation befassten Berufsgruppen, Leistungsträger, Fach- und Selbsthilfeverbände in den letzten Jahren intensiv mit der Hilfsmittelversorgung in der Bundesrepublik Deutschland befasst. Hilfsmittel sind für viele Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen eine unabdingbare Voraussetzung für die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Aufgrund der hohen Relevanz für die Betroffenen erarbeitete die DVfR bereits 2006 eine umfangreiche Expertise zur aktuellen Versorgungssituation mit Hilfsmitteln, die eine Reihe von Qualitätsproblemen in unterschiedlichen Handlungsfeldern aufzeigte. In dem jetzt vorgelegten Papier werden nunmehr Lösungsoptionen dazu vorgestellt.

Zunächst werden Grundlagen der Hilfsmittelversorgung aufgezeigt. Dazu gehören neben einer Übersicht über Hilfsmittel auch konzeptionelle und rechtliche Aspekte der Versorgung sowie vor allem auch Bedarfs- und Qualitätsfragen einschließlich der Aspekte der Wirtschaftlichkeit. Im Hauptteil werden Vorschläge zur Optimierung der Hilfsmittelversorgung unterbreitet, zunächst bezogen auf die grundlegenden Informationsprozesse in der Versorgung, gefolgt von Verbesserungsvorschlägen für die Aus-, Fort- und Weiterbildung einschließlich der Forschung. Als wichtiger Bereich schließen sich Vorschläge zur Optimierung von Bedarfsermittlung, Indikationsstellung und Verordnung an. Im Weiteren werden die Entscheidungsprozesse der Leistungsträger sowie Verfahren der Zuständigkeitsklärung behandelt. Die weiteren Kapitel befassen sich mit Herstellungs- und Anpassungsprozessen, der Ergebnisqualität sowie der Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen. Abschließend werden in zwei Anhängen rechtliche Fragen in Bezug auf die Teilhabeorientierung in der Hilfsmittelversorgung behandelt sowie Überlegungen zur Erstellung einer Versorgungskonzeption vorgestellt.

Abstract

An association of professions, administrations and facilities as well as expert and self-help associations involved in rehabilitation, the German Association for Rehabilitation, DVfR has for several years been dealing intensively with the issue of technical aids provision in Germany. For many people with health problems, technical aids and assistive devices are an indispensable prerequisite for their equal participation in society. In light of the issue's considerable relevance for people with disabilities, the German Association had already in 2006 presented an expert opinion on the current status of technical aids provision, pointing out a number of quality problems in various fields. In the paper now presented, options are set out for overcoming these problems.

Initially, fundamentals of technical aids provision are pointed out; apart from an overview of technical aids, this comprises conceptual and legal aspects of provision and, above all, issues involved in assessment of need and in quality including economical aspects. In the main section, suggestions are set out for optimizing the provision of technical aids, first in relation to the basic information processes of provision, followed by suggestions for improvements in the fields of professional education as well as further and continued education, including improvements in research. Another important section refers to suggestions for optimizing assessment of need, indication and prescription. Subsequently, the decision-making processes of the financially responsible agencies are dealt with as well as the process of clarifying which agency is in charge. The following sections deal with production and adaptation processes, outcome quality, as well as further development of the framework conditions at hand. Concluding annexes refer to legal issues in respect of the participation focus of technical aids provision and to considerations to be heeded in elaborating a provision concept.

ANHANG 1

Klärung des Verhältnisses von SGB IX und dem trägerspezifischen Sozialrecht (SGB V, VI, XI, XII) in Bezug auf die Teilhabeorientierung bei der Hilfsmittelversorgung

  • Anspruch auf Hilfsmittel im Rahmen der medizinischen Rehabilitation nach § 40 i. V. m. § 11 Abs. 2 SGB V und § 26 Abs. 2 Nr. 6 sowie § 31 SGB IX im Verhältnis zum Hilfsmittelanspruch im Rahmen der Krankenbehandlung nach § 27 Abs. 1 Nr. 3 i. V. m. § 33 SGB V (Gleiche Fragen wie innerhalb des SGB V ergeben sich im Verhältnis der Hilfsmittelansprüche im Rahmen der Rehabilitation der übrigen Träger der medizinischen Rehabilitation im Verhältnis zu den Hilfsmitteln im Rahmen der Krankenbehandlung).

  • Auswirkung der unterschiedlichen Aufgabenstellung und Zielsetzung des Hilfsmitteleinsatzes (Teilhabe am Leben in der Gesellschaft/Herstellung der bestmöglichen Gesundheit) auf die Ausgestaltung der Qualität der jeweiligen Hilfsmittel.

  • Frage ggf. notwendiger Veränderungen der Leistungs- und Verwaltungsverfahren für teilhabeorientierte Hilfsmittel im Rahmen der medizinischen Rehabilitation (u. a. Zuständigkeit, Antrags- und Feststellungsverfahren – §§ 10, 14 Abs. 5 SGB IX – im Verhältnis zu Verordnungsverfahren im Rahmen der kassenärztlichen Versorgung, Verantwortung der Rehabilitationsträger im Verhältnis zur Geltung des Hilfsmittelverzeichnisses usw.).

Der Ausschuss hat zu diesem Themenkomplex am 19.04.2007 ein Konsultationsgespräch mit zahlreichen Experten in Bergisch Gladbach durchgeführt. Dabei wurden verschiedene Sichtweisen zum Verhältnis zwischen SGB IX und SGB V deutlich; allerdings ist es auch im weiteren Verlauf der Beratungen nicht gelungen, die rechtssystematischen Konfliktlinien vollständig zu klären und darüber einen Konsens herzustellen.

In den letzten Jahren ist zudem eine Reihe von Publikationen erschienen, die sich mit dem Verhältnis von SGB V und SGB IX befassen. Auch diese führen noch nicht zu einer konsensfähigen Positionierung der DVfR, wenngleich jedoch für einige Aspekte ein Teilkonsens erzielt werden konnte. Insofern hat die Diskussion doch einige Erkenntnisse erbracht, die für die Gestaltung des Prozesses der Hilfsmittelversorgung relevant und hilfreich sein können. Entsprechend ihrem satzungsmäßigen Auftrag stellt sich die DVfR für die weitere Diskussion als Plattform zur Verfügung.

1. Hilfsmittel im Rahmen kurativer Versorgung als Bestandteil eines ärztlichen Behandlungsplanes

Der Leistungsanspruch gegenüber der Krankenkasse auf ein Hilfsmittel ist dann eindeutig und einfach zu definieren, wenn das Hilfsmittel notwendig ist, um den Erfolg der Krankenbehandlung im Rahmen der kurativen Versorgung zu sichern. Gleiches gilt für die Versorgung mit einem Hilfsmittel zur Krankheitsverhütung oder zur Vermeidung der Verschlimmerung einer Krankheit oder einer Schwächung der Gesundheit, die in absehbarer Zeit voraussichtlich zu einer Krankheit führen würde. In diesen Fällen ist für das Hilfsmittel eine ärztliche Verordnung erforderlich, da es Bestandteil eines Behandlungsplanes ist.

Eine solche Verordnung ist ohne Zweifel Bestandteil der Krankenbehandlung nach § 27 Abs. 1 Nr. 3 SGB V und damit auch der vertragsärztlichen Versorgung im ambulanten Bereich nach § 73 Abs. 2 Nr. 7 SGB V. Sie ist keine Maßnahme medizinischer Rehabilitation, sollte aber ggf. rehabilitative Zielsetzungen beachten. Allerdings schließt eine kurative Zielsetzung einer Hilfsmittelversorgung eine Zuordnung zur medizinischen Rehabilitation nach § 31 SGB IX nicht aus.

2. Die Versorgung mit einem Hilfsmittel als Maßnahme zum Ausgleich einer Behinderung

Hilfsmittel können auch zum Ausgleich einer Behinderung erforderlich sein und sind dann ebenfalls Bestandteil der vertragsärztlichen Versorgung (vgl. § 73 Abs. 2 SGB V i. V. m. § 33 SGB V). Die ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), die sich im Wesentlichen auf Fälle aus der Zeit bezieht, als das SGB IX noch nicht existierte, stellte in Bezug auf den Leistungsanspruch nach dem SGB V bislang klar, dass sich die Hilfsmittelversorgung im Bereich der Krankenversicherung auf den Ausgleich der Behinderung bei der Befriedigung von Grundbedürfnissen des täglichen Lebens im Sinne eines Basisausgleichs bezieht, also auf einen allgemeinen und nicht sektoralen Behinderungsausgleich. So können z. B. auch Hilfsmittel in die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung fallen, die dem besonderen Aktivitätsbedürfnis bei Kindern und Jugendlichen Rechnung tragen, da dies auch als Grundbedürfnis anerkannt worden ist (z. B. Therapiefahrrad, Hilfsmittel im Zusammenhang mit der Erfüllung der Schulpflicht).

Im Ausschuss ist strittig, ob sich aus der Tatsache, dass ein Hilfsmittel dem Ausgleich einer Behinderung dient, automatisch ergibt, dass die Bestimmungen des SGB IX anzuwenden sind, oder ob es einen eigenen Raum innerhalb des SGB V gibt, der es den Krankenkassen gestattet, die Hilfsmittelversorgung zum Ausgleich der Behinderung ausschließlich nach den Regeln, die für die Krankenkassen im SGB V verbindlich festgelegt und in Richtlinien, z. B. den Hilfsmittel-Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses, kodifiziert sind, zu gestalten (vgl. dazu Nr. 4).

3. Hilfsmittel im Rahmen medizinischer Rehabilitation

Nach § 26 SGB IX werden zur medizinischen Rehabilitation behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen auch Leistungen zur Beseitigung, Abwendung usw. von Behinderungen und chronischen Krankheiten erbracht. Sie können neben der Behandlung durch Ärzte und Angehörige anderer Heilberufe auch ggf. die Versorgung mit Hilfsmitteln umfassen. In § 31 SGB IX wird die Zielsetzung der Hilfsmittelversorgung in Anlehnung an § 33 SGB V definiert.

Ob die Hilfsmittelversorgung im Rahmen des SGB IX lediglich im Rahmen einer Maßnahme der medizinischen Rehabilitation (Komplexleistung), also als deren Bestandteil, oder ob sie als eigenständige isolierte Maßnahme in Betracht kommen kann, ist im Ausschuss kontrovers diskutiert worden. Nach Auffassung einiger Mitglieder gibt es für eine Begrenzung der Hilfsmittelversorgung auf einen Bestandteil einer anderen Maßnahme medizinischer Rehabilitation keine gesetzliche Grundlage.

Die Rentenversicherung ist demgegenüber der Auffassung, dass die Versorgung mit Hilfsmitteln (einschließlich notwendiger Änderungen, Instandsetzungen und der Erstbeschaffung) durch die gesetzliche Rentenversicherung nur in Betracht kommt, wenn eine (stationäre oder ambulante) Leistung zur medizinischen Rehabilitation gewährt wird und die Ausstattung während der Durchführung dieser Leistung zur Erreichung des Rehabilitationsziels (§ 15 Abs. 1 SGB VI) erforderlich ist. Wird das Hilfsmittel erst nach Beendigung der Rehabilitation erforderlich, angepasst oder gefertigt, ist hierfür die gesetzliche Krankenversicherung zuständig. Eine isolierte Erbringung von Hilfsmitteln durch die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung als Leistung zur medizinischen Rehabilitation aufgrund eines entsprechenden Antrages ist somit nicht möglich.

Unstrittig ist, dass die Hilfsmittelversorgung im Sinne des § 31 SGB IX i. V. m. § 26 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX Bestandteil von Maßnahmen medizinischer Rehabilitation sein kann und insofern zum Aufgabenbereich von Einrichtungen und Diensten gehört, die medizinische Rehabilitation anbieten.

Kurative Maßnahmen im Rahmen vertragsärztlicher Versorgungen sind von solchen der medizinischen Rehabilitation allerdings oft schwer abgrenzbar.

4. Leistungsanspruch im Verhältnis SGB V zu SGB IX

Der Gesetzgeber hat in § 7 SGB IX klargestellt, dass die Vorschriften des SGB IX für Leistungen zur Teilhabe gelten, soweit sich aus den für den jeweiligen Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen nichts Abweichendes ergibt. Sowohl das SGB IX als auch das SGB V als Leistungsgesetz für die gesetzliche Krankenversicherung sehen für die Versorgung mit Hilfsmitteln eigenständige Rechtsvorschriften vor. Im Ausschuss strittig ist allerdings, ob der Anspruch auf Hilfsmittelversorgung im SGB IX im Rahmen der Teilhabe (vgl. § 4 SGB IX) nicht einen weitergehenden Teilhabebegriff unterlegt, als dies im SGB V der Fall ist. Außerdem wurde diskutiert, ob nicht wegen der umfassenden Aufgabe der Rehabilitation, die über die Teilaufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) hinausgeht und ggf. durch mehrere Träger zu erfüllen ist, zumindest die Verfahren des SGB IX auch bei der Prüfung der Zuständigkeit und des Bedarfs durch die Krankenkassen bei Hilfsmitteln zum Behinderungsausgleich Anwendung finden müssen.

Der Ausschuss vertritt allerdings die Auffassung, dass ein solcher gegenüber § 33 SGB V erweiterter Anspruch auf Hilfsmittel zur medizinischen Rehabilitation gegenüber den Krankenkassen nicht aus § 31 SGB IX abgeleitet werden kann.

Im Vergleich zum SGB V ist im SGB IX nämlich in § 31 unmittelbar gesetzlich normiert, dass die Hilfsmittel eine Behinderung (nur) bei der Befriedigung von Grundbedürfnissen des täglichen Lebens ausgleichen sollen. Es ist deshalb nicht möglich, aus dem SGB IX einen umfassenderen Anspruch auf Hilfsmittel gegenüber der Krankenkasse, als er im SGB V selbst formuliert ist, abzuleiten.

In einem Diskussionsbeitrag zu Fragen der Hilfsmittelversorgung zur Sicherung der Grundbedürfnisse stellt Liebold [1] fest, dass die Rechtsprechung des BSG den Zielen der medizinischen Rehabilitation (Verwirklichung von Selbstbestimmung und Förderung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft) nicht gerecht wird. Er kritisiert zudem die Argumentation und damit zugleich die Beschränkung des Versorgungsanspruchs auf einen sog. Basisausgleich. Dies beschneide die Rechte behinderter Menschen willkürlich und stelle sich daher als rechtswidrig dar. Um ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens zu befriedigen, sei ein sog. Basisausgleich zu wenig. Entscheidendes Kriterium dürfe in diesem Zusammenhang allein die Wirtschaftlichkeit des Hilfsmittels sein.

Andererseits ist die Beschränkung der Hilfsmittelversorgung auf die sog. Grundbedürfnisse des täglichen Lebens langjährig gefestigte Rechtsprechung, eine Änderung und damit Ausweitung des Versorgungsanspruchs sehr unwahrscheinlich. Zu prüfen wäre allerdings, ob im Rahmen der Befriedigung der sog. allgemeinen Grundbedürfnisse bereits ein Basisausgleich ausreichend ist, auch wenn dieser auf den Einzelfall bezogen offensichtlich nicht bedarfsgerecht ist.

Nach den §§ 1 und 4 SGB IX sind die Ziele des SGB IX weiter gefasst als die des SGB V. Das SGB IX ist als unmittelbar geltendes Recht jedoch nur dann anzuwenden, wenn die Einzelleistungsgesetze nichts anderes vorsehen. Im SGB V findet sich zwar bei der Hilfsmittelversorgung keine Festlegung auf Grundbedürfnisse, geschweige denn eine Festlegung auf einen Basisausgleich. Allerdings konkretisiert die dazu ergangene Rechtsprechung insofern den Versorgungsanspruch. Strittig blieb innerhalb des Ausschusses, ob diese Rechtsprechung auch nach Inkrafttreten des SGB IX weiterhin Gültigkeit hat. Wenn nämlich die Ziele des SGB IX weiter gefasst sind, als dies im SGB V der Fall ist, ergibt sich daraus nach Auffassung einiger Mitglieder, dass das SGB IX selbst dann auch von dem Rehabilitationsträger GKV anzuwenden ist, wenn das Einzelgesetz eine engere Zieldefinition unterstellt. Der Hinweis auf die bisherige Rechtsprechung des BSG könne hier deshalb nicht überzeugen, da bislang lediglich Streitfragen entschieden worden sind, deren Entstehung vor der Verabschiedung des SGB IX lag. Dabei ist noch offen, ob sich aus diesen Überlegungen tatsächlich, wie dies Liebold nahelegt, weitergehende Ansprüche auf Hilfsmittel gegenüber den Krankenkassen ableiten lassen, als dies der bisherigen Verwaltungspraxis entspricht. Dies wird einer gesetzlichen oder gerichtlichen Klärung überlassen bleiben müssen. Diese Klärung würde sich mit der Frage befassen müssen, wie die Grundbedürfnisse im Hinblick auf die umfassenden Zielsetzungen des SGB IX im Verhältnis zu denen des SGB V zu definieren sind und ob die Ziele des SGB IX dann auch für die Krankenkassen gelten oder nur für andere Rehabilitationsträger. Dabei wird auch die Behindertenrechtskonvention zu beachten sein, die allerdings in den Ausschussberatungen nicht mehr bearbeitet werden konnte.

Mehrheitlich war der Ausschuss der Auffassung, dass aufgrund der Tatsache, dass bei der Hilfsmittelversorgung im Rahmen des SGB V inhaltlich die erweiterten Zielsetzungen des SGB IX zu beachten sind, zumindest die Verfahrensregelungen des SGB IX zur Anwendung kommen. Dies ergebe sich u. a. aus § 27 SGB IX, der lautet: „Die in § 26 Abs. 1 genannten Ziele sowie § 10 gelten auch bei Leistungen der Krankenbehandlung.” Dies ist zumindest immer dann der Fall, wenn nicht von vornherein, z. B. durch eine ausschließlich kurative Zielsetzung der Hilfsmittelversorgung, feststeht, dass nur die Krankenkasse als Kostenträger in Betracht kommen kann. Immer dann, wenn die Hilfsmittelversorgung den umfassenden Zielen nach §§ 1 und 4 SGB IX dienen könnte, hat der Patient bzw. Klient das Recht, dass z. B. sein Bedarf umfassend geprüft, die Zuständigkeit eines Rehabilitationsträgers unverzüglich festgestellt, sein Antrag ggf. unverzüglich weitergeleitet wird usw. (vgl. dazu insbesondere § 14 SGB IX), sodass das SGB IX im Hinblick auf das Verfahren unmittelbar zur Anwendung kommt.

5. § 31 SGB IX im Verhältnis zu anderen gesetzlichen Ansprüchen auf Versorgung mit Hilfsmitteln

Neben der Hilfsmittelversorgung nach § 33 SGB V und im Rahmen der medizinischen Rehabilitation nach § 31 SGB IX gibt es eine Reihe weiterer gesetzlich geregelter Ansprüche auf Hilfsmittelversorgung, z. B. im Arbeitsleben (z. B. § 33 SGB IX, weitere Beispiele in SGB VI, VII usw.), in der Pflege (§ 40 SGB XI) und im Rahmen von Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (§ 55 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX i. V. m. §§ 53 ff. SGB XII).

Für Leistungen nach § 55 SGB IX kommt als Träger nur der Betroffene selbst oder bei Bestehen bestimmter Voraussetzungen der Träger der sozialen Eingliederung in Betracht. Die Krankenkasse kommt für Hilfsmittel nach § 55 SGB IX nicht in Frage.

Grundsätzlich kann von dem Betroffenen bei Bedarf an einem Hilfsmittel ein Antrag auf Versorgung bei jedem Rehabilitationsträger nach § 6 SGB IX gestellt werden. Diese Regelung soll dazu führen, dass nicht der Betroffene den zuständigen Träger suchen muss und ggf. von einem an den anderen verwiesen wird, sondern dass die Rehabilitationsträger die Pflicht haben, eine Bedarfs- und Zuständigkeitsklärung von Amts wegen durchzuführen. Dies gilt für alle Hilfsmittelanträge an die Krankenkasse, die nicht allein oder im Wesentlichen der Krankenbehandlung, also einer kurativen Zielsetzung, dienen.

Der zuständige Träger oder der, an den der Antrag nach § 14 SGB IX weitergeleitet wurde, klärt den Bedarf (§ 10 SGB IX) und sichert durchgehend das Verfahren der Versorgung. Dabei können sich Antragsteller oder Rehabilitationsträger der gemeinsamen Servicestelle bedienen.

Im Rahmen der Leistungsgewährung nach dem SGB XII ist zu beachten, dass Hilfsmittel durchaus als notwendig anerkannt werden können, dennoch aber der Betroffene selbst diese aus seinem Einkommen bezahlen muss. Einzelheiten zu Einkommensgrenzen und Vermögensheranziehung sind insbesondere in den §§ 85 und 92 SGB XII festgelegt.

Grenzen der Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers ergeben sich auch durch § 54 Abs. 1 Satz 2 SGB XII, nach dem die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitsleben den Rehabilitationsleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung oder der Bundesagentur für Arbeit entsprechen müssen. Dadurch kann der Fall eintreten, dass der Betroffene für bestimmte Leistungen keinen Leistungsträger findet, und zwar dann, wenn die Leistungen durch Gesetz ausgeschlossen sind – z. B. Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens, Sehhilfen u. a. im SGB V –, es sich aber auch nicht um Leistungen der Eingliederungshilfe oder der Teilhabe am Arbeitsleben handelt. In diesen Fällen muss er die notwendigen Hilfsmittel selbst bezahlen.

Problematisch wird dies für diejenigen Betroffenen, die im Bereich der Armutsgrenze leben, weil diese die notwendigen Beträge nicht aufbringen können. Hier kann es notwendig werden, dass diese Beträge dann vom Sozialhilfeträger zur Verfügung gestellt werden müssen, und zwar im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt. Auf die damit verbundenen Möglichkeiten und Problematiken z. B. von Darlehensregelungen, Anerkennung als Hilfsmittel im Rahmen der Eingliederungshilfe usw. kann hier nicht weiter eingegangen werden.

Unproblematisch ist hier hingegen der Leistungsfall nach SGB VII, da die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung alle Leistungen einschließlich der zur Teilhabe aus einer Hand und mit allen geeigneten Mitteln gewähren getreu dem Grundsatz: Reha vor Rente.

6. Praktische Bedeutung

Praktisch bedeutet dies, dass zumindest unter 3 Gesichtspunkten eine Umorientierung in der Hilfsmittelversorgung erfolgen sollte:

  • a) Die Krankenkasse hat bei jeder eingehenden Verordnung zu prüfen, ob es sich bei der Verordnung eines Hilfsmittels um ein Hilfsmittel im Sinne des § 31 SGB IX handeln kann und ob die Verordnung insofern als Antrag auf Leistungen zur Teilhabe anzusehen ist. Ist dies der Fall, hat sie bei wahrscheinlicher eigener Zuständigkeit umgehend selbst den Bedarf abzuklären, ggf. durch Gutachten nach § 14 Abs. 2 i. V. m. Abs. 4–6 SGB IX. Ist die Krankenkasse nicht zuständiger Leistungsträger, hat sie den Antrag an den zuständigen Träger weiterzuleiten. Die Klärung der Zuständigkeit zwischen den betroffenen Rehabilitationsträgern soll nicht zu Lasten des Versicherten erfolgen. Insbesondere sind die Fristen des § 14 SGB IX zu beachten.

  • b) Dieses Verfahren kann durch Abschluss einer gemeinsamen Empfehlung nach § 13 SGB IX zur Hilfsmittelversorgung näher geregelt werden. Dabei kann u. a. auch die Einbindung der behandelnden Ärzte beschrieben werden.

  • c) Durch den Leistungsträger ist jeweils im Einzelfall zu entscheiden, ob die kurative oder die rehabilitative Zielsetzung im Vordergrund steht. Unabhängig davon kann der Patient selbst festlegen, ob er einen Antrag auf Hilfsmittelversorgung im Sinne des SGB IX stellen und dazu ggf. die ärztliche Verordnung als Begründung nutzen möchte. In diesem Falle kann vom Patienten eine ärztliche Verordnung nicht verlangt werden. Die Bedarfsabklärung folgt den Vorschriften des SGB IX.

  • d) Wird ein Antrag an einen anderen Rehabilitationsträger weitergeleitet – wenn die Krankenkasse dies versäumt, kann dies auch der Patient übernehmen –, ist der zweitangegangene Rehabilitationsträger an die Vorschriften des SGB IX gebunden.

ANHANG 2

Zur Erstellung einer Versorgungskonzeption

Eine umfassende und individuelle Versorgungskonzeption ist Voraussetzung für einen qualifizierten Versorgungsprozess, der alle Akteure mit ausreichenden Informationen für die Entscheidungsfindung ausstattet. Sie dürfte in Deutschland in ca. 10 000 Fällen pro Jahr als Grundlage für eine Leistungsentscheidung über eine Hilfsmittelversorgung notwendig sein. Für die Erstellung und Anwendung einer Versorgungskonzeption unterbreitet die DVfR folgende Vorschläge.

Bestandteile einer Versorgungskonzeption

  • Eine Versorgungskonzeption basiert auf einem ICF-orientierten Assessment, einer darauf aufbauenden Problemanalyse und Bedarfsermittlung, der Erarbeitung von Lösungsmöglichkeiten und einer Prüfung von Alternativen unter Beachtung der Vorgaben der infrage kommenden Sozialleistungsträger.

  • Eine Versorgungskonzeption sollte immer einen Kostenvoranschlag für das vorgesehene Hilfsmittel enthalten. Dieser wird von einem LEHM erstellt.

  • Die Dokumentation einer Versorgungskonzeption kann anhand von Erhebungsbogen erfolgen und je nach Einzelfall inhaltlich unterschiedlich differenziert sein. Sie kann auch in Schriftform abgefasst sein. Dabei ist dem Freitext der Vorzug zu geben, da die Problemstellungen von einfachen Fragestellungen bis hin zu sehr komplizierten Problemen reichen können.

  • Die Versorgungskonzeption setzt fast immer ein ausführliches Assessment voraus. Ein Assessment ist zu empfehlen, wenn mindestens eine der 3 folgenden Voraussetzungen gegeben ist:

    • –Es liegt eine schwere körperliche oder mehrfache Behinderung vor, und es handelt sich um ein kostenaufwändiges Hilfsmittel.

    •  – Es handelt sich um einen schwer zu erfassenden Hilfebedarf.

    • – Durch ein Assessment und eine Versorgungskonzeption kann die Notwendigkeit, die Zweckmäßigkeit und die Wirtschaftlichkeit einer Versorgung begründet, besser geprüft, im Hinblick auf Alternativen untersucht und zielgenauer realisiert werden.

  • In Einzelfällen können auch folgende weitere Maßnahmen zur Informationsgewinnung erforderlich sein:

    • – umfangreiche Recherchen am Markt,

    • – Konstruktionspläne,

    • – aufwändige Kostenkalkulation,

    • – praktische Erprobung,

    • – Diskussion des Vorschlags im Team,

    • – Prüfung von Alternativen,

    • – Prüfung von Hilfsmittelpools der Kostenträger.

  • Informationen aus der Versorgungskonzeption dienen auch der Bewertung, ob eine Versorgung nach § 127 Abs. 1, Abs. 2 oder Abs. 3 SGB V zweckmäßig ist.

  • Sind Dienstleistungen für die Erstellung einer Versorgungskonzeption notwendig, sind diese als Leistungsbestandteil zu beschreiben. Die Voraussetzungen für die Erbringung sowie die Vergütung dieser Dienstleistungen sind von den Vertragspartnern zu vereinbaren.

Inhalte einer Versorgungskonzeption

  1. Angaben aus dem Assessment

    • – Diagnose,

    •  – das zu lösende Problem,

    •  – das Ziel der Hilfsmittelversorgung.

  2. Versorgungsvorschlag  – Art und Ausstattung des Hilfsmittels,

    • – Erfahrungen aus der Erprobung oder andere Vorerfahrungen,

    •  – Kriterien und Vorgaben für den Versorgungsvorschlag,

    •  – exakte Beschreibung,

    •  – Ausführungen zu besonderen Ausstattungsmerkmalen.

  3. Angebot einschl. Hilfsmittelnummer usw. (Kostenvoranschlag).

  4. ärztliche Verordnung, ggf. mit Begründung und Zuordnung zu den Zieldimensionen Krankenbehandlung oder Behinderungsausgleich.

  5. Angaben zum Versorgungsprozess

    • – notwendige Schritte bis zum Versorgungsvorschlag und Mitwirkende,

    • – Hinweise für den zeitlichen und organisatorischen Ablauf einschließlich begleitender Maßnahmen, u. a. zur Dringlichkeit,

    • – Zuständigkeit für die Koordination des Versorgungsprozesses,

    • – Ermittlung des wahrscheinlichen Kostenträgers.

  6. Benennung des Prozessverantwortlichen, wenn dies nicht der Patient ist.

Hinweis

Stets sollte in der Versorgungskonzeption deutlich gemacht werden, ob es sich um eine Erst- oder Folgeversorgung handelt und ob die Versorgung nur zeitlich begrenzt oder dauerhaft notwendig ist.

Sofern es sich um eine dauerhafte Behinderung/chronische Krankheit mit langfristigem Hilfsmittelbedarf handelt, sollte dies dokumentiert sein und dem Kostenträger als Basisinformation über Art und Umfang der Behinderung zur Verfügung stehen, damit Rückfragen entbehrlich werden. Hierfür sollten bei den Krankenkassen Möglichkeiten der längerfristigen Datenverfügbarkeit geschaffen werden.

1 Dirk Liebold: Auswirkungen des SGB IX auf die gesetzliche Krankenversicherung. Baden-Baden: Nomos; 2007.

Korrespondenzadresse



Deutsche Vereinigung für Rehabilitation

Friedrich-Ebert-Anlage 9

69117 Heidelberg

Email: b.reinsberg@dvfr.de

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