Fragestellung
Welchen Effekt hat ein achtwöchiges Krafttraingsprogramm für die Hüftgelenkabduktoren
auf die Kraft und die funktionelle Belastbarkeit des Kniegelenks sowie auf die Schmerzen
von Patienten mit medialer Gonarthrose?
Hintergrund
Eine übermäßige Belastung des Kniegelenks kann dazu führen, dass sich bereits bestehende
Kniegelenkarthrosen verschlechtern. Einer dieser belastenden Faktoren ist der sogenannte
Knie-Adduktions-Moment (KAddM), der die medial auf das Knie einwirkenden Kräfte bezeichnet.
Studien zeigen, dass der KAddM bei Patienten mit medialer Gonarthrose größer ist als
bei Gesunden. Sled und Kollegen vermuten, dass eine Kräftigung der Hüftgelenkabduktoren
unter anderem diesen KAddM verringern und somit die schädlichen, auf das mediale Kompartment
eintreffenden Kräfte reduzieren könnte.
Einschlusskriterien
Patienten konnten teilnehmen, wenn sie älter als 40 Jahre waren, an den meisten Tagen
eines Monats an Kniegelenkschmerzen litten sowie einen radiologischen oder arthroskopischen
Nachweis einer Arthrose des medialen Kniegelenkkompartments hatten.
Ausschlusskriterien
Ausgeschlossen wurden Patienten, die während der letzten drei Monate eine intraartikuläre
Injektion mit Kortison erhalten hatten oder signifikante Komorbiditäten oder andere
Erkrankungen aufwiesen, die durch die Einnahme von Medikamenten für das arthrotische
Kniegelenk entstanden waren. Ebenfalls nicht teilnehmen konnten Menschen mit Koxarthrose,
vorausgegangenen Traumata oder Totalendoprothesen der unteren Extremität sowie Betroffene,
die bereits an anderen Rehabilitations- oder Kräftigungsprogrammen für die Hüftgelenkmuskulatur
partizipierten.
Studiendesign
Nonequivalent, pretestposttest control design. Dieses Design beinhaltet zwei nicht
äquivalente Gruppen (in diesem Fall Patienten mit Gonarthrose und Gesunde), von welchen
eine Gruppe eine Intervention durchläuft und die Kontrollgruppe keine Behandlung erhält.
Entsprechend gab es auch keine Randomisierung.
Intervention
80 Patienten wurden gleichmäßig auf zwei Gruppen verteilt:
Gruppe 1 (mit Arthrose, n=40): Ein Physiotherapeut instruierte den Patienten ein Kräftigungsprogramm
für die Hüftgelenkabduktoren, das die Teilnehmer 3–4-mal pro Woche über einen Zeitraum
von acht Wochen durchführen sollten. Die Probanden bekamen außerdem ein Handbuch mit
der genauen Übungsabfolge sowie Therabänder.
Die Übungen waren:
-
Hüftgelenkabduktion in Seitenlage gegen den Widerstand eines Therabands
-
Stabilisationsübungen im Einbeinstand bzw. Abduktionsübungen im Einbeinstand gegen
Widerstand
-
Training der Hüftgelenkabduktoren im Einbeinstand auf einer Stufe
Gruppe 2 (gesunde Kontrollgruppe, n=40): Diese Gruppe sollte ihre täglichen Aktivitäten wie
gewohnt fortführen und kein Übungsprogramm beginnen.
Ergebnisparameter
Outcome-Parameter waren radiologische Aufnahmen der unteren Extremität, bei denen
die Forscher die Achsenverhältnisse von Femur und Tibia in der Frontalebene mithilfe
eines speziellen Computerprogramms ermittelten. Die Schwere der Gonarthrose schätzten
Radiologen mithilfe der Kellgren-Lawrence Scale ein. In einer Ganganalyse wurden zudem
dreidimensionale Daten der Bewegung des Kniegelenks ermittelt. Die Kraft der Hüftgelenkabduktoren
maßen die Wissenschaftler mit einem isokinetischen Dynamometer. Zur Beurteilung der
funktionellen Leistungsfähigkeit verwendeten sie den Five-times-sit-to-stand-Test.
Die Stärke der Knieschmerzen eruierten sie mithilfe des Western-Ontario-and-McMasters-Fragebogens.
Ergebnisse
Nach acht Wochen hatte die Interventionsgruppe deutlich mehr Kraft bei der Hüftgelenkabduktion
als die übrigen Probanden, eine bessere funktionelle Leistungsfähigkeit und weniger
Schmerzen im Kniegelenk. Der KAddM hatte sich nicht verändert.
Schlussfolgerung
Obwohl das Übungsprotokoll die Varuskomponente des betroffenen Kniegelenkes nicht
beeinflusste, profitierten die Patienten mit medialer Gonarthrose trotzdem von ihm:
Sie hatten eine bessere funktionelle Leistungsfähigkeit und weniger Schmerzen im Kniegelenk.
-
Sled EA, Khoja L, Deluzio KJ et al. Effect of a Home Program of Hip Abductor Exercises
on Knee Joint Loading, Strength, Function, and Pain in People with Knee Osteoarthritis.
Phys Ther 2010; 90: 895–904
Kommentar: Schmerzlinderung ein Effekt der Kokontraktion?
Patientencharakteristika lückenhaft
Es fehlen einige Angaben bei den Patientencharakteristika. So wird nicht beschrieben,
wie lange die Patienten schon Beschwerden hatten und wie ausgeprägt die radiologischen
Zeichen waren. Außerdem erwähnen die Autoren nicht, wie viele Teilnehmer eine Gonarthrose
auf beiden Seiten hatten. Diese Faktoren können Einfluss auf die Resultate haben.
Die Probanden der Gonarthrose-Gruppe hatten einen höheren BMI (Body Mass Index) und
ein größeres Varus-Alignement. Vor der Intervention bewältigten sie die Gehstrecke
in einem langsameren Tempo als die Kontrollgruppe und führten auch den Five-times-sitto-stand-Test
langsamer aus. Im Verlauf der Studie konnten die Betroffenen allerdings weder die
Steifheit noch die Funktion ihres Kniegelenks verbessern.
Interessant ist, dass die Patienten mit Gonarthrose insgesamt ein höheres Aktivitäts
niveau hatten als die gesunde Kontrollgruppe.
Kniemuskelkraft und Gangstrategien nicht beachtet
Eine Limitation der Studie ist die fehlende Messung der Kniemuskelkraft vor und nach
der Intervention. Sled und ihre Kollegen vermuten, dass die gewichttragenden Übungen,
die als Teil des Kräftigungsprogramms durchgeführt wurden, eine Kokontraktion anderer
Muskeln des Beines und der Rumpfmuskulatur erzeugten. So könnte es sein, dass die
Verbesserungen des Sit-to-stand-Tests und die Schmerzlinderung im Knie eher auf den
Kraftzuwachs der knieumgebenden Muskulatur zurückzuführen sind als auf die Verbesserung
der Kraft der Hüftgelenkabduktoren. Außerdem untersuchten die Autoren nicht, ob die
Probanden Gangstrategien hatten, die den KAddM beeinflussen könnten – also ob sie
zum Beispiel beim Gehen den Oberkörper über das betroffene Bein verlagerten.
Fazit: Spezifischere Übungsprotokolle entwickeln
Diese Studie zeigt, dass sich Kräftigungstraining der Hüftgelenkabduktoren positiv
auf einen Teil der vielfältigen Beschwerden von Patienten mit Gonarthrose auswirkt
und daher auf jeden Fall in der Therapie zum Einsatz kommen sollte. Auf gestörte Bewegungsmuster,
beispielsweise die erhöhte Varusbelastung des arthrotischen Kniegelenks (KAddM), scheint
eine solche Intervention jedoch keinen Einfluss zu haben. Interessant zu wissen wäre,
ob sich die Schmerzen deutlicher verbessern würden, wenn die Kräftigungsübungen nicht
nur die Hüftgelenkabduktoren, sondern auch andere Abschnitte des Bewegungsapparats
mit einbeziehen würden – beispielsweise die obere Extremität und den Rumpf. Zusätzlich
wäre eine genauere Diagnostik der Kraft und Innervation der gleichseitigen Hüftgelenkabduktoren
in unterschiedlichen Hüftgelenkstellungen sinnvoll. Denn in der klinischen Praxis
zeigt sich häufig, dass die Abduktionskraft des extendierten Hüftgelenks sowie die
Innervation der kleinen Glutealmuskulatur in angenäherter Stellung nicht zufriedenstellend
sind. Mit solchen Daten könnten spezifischere Übungsprotokolle entwickelt werden als
das in der Studie beschriebene.
Wir glauben, dass Übungen zur Verbesserung der Wahrnehmung und der Bewegungskontrolle
hier zu einem besseren Ergebnis führen würden. Doch das müssen
aussagekräftige Studien zuerst zeigen.