physiopraxis 2010; 8(11/12): 50-53
DOI: 10.1055/s-0030-1270094
physiospektrum

Direktzugang in Australien – Verantwortungsvolle Freiheit

Marion Pälmke, Christoff Zalpour
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Publication Date:
30 November 2010 (online)

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In Australien können sich Patienten seit 1976 direkt vom Physiotherapeuten behandeln lassen – ohne ärztliche Überweisung. First Contact, flexible Honorare und Behandlungseinheiten klingen nach Traumbedingungen. Ein Besuch Down Under, in einem der ersten Länder mit Direktzugang zur Physiotherapie.

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Marion Pälmke (BSc PT) und Prof. Dr. Christoff Zalpour besuchten Brigitte Tampin in ihrer Praxis in Fremantle. Marion Pälmke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Osnabrück und schreibt derzeit ihre Masterarbeit an der HAWK Hildesheim.

Christoff Zalpour ist Professor für Physiotherapie an der Hochschule Osnabrück und engagiert sich für den internationalen Austausch von Lehrenden und Studierenden unter anderem beim European Network of Physiotherapy (www.ENPHE.org). Außerdem leitet er das Austauschprogramm Bachelor Plus Physiotherapy.

Brigitte Tampin weiß, wie es ist, in Australien als Physiotherapeutin zu arbeiten. Die Deutsche lebt seit 18 Jahren in Australien. Seit 11 Jahren hat sie eine eigene Praxis in Fremantle, einer Hafenstadt südlich von Perth. Wir besuchten sie dort und treffen sie in einem geräumigen Vorraum an ihrem Schreibtisch an. Schon als sie uns in ihr gemütliches Behandlungszimmer führt, sehen wir erste Unterschiede zu Deutschland: Im Raum steht nur eine Therapieliege (Abb. 3). Keine Sprossenwand, kein Schlingentisch – in Australien gibt es keine Vorgaben zur Praxiseinrichtung. Das ist einer von vielen Unterschieden.

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Abb. 3 Sie hat in ihrem Behandlungszimmer weder Schlingentisch noch Sprossenwand: Vorschriften wie in Deutschland gibt es in Australien nicht.

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Ein Muss: ernste Krankheiten erkennen

Berichtet Brigitte Tampin von ihrer Arbeit, fällt ihr vieles ein, das in Deutschland anders geregelt ist. Kernpunkt: In Australien kommen die meisten Patienten ohne ärztliche Überweisung zu ihr in die Praxis. So zum Beispiel Alan. Er hat seit einer Woche Schmerzen im unteren Rücken mit Ausstrahlungen ins linke Bein. Alan erinnert sich, dass ihm die Physiotherapie bei einer Sportverletzung vor fünf Jahren schnell geholfen hat. Daher sucht er dieses Mal die Praxis der deutschen Therapeutin direkt auf (Abb. 2) und spart sich den Gang zum Arzt. Für die erste Therapieeinheit nimmt sich Brigitte Tampin eine Dreiviertelstunde Zeit: Sie befragt Alan ausführlich zu seinen Beschwerden und untersucht ihn gründlich. Da Alan zuvor nicht bei seinem Arzt war, muss die Physiotherapeutin erst einmal über eine gewissenhafte differenzialdiagnostische Untersuchung ernsthafte Pathologien ausschließen.

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Abb. 2 Die meisten Patienten kommen ohne Überweisung vom Arzt in die Praxis von Brigitte Tampin, die vor ihrer Hochzeit van der Heide hieß.

In Australien müssen sich alle Physiotherapeuten nach ihrer Ausbildung beim National Registration Board registrieren und dürfen dann ohne ärztliche Verordnung Patienten behandeln (First Contact Practitioner). Durch den Direktzugang verfügen australische Physiotherapeuten über einen großen Handlungsspielraum. Er bringt ihnen eine immense Behandlungsfreiheit, überträgt ihnen aber auch viel Verantwortung: Die Rolle eines First Contact Practitioners erfordert ein breites Fachwissen, sehr gutes Clinical Reasoning sowie differenzialdiagnostische Fähigkeiten. Auch wenn selten ernsthafte Pathologien vorliegen, muss diese der Therapeut unbedingt erkennen [2].

Keine Sprossenwand, kein Schlingentisch.

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Röntgenaufnahmen: auf Anordnung des Physiotherapeuten

Nach ihrem Befund ist sich Brigitte Tampin sicher, dass bei Alan eine Radikulopathie vorliegt und sie ihm mit Physiotherapie helfen kann. Weitere Untersuchungen wie bildgebende Verfahren (CT oder MRT) sind ihrer Meinung nach noch nicht notwendig. Anders war es bei Kate: Nachdem sie in der Dusche ausgerutscht war, kam sie mit starken Schmerzen an Halswirbelsäule und Clavicula in ihre Praxis. Bei der Untersuchung stellte sich heraus, dass die Patientin starke Schmerzen verspürt, wenn sie ihren Arm bewegt. Zudem stieß Brigitte Tampin bei der Inspektion und Palpation auf eine verschobene Clavicula. Daraufhin wies sie eine Röntgenuntersuchung beim Arzt an. Das Röntgenbild bestätigte ihren Verdacht: Kate hatte sich die Clavicula gebrochen.

Trotz des großen Handlungsspielraums, den die Physiotherapeuten in Australien haben, erkennt man eine Hierarchie zu den Medizinern: Australische Patienten zahlen zum Beispiel bei Röntgenuntersuchungen einen Teil der Kosten selbst. Werden sie vom Physiotherapeuten zu einer Röntgenaufnahme überwiesen, übernehmen die Krankenkassen bei manchen dieser Aufnahmen allerdings weniger Kosten, als wenn sie von einem Arzt veranlasst worden wären. Dies führt dazu, dass viele Patienten eher einen Allgemeinmediziner aufsuchen.

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Abb. 1 Brigitte Tampin hat ihre Physiotherapieausbildung in Deutschland abgeschlossen. In Perth machte sie 1991 ihr Diplom in Manueller Therapie. Seit 1998 hat die Physiotherapeutin den Master of Science. Sie führt eine eigene Praxis in Fremantle und ist zudem als Advanced Physiotherapy Practitioner in einer neurochirurgischen Ambulanz tätig. Sie arbeitet derzeit an ihrer Promotion zu Schmerzmechanismen bei Patienten mit zervikalen Radikulopathien. Außerdem ist sie Mitherausgeberin der Zeitschrift physioscience. (Fotos 1-3: C. Zalpour)

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Physiotherapie: effizient und effektiv

Inzwischen hat Alan seine dritte Behandlungseinheit absolviert, und seine Symptome haben sich deutlich verbessert. Alan ist erleichtert. Während die Physiotherapie in Deutschland eine Leistung der gesetzlichen Krankenkasse ist, zahlen die Patienten in Australien ihre Behandlungen meist privat. Sie erwarten einen raschen Behandlungserfolg, sind aber auch bereit, sich aktiv an der Therapie zu beteiligen. Brigitte Tampin merkt das besonders daran, dass viele ihrer Patienten engagiert zu Hause üben. Auch ihre Beratungen in der Behandlung haben bei den Patienten einen hohen Stellenwert. Abwarten und Tee trinken gibt es in Australien nicht. Verbessern sich die Beschwerden nach einigen Behandlungseinheiten nicht, wird die Therapie abgebrochen und nach Alternativen gesucht.

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Honorar: selbst bestimmen

Die Behandlungszeiten legen australische Physiotherapeuten selbst fest. Brigitte Tampin plant beispielsweise generell 45 Minuten für die erste Sitzung ein. Die weiteren Therapieeinheiten dauern bei ihr meistens 25 Minuten – wie bei Alan. Doch wenn sie einmal bei einem Patienten das Gefühl hat, das reicht nicht aus, dann behandelt sie länger.

»Reichen 25 Minuten nicht aus, behandle ich länger.«, Brigitte Tampin

Ihr Honorar macht Brigitte Tampin von der Art und Dauer der Behandlung abhängig. Alans erste Therapieeinheit über 45 Minuten kostete 85 AUS$ – das sind umgerechnet circa 60 Euro. Jede weitere Behandlung dauert 25 Minuten, wofür er jeweils 70 AUS$ (circa 50 Euro) zahlt. Die meisten australischen Physiotherapeuten verlangen ein ähnliches Honorar, verbindliche Vorgaben gibt es jedoch nicht. Der Berufsverband APA (Australian Physiotherapy Association) empfiehlt allerdings, sich bei der Honorarhöhe an der jeweiligen Qualifikation zu orientieren.

Inzwischen hat Alan die letzte Behandlungseinheit geschafft und ist sehr zufrieden. Seine Erwartungen waren hoch, als er in die Physoptherapiepraxis kam. Doch die deutsche Physiotherapeutin hat ihn nicht enttäuscht. Brigitte Tampin ist sich der großen Verantwortung als First Contact Practitioner bewusst und genießt ihren anspruchsvollen Beruf [3].

Als wir nach unserer Australienreise wieder in Deutschland ankommen, ist dort natürlich noch alles beim Alten: Der Direktzugang wird heiß diskutiert, und Physiotherapie gibt es weiterhin nur auf Rezept. Doch dank der fortschreitenden Akademisierung und Professionalisierung des Berufs sind wir auch hierzulande langsam, aber sicher auf dem besten Weg zum Direktzugang.

Advanced Physiotherapy Practitioner

Zur Entlastung des Arztes

Der Advanced Physiotherapy Practitioner (auch Extended Scope Practitioner genannt) ist für australische Physiotherapeuten ein neuer Aufgabenbereich: In Ambulanzen untersuchen sie anstelle des Arztes Patienten und bestimmen den weiteren Behandlungsverlauf. Das soll die Wartezeiten verkürzen. Advanced Physiotherapy Practitioner entscheiden, ob eine Konsultation des Arztes erforderlich ist, um beispielsweise die Notwendigkeit einer Operation zu klären. Wer als Advanced Physiotherapy Practitioner arbeiten möchte, braucht langjährige Berufserfahrung und eine Weiterbildung in Form von Post-Graduate-Physiotherapy-Kursen, die in Australien an Hochschulen angeboten werden [3].

In Notfallambulanzen beispielsweise übernehmen Physiotherapeuten die Untersuchung und Behandlung von unkomplizierten Verletzungen im muskuloskeletalen Bereich, wie ein Fallbeispiel zeigt [1]: Marge fällt und verletzt sich am Arm. Sie fährt direkt zur nächsten Notaufnahme, wo sie sofort von der Physiotherapeutin Jackie betreut wird. Marge berichtet ihr von ihrem Unfall, und Jackie untersucht anschließend ihre Verletzung. Die Physiotherapeutin ordnet Röntgenaufnahmen an, die sie zusammen mit dem Radiologen anschaut. Dabei stellen sie fest, dass Marges Unterarm gebrochen ist. Gleich am nächsten Morgen soll sie operiert werden. Bis dahin legt Jackie Marge einen Gipsverband an.

Nach der Operation erklärt Jackie, wie Marge den angelegten Gips pflegen soll. Sie weist darauf hin, dass Marge den Arm hochlagert und auf Veränderungen wie Schwellungen oder Schmerzen achtet. Außerdem erklärt sie die Schmerzmedikation und den weiteren Therapieverlauf. Da sich Marge nicht sicher ist, wie es zu dem Sturz kommen konnte, überweist Jackie sie zu einem Rehabilitationszentrum. Dort soll ein Physiotherapeut die Ursache für Marges Gleichgewichtsstörungen untersuchen.

Bachelor Plus Physiotherapy

Studieren in Perth

Studierende der Hochschule Osnabrück haben die Möglichkeit, mit einem Stipendium des Deutschen Akademischen Austausch Dienstes (DAAD) zwei Semester in Australien an der Curtin University in Perth zu studieren. Nähere Informationen finden Sie unter: www.wiso.hs-osnabrueck.de/bscpluspt.

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Abb. 3 Sie hat in ihrem Behandlungszimmer weder Schlingentisch noch Sprossenwand: Vorschriften wie in Deutschland gibt es in Australien nicht.

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Abb. 2 Die meisten Patienten kommen ohne Überweisung vom Arzt in die Praxis von Brigitte Tampin, die vor ihrer Hochzeit van der Heide hieß.

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Abb. 1 Brigitte Tampin hat ihre Physiotherapieausbildung in Deutschland abgeschlossen. In Perth machte sie 1991 ihr Diplom in Manueller Therapie. Seit 1998 hat die Physiotherapeutin den Master of Science. Sie führt eine eigene Praxis in Fremantle und ist zudem als Advanced Physiotherapy Practitioner in einer neurochirurgischen Ambulanz tätig. Sie arbeitet derzeit an ihrer Promotion zu Schmerzmechanismen bei Patienten mit zervikalen Radikulopathien. Außerdem ist sie Mitherausgeberin der Zeitschrift physioscience. (Fotos 1-3: C. Zalpour)