Aktuelle Neurologie 2011; 38(3): 127
DOI: 10.1055/s-0030-1266145
Editorial
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Chronische cerebro-spinale venöse Insuffizienztheorie (CCSVI) bei der Multiplen Sklerose – was steckt wirklich dahinter?

The Chronic Cerebrospinal Venous Insufficiency Theory – What's Really Behind it?R.  Gold1
  • 1Abteilung für Neurologie, St. Josef-Hospital Bochum, Klinikum der Ruhr-Universität Bochum
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Publication Date:
09 May 2011 (online)

Prof. Dr. med. Ralf Gold

Die Multiple Sklerose ist mit weltweit geschätzt mehr als 2 Millionen Erkrankten die häufigste, chronisch entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems und betrifft vornehmlich junge Erwachsene. Wir gehen momentan davon aus, dass sowohl genetische Faktoren als auch Umweltfaktoren während der Reifung des Immunsystems zur Suszeptibilität beitragen. Wenn die Erkrankung ausgebrochen ist, findet man in den Entmarkungsherden Zeichen der autoimmunen Entzündung mit T-Zellen und Monozyten / Mikroglia, die zu einer Verringerung der markscheidenbildenden Oligodendrozyten und einer Vermehrung von Astrozyten („Gliose”) führen. Die meisten Entzündungsherde sind um Venen lokalisiert, was nach unserem heutigen wissenschaftlichen Verständnis damit zusammenhängt, dass dort der Blutfluss am langsamsten ist und die Adhäsion von Entzündungszellen ermöglicht. Allerdings ist auch früher schon aufgrund der perivenösen Lokalisation eine sog. venöse Stauungshypothese diskutiert worden.

Seit 5 Jahren wird von Prof. Zamboni, einem Gefäßspezialisten aus Ferrara, Italien, aufgrund von Ähnlichkeiten der Eisenablagerung in Entzündungsherden bei MS und chronisch venöser Insuffizienz der unteren Extremitäten postuliert, dass die Multiple Sklerose vielleicht durch Blockade der venösen Drainage aus dem zentralen Nervensystem entstehen könnte [1]. Nach seiner Theorie würde dies quasi zu einer venösen Abflussstauung führen, wodurch dann Stauungsblutungen mit sekundären Entzündungsreaktionen entstünden.

Nun müssen wir auch heute noch zugeben, dass wir die genaue Ursache der Multiplen Sklerose nicht kennen und deshalb auch neuartige Theorien ganz objektiv prüfen. Die von Prof. Zamboni postulierten Ultraschallkriterien zur Feststellung venöser Veränderungen in den tiefen Halsgefäßen wurden bei ihm von 100 % der MS-Patienten erfüllt. Viele andere Gruppen versuchten dies nachzuvollziehen, kamen aber nie auf mehr als 30–40 % pathologischer Befunde bei MS Patienten, aber auch bei sonst gesunden Kontrollen. Interessanterweise hat eine große Studie aus dem direkt neben Ferrara gelegenen Padua bei ganz früh betroffenen Patienten in der sog. CIS-Phase der Multiplen Sklerose solche Veränderungen ebenfalls nicht bestätigt [2]. Wenn in der Tat ein kausaler Zusammenhalt existiert, müsste man ja bei allen Patienten in der Frühphase der MS venöse Stauungen nachweisen können. Der Untersucher Prof. Baracchini hat vorher noch die Abteilung von Prof. Zamboni besucht, um ganz sicher dieselben Methoden zu verwenden. Aus meiner Sicht werden die Ergebnisse von Prof. Zamboni besonders dann problematisch, wenn man aufgrund der postulierten venösen Stauungen plötzlich anfängt im tiefen zervikalen Venensystem sog. venöse Stents einzulegen oder mit Angioplastie postulierte venöse Stauungen beheben möchte. Dies wurde in einer Zamboni-Arbeit in 2009 propagiert [3], und seither gibt es einen großen Ansturm von betroffenen MS-Patienten, die sich einem solchen radiologischen Eingriff unterziehen möchten. Zu betonen ist, dass in dieser Arbeit aus 2009 keinerlei Kontrollgruppe vorkam und dass auch die Nachbeobachtungskriterien der Patienten sehr heterogen waren. Dadurch wurden frühzeitig übertriebene Hoffnungen bei den Patienten geweckt. Da solche Leistungen natürlich nicht vom öffentlichen Gesundheitssystem bezahlt werden, sind viele Patienten dazu übergegangen, die Kosten von mehreren 1000 Euro selbst aufzubringen, und die Eingriffe entweder in osteuropäischen Ländern oder sogar auch in Indien durchführen zu lassen, wo sie deutlich günstiger angeboten werden.

Zusammenfassend ist bisher schon eine intensive und kritische wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der spektakulären Hypothese von Prof. Zamboni erfolgt; in Italien läuft sogar eine große Studie mit 1000 MS-Patienten. Allerdings konnte keine der solide durchgeführten wissenschaftlichen Untersuchungen Belege für die Validität dieser Befunde erbringen. Damit verbietet sich natürlich auch die infolgedessen verknüpfte Dehnung der tiefen Halsvenen. Wir tun gut daran, bei chronischen Erkrankungen wie der Multiplen Sklerose auch an seltene Ursachen zu denken, aber über die venöse Stauungshypothese wird die Problematik der Multiplen Sklerose sicherlich nicht gelöst werden.

Literatur

  • 1 Zamboni P. The big idea: iron-dependent inflammation in venous disease and proposed parallels in multiple sclerosis.  J R Soc Med. 2006;  99 589-593
  • 2 Baracchini C, Perini P, Calabrese M et al. No evidence of chronic cerebrospinal venous insufficiency at Multiple Sclerosis onset.  Ann Neurol. 2011;  69 90-99
  • 3 Zamboni P, Galeotti R, Menegatti E et al. A prospective open-label study of endovascular treatment of chronic cerebrospinal venous insufficiency.  J Vasc Surg. 2009;  50 1348-1358

Prof. Dr. med. Ralf Gold

Abteilung für Neurologie
St. Josef-Hospital Bochum
Klinikum der Ruhr-Universität Bochum

Gudrunstr. 56

44791 Bochum

Email: Ralf.Gold@ruhr-uni-bochum.de