Der Klinikarzt 2010; 39(9): 378-379
DOI: 10.1055/s-0030-1267424
MEDICA e. V.

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Psychologische Begleitung in der Palliativmedizin – Umgang mit Angst, Traurigkeit und Hilflosigkeit

Further Information
#

Korrespondenz

Zoom Image
Karl Neuwöhner

Zentrum für Palliativmedizin

Klinik Dr. Hancken GmbH

Harsefelder Str. 8

21680 Stade

Fax: 04141/604178

Email: neuwoehner@hancken.de

Publication History

Publication Date:
04 October 2010 (online)

 
Table of Contents

Die Palliativstation in Stade wurde 1991 im Rahmen des Modellversuchs "Palliativeinheit" des Bundesministeriums für Gesundheit mit 10 Betten im heutigen Medizinischen Versorgungszentrum "Klinik Dr. Hancken GmbH" eröffnet. Das Behandlungsteam von Ärzten und Pflegekräften mit den erforderlichen Zusatzqualifikationen wird ergänzt durch Psychologen, Sozialarbeiter und Physiotherapeuten und betreut im Durchschnitt 300 Palliativpatienten im Jahr mit fast ausschließlich onkologischen Erkrankungen.

Im Modellversuch "Palliativeinheit" wurde das Ziel der Palliativmedizin wie folgt definiert: "Ziel der palliativen Therapie ist die Linderung der Beschwerden, um die Lebensqualität der Erkrankten zu verbessern und ihre physische und psychische Stabilität so lange wie möglich zu erhalten" [1]. "Lebensqualität" ist als "multidimensionales Konstrukt" zu verstehen, "das die subjektive Bewertung seelischen, körperlichen und sozialen Erlebens enthält, bezogen auf einen definierten Zeitraum" [2]. Die Dimensionen subjektiven Erlebens (physisch, psychisch, sozial) lassen sich in spezifische Aspekte unterteilen, die als empirische Kriterien für Therapieeffekte ausgewählt werden können. In der psychischen Dimension sind dies zum Beispiel Angst, Depression, Compliance und subjektives Wohlbefinden. Diese Aspekte sind auch in der Palliativmedizin wichtige Themen der psychologischen Begleitung. Darum werden sie im Folgenden näher erläutert. Einen empirischen Beleg für die Bedeutung dieser Aspekte bei Palliativpatienten zeigen die Ergebnisse der "Psychoonkologischen Basisdokumentation", die als Zusatzmodul mit der bundesweiten Hospiz- und Palliativerhebung durchgeführt wurde.

#

Empirische Grundlagen

Die seit 1999 bestehende bundesweite Hospiz- und Palliativerhebung "HOPE" [3] bezieht sich auf spezifische Aspekte der Lebensqualität bei Hospiz- und Palliativpatienten. In verschiedenen Skalen können Morbidität, Versorgungsstatus, Funktionsstatus, Symptomlast, Behandlungs- und Medikamentenplan online erfasst (www.hope-clara.de) und einrichtungsintern ausgewertet werden. Für die psychische Dimension der Lebensqualität wurde die "Psychoonkologische Basisdokumentation" [4] als zusätzliches Instrument angeboten. Bei dieser Basisdokumentation handelt es sich um eine Fremdeinschätzung der subjektiven Belastung durch somatische und psychische Symptome der (Krebs-)Patienten auf der Basis eines strukturierten Interviews.

Eine Auswertung von 3 317 Datensätzen von Palliativ- und Hospizpatienten aus den Jahren 2004 bis 2006 dokumentierte die spezifische Einschränkung der Lebensqualität in der palliativen Situation einer weit fortgeschrittenen Erkrankung, das war in der Regel eine Krebserkrankung (> 90 %). Besonders belastet fühlten sich die Patienten durch ihre Angst, Sorge und Anspannung (36,4 % = "ziemlich" + "sehr"), durch ihre Traurigkeit und Niedergeschlagenheit (28,5 % = "ziemlich" + "sehr"), durch ihre Erschöpfung und Einschränkungen bei den Aktivitäten des täglichen Lebens (ATLs: 67 % = "ziemlich" + "sehr") und durch das Gefühl der Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins (37,8 % = "ziemlich" + "sehr"). Die Ergebnisse zeigen, dass Palliativpatienten - wie Krebspatienten allgemein - nicht mehr psychische Begleiterkrankungen aufweisen, als andere Patienten mit chronischen Erkrankungen auch. Eine Diagnostik nach den psychiatrischen Kriterien des ICD 10 würde die Probleme der Mehrzahl der Patienten daher nicht erfassen. Auch die objektive Symptomlast (Schmerzen, Luftnot, neurologische Symptome u. a.) korreliert nur schwach mit der subjektiven emotionalen Belastung. Selbst manifeste Symptome wie Luftnot oder Schmerzen werden zum Beispiel weniger belastend empfunden als die zunehmende Schwäche und Einschränkung in den alltagspraktischen Funktionen.

Zoom Image

Bild: Thieme Verlagsgruppe, Fotograf/Grafiker: A. Wolf

#

Angst, Sorgen, Anspannung

In der Praxis der psychologischen Begleitung der Patienten in einer palliativen Situation spielen aber somatische Symptome eine indirekte Rolle, indem sie nämlich durch die Veränderungen des äußeren und inneren Selbstbildes die Gründe für Ängste und Sorgen liefern (Tab. [1]).

Zoom Image

Tab. 1 Berichtete Ängste von Patienten in einer palliativen Situation.

Häufig nutzen die Patienten bekannte Strategien der Angstabwehr wie Verleugnung ("Es ist nur die Erkältung..."), Sublimierung in starke Kontrolle ("Frau Doktor, es ist schon acht Minuten nach...") oder die Projektion von Allmachtsgedanken ("Schwester, Sie sind meine Rettung ...") um die gefühlte Bedrohung zu verringern. Wenn die Handlungsfähigkeit verloren geht, sind therapeutische Interventionen sinnvoll, die nur selten Standardtechniken der Konfrontation oder Desensibilisierung nutzen können und weitaus häufiger in zugewandter Information ("Das war keine gute Nachricht... Möchten Sie noch mal darüber sprechen?") und verlässlicher Begleitung ("Ich kann gern wiederkommen. Lassen Sie mich rufen, wenn Sie mögen...") bestehen.

#

Traurigkeit, Trauer, Depression

Jede unheilbare Erkrankung ist eine andauernde Krisensituation, die dem Betroffenen ständige psychische Reaktionsleistungen abverlangt. Besonders die palliative Situation bzw. die "terminale Phase ist Höhepunkt und Spezialfall der Krise, da diese Krise im üblichen Sinn nicht lösbar ist." (Margit von Kerekjarto [5]).

Zwar ist bei etwa einem Drittel chronisch kranker Patienten mit einer echten Depression zu rechnen, die häufig nicht erkannt und nicht behandelt wird, weil sich somatische und psychische Symptome überlagern. Andererseits ist nicht jeder nächtliche Weinkrampf, auch wenn er sich wiederholt, eine "Depression". Für das Behandlungsteam ist die Unterscheidung zwischen "Traurigkeit", "Trauer" und "Depression" wichtig: "Depression" benennt eine krankhafte Verarbeitung von Verlusten (das Gefühl der Traurigkeit ist meist abgeschwächt oder gar nicht vorhanden).

Je mehr ein Mensch in der Lage ist, Traurigkeit zu fühlen und zu zeigen, desto geringer ist die Gefahr, depressiv zu reagieren. Weil Traurigkeit sehr ansteckend ist, muss unbedingt zwischen der eigenen Traurigkeit und der Traurigkeit des Patienten unterschieden werden. Diese Unterscheidung erfordert ein hohes Maß an kontinuierlicher Selbstreflexion.

#

"Compliance"

Mit "Compliance" (von Lat. "com-plectere" = zusammenflechten) soll hier die befristete Weggemeinschaft zwischen dem Patienten und dem Arzt, bzw. dem palliativmedizinischen Behandlungsteam gemeint sein. Das ist etwas anderes als eine paternalistische "Patientenführung" und mehr als nur eine funktionale "Kommunikation in schwierigen Situationen".

Die Compliance ist in der palliativen Situation erschwert, weil die Wege der beteiligten Partner sich trennen werden und diese Trennung ihre Schatten vorauswirft. Sie ist auch erschwert, weil die Erschöpfung, die Einschränkungen in den körperlichen Alltagsfunktionen und der Verlust des gewohnten Lebensraumes (z. B. im Krankenhaus oder Pflegeheim) von den Patienten einen erheblichen psychischen Anpassungsprozess fordert, zu dem die Kräfte oft nicht mehr reichen. Die Reduzierung auf eine Rolle als Hilfeempfänger und die Gefühle des beschädigten Selbstbildes, die mit dem zunehmenden Kräfteverfall verbunden sind, lassen den Patienten an seinem Wertgefühl zweifeln. Gerade diese Zweifel am Selbstwert können aber die Intensität und Häufigkeit somatischer Symptome wie Schmerzen, Übelkeit, Luftnot usw. in schwer kontrollierbare Höhen treiben. Darum ist es im Sinne einer guten Compliance sehr wichtig, einige Punkte zu beachten (Tab. [2]).

Zoom Image

Tab. 2 Wichtige Verhaltensweisen im Sinne einer guten Compliance.

#

"Subjektives Wohlbefinden"

Viele Patienten der Palliativmedizin beklagen explizit ihre Hilflosigkeit und das Gefühl des Ausgeliefertseins als eine besonders schwere Belastung. "Subjektives Wohlbefinden" als weiterer Bestandteil psychischer Lebensqualität lässt sich unter diesen Umständen nur fördern, wenn das Behandlungsteam auf die Bedürfnisse der Patienten eingeht und zum Beispiel auch bei sehr wechselhaften Gefühlsäußerungen respektvoll zuhört und anwesend bleibt. Darüber hinaus besteht bei vielen Patienten und Patientinnen ein starkes Bedürfnis nach Sinnfindung, indem sie eine letzte Antwort auf ihr Leben suchen. Die Unfähigkeit, einen Sinn im eigenen Leben zu entdecken oder bestätigt zu bekommen, verursacht einen existenziellen, seelischen und spirituellen Schmerz. Zur psychologischen Begleitung gehört daher das Angebot der Mitarbeit bei sogenannten "Bilanzgesprächen", in denen die Patienten Leistung und Last ihres Lebens ohne moralische Vorzeichen reflektieren können.

#

Literatur

  • 01 Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.). Modellprogramm zur Verbesserung der Versorgung Krebskranker - Palliativeinheiten. Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit, Band 95, Baden-Baden 1997 - vgl. auch die ausführlichere Definition der WHO in: National cancer control programmes: policies and managerial guidelines, 2nd ed. Geneva: World Health Organization; 2002
  • 02 Schwarz R (†) , Bernhard J , Flechtner H , Küchler Th , Hürny Ch  (Hrsg.). Lebensqualität in der Onkologie. Aktuelle Onkologie, Bd. 63. München: Zuckschwerdt; 1991: 146
  • 03 Radbruch L , Nauck F , Fuchs M , Neuwöhner K , Schulenberg D , Lindena G . What is palliative care in Germany? Results from a representative survey.  J Pain Symptom Manage. 2002;  23 471-483
  • 04 Herschbach P , Book K , Brandl T , Keller M , Lindena G , Neuwöhner K , Marten-Mittag B  . Psychological distress in cancer patients assessed with an expert rating scale.  Br J Cancer. 2008;  99 37-43
  • 05 Kerekjarto M von (†)  Begleitung sterbender Krebspatienten. In: Klußmann R , Emmerich B , (Hrsg.) Der Krebskranke. Psychosomatische Medizin im interdisziplinären Gespräch, Bd. 5 Heidelberg: Springer; 1990: 102-111
#

Korrespondenz

Zoom Image
Karl Neuwöhner

Zentrum für Palliativmedizin

Klinik Dr. Hancken GmbH

Harsefelder Str. 8

21680 Stade

Fax: 04141/604178

Email: neuwoehner@hancken.de

#

Literatur

  • 01 Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.). Modellprogramm zur Verbesserung der Versorgung Krebskranker - Palliativeinheiten. Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit, Band 95, Baden-Baden 1997 - vgl. auch die ausführlichere Definition der WHO in: National cancer control programmes: policies and managerial guidelines, 2nd ed. Geneva: World Health Organization; 2002
  • 02 Schwarz R (†) , Bernhard J , Flechtner H , Küchler Th , Hürny Ch  (Hrsg.). Lebensqualität in der Onkologie. Aktuelle Onkologie, Bd. 63. München: Zuckschwerdt; 1991: 146
  • 03 Radbruch L , Nauck F , Fuchs M , Neuwöhner K , Schulenberg D , Lindena G . What is palliative care in Germany? Results from a representative survey.  J Pain Symptom Manage. 2002;  23 471-483
  • 04 Herschbach P , Book K , Brandl T , Keller M , Lindena G , Neuwöhner K , Marten-Mittag B  . Psychological distress in cancer patients assessed with an expert rating scale.  Br J Cancer. 2008;  99 37-43
  • 05 Kerekjarto M von (†)  Begleitung sterbender Krebspatienten. In: Klußmann R , Emmerich B , (Hrsg.) Der Krebskranke. Psychosomatische Medizin im interdisziplinären Gespräch, Bd. 5 Heidelberg: Springer; 1990: 102-111
#

Korrespondenz

Zoom Image
Karl Neuwöhner

Zentrum für Palliativmedizin

Klinik Dr. Hancken GmbH

Harsefelder Str. 8

21680 Stade

Fax: 04141/604178

Email: neuwoehner@hancken.de

 
Zoom Image

Bild: Thieme Verlagsgruppe, Fotograf/Grafiker: A. Wolf

Zoom Image

Tab. 1 Berichtete Ängste von Patienten in einer palliativen Situation.

Zoom Image

Tab. 2 Wichtige Verhaltensweisen im Sinne einer guten Compliance.

Zoom Image