Pro
1981 formulierte die WHO die Forderung nach Einrichtungen zur Frühdiagnose von Demenzen
[1]. Seither ist das Thema im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung angekommen, und Demenzdiagnostik
wird an verschiedenen Stellen unseres Gesundheitssystems durchgeführt. Der Aufwand,
der hierbei betrieben wird, variiert außerordentlich: Am einen Ende der Skala (meist
in der Hausarztpraxis) steht eine orientierende Untersuchung, ergänzt durch einen
Screeningtest. Vor allem neurologische Praxen erheben oft einen ausführlichen neurologischen
Status, ergänzt um eine Bildgebung und evtl. weitere apparative Untersuchungen. In
Universitätskliniken, sofern sie einen Schwerpunkt in der Demenzuntersuchung haben,
werden möglicherweise über die neurologische, körperliche und natürlich psychiatrische
Untersuchung hinaus umfangreiche Testbatterien und nuklearmedizinische Verfahren zum
Einsatz gebracht, vielleicht noch ergänzt um differenzierte laborchemische und genetische
Parameter. Neben einer präzisen Diagnosestellung beforschen universitäre Einrichtungen
Diagnostik, Ursachen und Therapie von Demenzen, was den erheblichen Untersuchungsumfang
begründet.
In den Universitätskliniken entstanden auch die ersten Gedächtnisambulanzen, die sich
auch Memory-Klinik oder neudeutsch Memory Clinic nennen. In den letzten Jahren entstanden
Gedächtnisambulanzen außerhalb universitärer Einrichtungen. Dezentrale Gedächtnisambulanzen
sind ein notwendiger Baustein für eine angemessene Betreuung Demenzkranker. Hierfür
spricht eine ganze Zahl von Gründen:
Demenzen sind keine seltenen Erkrankungen und werden an Häufigkeit noch zunehmen.
Deshalb sind wohnortnahe Untersuchungsmöglichkeiten nötig. Dies gilt umso mehr, weil
Ältere in ihrer Mobilität oft beeinträchtigt sind. Schon eine Entfernung von 50 km
überfordert sie oft, sodass im ländlichen Bereich Facharztbesuche nicht selten völlig
unterbleiben, weil die Fahrt dorthin nicht mehr organisiert werden kann.
Eine frühe und präzise Diagnosestellung ist für den Krankheitsverlauf wichtig, bietet
sie doch die Möglichkeit, sich beizeiten auf die Erkrankung einzustellen, die – zugegebenermaßen
noch begrenzten – Therapieoptionen wahrzunehmen und damit möglicherweise spätere Eskalationen
zu vermeiden. Sie erfordert einen höheren Untersuchungsaufwand und kann ohne Spezialisierung
nicht gelingen.
Aus der Diagnosestellung resultiert ein Behandlungs- und Unterstützungsbedarf mit
spezieller Fachkompetenz einerseits, andererseits aber auch mit guter Erreichbarkeit.
Neben einer angemessenen psychiatrischen Medikation – vom Hausarzt in der Regel kaum
zu leisten – sind vor allem psychosoziale Interventionen nötig. Das können Gruppenangebote
für Betroffene und Angehörige sein, Schulungen, aber auch die Vermittlung konkreter
Hilfen wie Nachbarschaftshilfe, Betreuungsgruppen, Tagesbetreuung und Sozialstation
und manches mehr. Solche Hilfen zu initiieren, gelingt nur in enger Zusammenarbeit
zwischen Arzt und Pflege. Die Altenhilfe ist inzwischen hochgradig vernetzt, und auch
eine Gedächtnisambulanz kann nur optimal arbeiten, wenn sie die anderen beteiligten
Anbieter von Unterstützung kennt und für einen Gesprächsaustausch zur Verfügung steht.
Damit kann dem erklärten Wunsch Älterer, in der eigenen Wohnung zu bleiben, heimatnah
besser Rechnung getragen werden. Wenn ein Umzug ins Pflegeheim trotzdem sinnvoll oder
notwendig wird, dann oft nicht, weil eine häusliche Unterstützung nicht zur Verfügung
steht, sondern, weil mögliche Hilfeangebote und ihre Inanspruchnahme und Akzeptanz
durch den Betroffenen nicht zur Deckung zu bringen sind. Hier kann die Memory-Klinik
vor Ort besser intervenieren als eine heimatferne Universitätsambulanz.
Je nach Region fehlen einzelne Unterstützungsangebote, z. B. manchmal Schulungen für
pflegende Angehörige, Selbsthilfegruppen und Gesprächskreise. Trotz strukturierter
psychoedukativer Programme für Demenzkranke im Frühstadium [2] werden solche Gruppen bisher nur sporadisch durchgeführt. Gedächtnisambulanzen haben
hier auch die Rolle des Impulsgebers oder übernehmen selbst therapeutische Angebote,
die sonst fehlen würden.
Die Einrichtung einer qualifizierten Gedächtnisambulanz ist an Rahmenbedingungen gebunden.
Schwerere Demenzen sind auch für nicht spezialisierte Untersucher unschwer erkennbar,
aber für die Diagnosestellung von Demenzen im Frühstadium reichen weder ein Screeningtest
noch die neurologische Untersuchung aus. Die S3-Leitlinie Demenz [3] gibt Hinweise; aus zahlreichen Studien (z. B. [4]) konvergieren die Ideen, wie viel Untersuchung für eine ausreichende Diagnosesicherheit
nötig ist. Der Zeitaufwand für eine leitliniengerechte Untersuchung bewegt sich im
Bereich von 4 Stunden bis zur Diagnosestellung.
Eine leitlinienkonforme Untersuchung erfordert Untersuchungsverfahren, die in Deutschland
auch in der Peripherie vorhanden sind. Spezialverfahren, z. B. nuklearmedizinische
Untersuchungen, können für Einzelfälle erwogen werden. Für die Routine sind sie verzichtbar.
Eine qualifizierte Demenzdiagnostik ist also apparativ nicht an universitäre Zentren
gebunden. Für die Auswahl geeigneter Untersuchungsinstrumente und eine korrekte Bewertung
der Ergebnisse ist die Mitwirkung eines neuropsychologisch erfahrene Psychologen unabdingbar.
Eine regelmäßige kollegiale Supervision der Arbeit ist notwendig, denn die Entwicklung
gut validierter Testsysteme für die Frühdiagnostik steckt noch in den Anfängen.
Damit nicht universitäre Gedächtnisambulanzen eine gute Untersuchungsqualität bieten,
muss ein qualitativer Mindeststandard sichergestellt sein. (Das gilt sinngemäß natürlich
auch für Universitätsambulanzen, die aber aufgrund ihrer forscherischen Ausrichtung
solche Standards auch heute schon oft mehr als erfüllen.) Sehr wünschenswert ist es
auch, Gedächtnisambulanzen eine geschützte Benennung zu geben, damit der Qualitätsstandard
auch nach außen hin transparent ist. Ein im letzten Jahr in Basel begründeter, europaweit
ausgerichteter Interessenverband der Memory-Kliniken könnte hier eine wichtige Rolle
spielen [5].
Die Frage der Finanzierung ist nicht überall gelöst. Psychiatrische Institutsambulanzen
können eine qualifizierte Untersuchung kostendeckend durchführen, zumal die dort vorhandene
multiprofessionelle Zusammenarbeit auch Psychologen leicht integrieren kann.
Dies ist im ambulanten Bereich mit EBM und GOÄ nicht möglich; es gibt bisher nicht
einmal neuropsychologische Ziffern, und die „gedeckelten” Behandlungsziffern reichen
für die Untersuchung nicht aus. Wenn man Gedächtnisambulanzen nicht an psychiatrische
Kliniken binden will, dann muss hier nachgebessert werden.
Natürlich sind damit Gedächtnisambulanzen an Universitätskliniken keineswegs überflüssig,
denn die Untersuchungs- und Therapieverfahren müssen dringend weiterentwickelt werden.
Wo eine Universitätsklinik vorhanden ist, ist auch wünschenswert, dass die dortige
Gedächtnisambulanz in die gemeindepsychiatrische Versorgung eingebunden ist. In den
übrigen Städten und Regionen Deutschlands jedoch muss das Angebot zu einer qualifizierten
Demenzuntersuchung und Behandlung durch dezentrale Gedächtnisambulanzen weiter aufgebaut
werden.
Kontra
Als gemeindepsychiatrisch Tätiger in einer typischen Abteilungspsychiatrie werde ich
alltäglich mit den Fragen der Menschen in der Gemeinde konfrontiert. Und die Dominanz
des Themas Demenz ist immer wieder frappierend – die Hochrechnungen mit den Millionen
Demenzerkrankten schocken. Die Zukunft ist düster – und wir stehen, ähnlich wie bei
der Schizophrenie, immer wieder „kurz vor dem Durchbruch”. Mir ist bewusst, dass Forschung
mühsam ist, Zeit braucht und zur weiteren Finanzierung mit Erfolgen oder „Demnächst”-Erfolgen
glänzen muss. Entsprechend hoch sind die Erwartungen der Zuhörer, die zum Vortragsthema
„Demenz” ins Gemeindehaus oder die Stadthalle strömen.
Und ähnlich wie bei der Schizophrenie haben die neuen und teuren Medikamente lange
nicht das gehalten, was uns versprochen wurde. In der Werbung dafür ist ein von einem
zulassungsgemäß mindestens mittelschwer dementen Menschen korrekt mit Marmelade beschmierter
Toast als „Meine Mondlandung” apostrophiert. Und zu diesen Mondlandungen sollen wir
dann unseren Patientinnen und Patienten in der Ambulanz verhelfen. „The dark side
of the moon” ist, dass die Effektstärken der Antidementiva bei Weitem nicht so groß
sind, wie wir ursprünglich hofften – und uns suggeriert wurde. Und um noch einen letzten
Ausflug in britischen Humor zu machen: ich habe inzwischen den Eindruck, dass jeder
zweite geriatrische Patient mittlerweile mit 2 Pflastern herumläuft: im einen ist
der Cholinesterasehemmer, im anderen das Opioid.
Genug polemisiert: Gedächtnissprechstunden („memory clinics”) wurden zunächst in USA,
dann in England vor über 30 Jahren primär zu Forschungszwecken eingeführt [6]. Durch die Behandlungsmöglichkeiten für Alzheimerdemenz ab 1997 (Donepezil) haben
sie sich zunehmend zu Zentren entwickelt, die Frühdiagnostik, Verlaufsmonitoring,
Informationsvermittlung und Psychoedukation anbieten. Zunehmend wurden jüngere Patienten
mit „mild cognitive impairment” (MCI) und auch „the worried well” erfasst.
Aufgrund des erhöhten Risikos für Demenz bedürfen Patienten mit MCI im Verlauf erhöhter
Aufmerksamkeit, mögliche Ursachen sollten mit angemessenen diagnostischen Maßnahmen
geklärt werden. Andererseits gibt es mit Ausnahme der Beeinflussung der vaskulären
Anteile (neuropathologisch gibt es Hinweise, dass es sich bei vaskulärer und Alzheimerdemenz
möglicherweise um eine Spektrumsdiagnose handelt) keine Evidenz für eine wirksame
Pharmakotherapie oder für wirksame nicht pharmakologische Therapien zur Risikoreduktion
des Übergangs von MCI zu einer Demenz [7]. Ergotherapie zu Hause wird in der S3-Leitlinie der DGPPN und der DGN [7] zwar bei leichten bis mittelschweren Demenzen empfohlen, aber fragen Sie einmal
einen niedergelassenen Kollegen, für wie viele Patienten das Quartalsbudget Ergotherapie
ausreicht – Sie können es an maximal 2 Händen abzählen.
Die Übergangsraten von MCI in eine Demenz weisen in der Literatur eine breite Streuung
auf, Einflussfaktoren sind u. a. verschiedene komorbide Störungen und die Stressbelastung.
In Langzeitbeobachtungen zeigen bis zu 50 % der MCI-Patienten keine Progression zu
einer Demenz [8]. Diese sog. „falsch positiven” Befunde bei MCI stellen ein großes ethisches Problem
dar! Dies wird beleuchtet durch eine Arbeit, in der die Befürchtungen von potenziellen
Patienten im Rahmen des Demenzscreenings in der Primärversorgung untersucht wird [9]. Im Vordergrund standen Fragen, ob der Betroffene überhaupt wünscht, dass die Familie
wisse, dass er an Alzheimer leide. Es wurden Ängste geäußert, nicht mehr ernst genommen
und schlecht behandelt zu werden. Emotionen wie Scham wurden deutlich, andere Ängste
betrafen Fragen, ob man noch eine Lebensversicherung abschließen könne, in ein Pflegeheim
komme oder den Führerschein verliere. Eschweiler spricht davon, dass man durch die
Fortschritte in der Frühdiagnostik im MCI-Stadium mittlerweile von einer Alzheimerkrankheit
ohne manifeste Demenz sprechen könne. Angesichts der fehlenden Therapiemöglichkeiten,
aber der Notwendigkeit der Beforschung von Interventionen in diesem Stadium, sieht
er hier ein ethisches Dilemma [10]. Und Mahlberg hat in der Einleitung zu diesem Artikel das Bemühen um exakte Differenzialdiagnosen
jenseits der seltenen Formen kausal behandelbarer Demenzen in Ermanglung spezifischer
Therapien als „akademische Spielerei” bezeichnet [11].
Mir persönlich sind die DEGAM-Leitlinien zur Demenz deutlich sympathischer und ethisch
reflektierter. Hausärzte haben im Gegensatz zu Psychiatern Dauerkontakt zu diesen
Patienten und sind von daher vorsichtiger – entsprechend nennt die Leitlinie auch
Gründe, einem Alzheimerverdacht nicht nachzugehen. In der Behandlung von MCI-Patienten
wurden bisher Studien mit Donepezil, Donepezil + Vitamin E, Rivastigmin, Galantamin,
Rofecoxib und Piracetam durchgeführt. Keine konnte bisher einen Wirksamkeitsnachweis
bringen, alle schlossen MCI-Patienten vom amnestischen Subtyp ein. Neben hohen Drop-out-Raten
(bis zu 40 % in 24 Monaten) fand sich auch eine geringere Konversionsrate zur Demenz
als vorher angenommen. In der Galantaminstudie (OR: 3.05) war sogar die Mortalität
erhöht, jedoch nicht bei den anderen Cholinesteraseinhibitoren [12]. Die Behandlung von älteren Depressiven mit Donepezil zusätzlich zur antidepressiven
Medikation führte zu vermehrten depressiven Rezidiven (35 vs. 19 % in der Plazebogruppe),
auch wenn die Übergangsrate in eine Demenz verlangsamt wurde. Für die Untergruppe
von MCI-Patienten mit Depression war die Rezidivrate noch deutlicher erhöht (44 vs.
12 %) [13].
Clarfield hat 2003 in einer großen Metaanalyse mit insgesamt 7042 Patienten die ernüchternde
Feststellung getroffen, dass hinsichtlich der sog. „sekundären Demenzformen” zwar
9 % aller untersuchten Demenzerkrankungen als potenziell reversibel betrachtet wurden,
tatsächlich aber nur 0,29 % teilweise und nur 0,31 % voll reversibel waren [14]. Für jüngere Patienten mit folgenden Erkrankungen sieht er allerdings Ausnahmen:
AIDS-Demenz-Komplex, hypereosinophiles Syndrom, M. Wilson, Hypoparathyreoidismus,
Makroprolaktinom, Polyzythämia vera. Da diese Menschen in der Regel unter 60 Jahre
alt sind, sieht Clarfield angesichts des sporadischen Auftretens dieser Erkrankungen
keinerlei Rechtfertigung, die „Büchse der Pandora” für ältere Menschen zu öffnen.
Denn bei diesen gilt, dass die sehr geringe Prävalenz reversibler Demenzen bedeutet,
dass die Prätest-Wahrscheinlichkeit, durch Routineuntersuchungen wirklich reversible
Veränderungen zu finden, sehr gering ist [15].
Am besten wirken Gedächtnissprechstunden sicherlich als Entlastung und Beratung für
die Angehörigen. Deren psychosoziale Gesundheit und damit ihre Lebensqualität lassen
sich signifikant verbessern [16]. Was ist also für die Patienten praktisch zu tun? Die sog. mediterrane Diät hat
sich auch in jüngsten Studien wieder als protektiv gegen den kognitiven Abbau erwiesen
[17]. Und: gute und persönlich befriedigende Beziehungen über lange Zeiträume reduzierten
das Demenzrisiko um 23 %. Wenn die Testpersonen angaben, mehr Unterstützung von anderen
im Leben erhalten zu haben, als sie selbst diesen gaben, war das Demenzrisiko sogar
um die Hälfte reduziert [18].
Zusammenfassend sprechen gegen Gedächtnissprechstunden, die große Erwartungen in der
Bevölkerung wecken, in der gemeindepsychiatrischen Routineversorgung vor allem ethische
Aspekte:
-
Es gibt keine wirksame Therapie zur Risikoreduktion des Übergangs von MCI zu einer
Demenz.
-
Bis zu 50 % der MCI-Patienten zeigen gar keine Progression zu einer Demenz – bis zur
Hälfte der Untersuchten werden unnötig belastet und stigmatisiert.
-
Die tatsächliche Rate potenziell reversibler sog. sekundärer Demenzformen ist erschreckend
gering.