Z Sex Forsch 2011; 24(2): 187-190
DOI: 10.1055/s-0031-1271531
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Günter Amendt

8. Juni 1939–12. März 2011
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Publication Date:
15 June 2011 (online)

Günter Amendt hatte viele Zuhause, eines bei den Sexualwissenschaftlern in Hamburg und Frankfurt. Mit seinem Umzug nach Hamburg in den 1970ern wurde Günter gewissermaßen ein Ehrenmitglied der Abteilung für Sexualforschung der Universität Hamburg und blieb es, solange Eberhard Schorsch und ich dort arbeiteten. 

Zusammen mit zwei Geschwistern wuchs Günter Amendt bei der Mutter in Frankfurt am Main auf. Der Vater kam 1942 als Soldat ums Leben. Nach der Realschule absolvierte Amendt eine kaufmännische Lehre bei einem Mineralölmulti. Auf dem zweiten Bildungsweg erwarb er das Abitur und studierte an der Universität Frankfurt am Main Sozialwissenschaften bei Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas und Ludwig von Friedeburg. Er schloss sich dem SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) an und gehörte bald zu den besonders einflussreichen Köpfen dieser Gruppe, die die Studentenbewegung der Bundesrepublik maßgeblich prägte. 

Als Volkmar Sigusch und ich Günter im Jahr 1969 fragten, ob er ein Jugendbuch für unsere neue sexualwissenschaftliche Taschenbuchreihe schreiben wolle, antwortete er: Dass er an einem solchen Buch bereits sitze; dass es mit Popbildern des Zeichners Meysenbug illustriert werden solle; dass es den Arbeitstitel „Wenn das Spermlein zum Eilein …“ habe; dass es Jugendlichen zumindest ein zeitweises Ausbrechen aus gesellschaftlich vermittelten Zwängen ermöglichen solle. Und dass unsere Reihe nicht das geeignete Medium für dieses Buch sei. Aus dem Projekt, das er beschrieb, wurde die „Sexfront“, 1970 im März-Verlag erschienen, unendlich erfolgreich, bis heute immer wieder gedruckt. Es ist ein Aufklärungsbuch. Ein gut 60-Jähriger, der vom Tod Günter Amendts erfahren hatte, sagte traurig: „Der hat mich doch aufgeklärt“ – und diesen Satz könnten hierzulande viele sagen, Männer und Frauen zwischen 15 und 70 Jahren. „Sexfront“ ist aber mehr als ein Aufklärungsbuch: Es ist der schönste, unverklemmteste und praktischste Beitrag der Achtundsechziger zur sexuellen Frage; es machte den sexuellen Aufbruch Jugendlicher und junger Erwachsener lebbar, war damals konkret utopisch, ein „Walden“ der Sexualität. Und „Sexfront“ veränderte radikal die kulturellen und ästhetischen Traditionen, über Sexualität zu kommunizieren, indem es mit Witz und Ironie vom Sex handelte und ihn gelegentlich als Groteske inszenierte. Amendt spielte gekonnt mit Provokationen, wie schon in seiner Silvesterrede 1967 / 68, als er Schülerinnen und Schüler aufforderte, Reck und Barren und andere Kastrations- und Entjungferungswerkzeuge aus den Turnhallen zu entfernen, die Matten auszubreiten und Liebe zu machen. Es gab einen Sturm der Entrüstung, weil Eiferer Metaphern – müde Scherze, wie Amendt später einmal sagte – für bare Münze nahmen. So wirkte auch die „Sexfront“, sie wurde kurzfristig zum Skandal, es kam zu gerichtlichen Verfahren mit dem Ziel, das Buch als jugendgefährdend zu indizieren. Ein Gutachten der Hamburger Sexualforscher, gut dreißig Seiten lang, half, dem Spuk ein Ende zu bereiten. Das „Sexbuch“, Günter Amendts zweites Jugendbuch, zehn Jahre später geschrieben, war detaillierter in den Informationen und ausführlicher zur Geschlechterfrage. Der Zauber des Anfangs aber blieb bei der „Sexfront“. 

Zwischen „Sexfront“ und „Sexbuch“ promovierte Günter Amendt mit einer umfangreichen und besonders arbeitsintensiven qualitativ-empirischen Studie über die Sexualität Jugendlicher in der Drogensubkultur bei der Soziologin Helge Pross an der Universität Gießen. Die Arbeit mit dem Titel „Haschisch und Sexualität“ erschien 1974 in der sexualwissenschaftlichen Monographienreihe „Beiträge zur Sexualforschung“. Längst ein berühmter Zeitgenosse, war Amendt auf eine anrührende Weise stolz auf diese akademische Leistung, die er neben all seinen anderen Arbeiten und trotz der Belastungen durch viele Politprozesse tatsächlich schaffte. Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke im Frühjahr 1968 hatte Günter Amendt die spektakuläre Demonstration organisiert, mit der die Auslieferung der Bild-Zeitung in Hamburg für einen Tag verhindert wurde. Er wurde, letztinstanzlich vom Bundesgerichtshof, zur Zahlung von DM 100 000 Schadensersatz an den Springer-Verlag verurteilt. Kurz nach der Promotion bewarb sich Amendt auf eine Professur für Sexualpädagogik der Universität Gießen. Als sich abzeichnete, dass alles auf ihn hinauslief, wurde die Stelle „von oben“ kassiert. Ein Berufsverbot für den öffentlichen Dienst. 

Die sexualwissenschaftlichen und sexualpolitischen Schriften Günter Amendts sind moralisch rigoros, was seine konservativen Widersacher lange nicht merkten, weil er eine Moral von unten vertrat und nicht, wie sie, eine von oben, also der Institutionen und Autoritäten. Gleichberechtigung, Solidarität und Konsens der handelnden Personen sind schon die moralischen Prinzipien der „Sexfront“. Diese Haltung sensibilisierte ihn früher als die meisten von uns Männern für die Problematik sexueller Grenzverletzungen und des sexuellen Missbrauchs, und er schrieb hierzu 1980 im zweiten Heft von „Sexualität konkret“ einen entschiedenen und glasklaren Text mit dem schrillen Titel „Nur die Sau rauslassen?“, der vieles der nachfolgenden Selbstbestimmungs- und Gewaltdebatte vorweg nahm. 

Ende der 1980er zog sich Günter Amendt aus der Sexualforschung zurück. Vorausgegangen war eine heftige Auseinandersetzung über die Rolle der empirischen Sexualforschung im Zeichen von Aids. Amendt fürchtete, dass staatlich finanzierte Forschungsvorhaben die Sexualität schwuler Männer ausleuchten sollten, um sie notfalls mit Zwangsmaßnahmen zu kontrollieren. Andere glaubten, dass solche Forschungen Leben retten könnten, solange die WissenschaftlerInnen Fragestellung, Durchführung, Auswertung und Publikation selbst bestimmten, was ihnen selbstverständlich erschien. Amendt wurde von der Furcht umgetrieben, die Konservativen würden Aids für eine sexualpolitische und geschlechterpolitische Wende nutzen, und dass selbst kritische Sexualwissenschaftler diese Gefahr unterschätzten. Die Diskussionen waren zermürbend und hinterließen Spuren bei uns allen. Günter verließ die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung, zu deren Vorstand er lange gehört hatte, und erklärte, dass er die Sexualforschung hinter sich lassen wollte – auch aus Mangel an Erkenntnisinteresse, wie er später hinzufügte. 

Er widmete sich nun verstärkt seinem anderen Arbeitsfeld, der Politökonomie des Drogenhandels und des Drogenkonsums. Nach seinem frühen, 1972 erschienenen Buch „Sucht. Profit. Sucht“ schrieb er zwischen 1987 und 2008 fünf weitere Bücher zum Thema: „Der große weiße Bluff“, „Die Droge. Der Staat. Der Tod“, „XTC. Ecstasy und Co“ (zusammen mit Patrick Walder), „No Drugs. No Future“ und „Die Legende vom LSD“. Ein Buch über Doping im Sport, bei der Arbeit und im ganz alltäglichen Leben konnte er nicht mehr zu Ende schreiben. Zuletzt setzte er sich mit „Neuro-Enhancement“ als Stütze der kapitalistischen Produktionsweise auseinander. Und Günter Amendt fand – nach seinem Rückzug aus der Sexualforschung – mehr Zeit für seine „dylanologischen“ Studien. Über Bob Dylan, sein Alter Ego, schrieb er wohl seine literarisch schönsten Stücke, in denen er seine Liebe und Distanz in ein gelungenes Verhältnis setzte. Über eins seiner vielen Dylan-Bücher, dem 1991 erschienenen „The Never Ending Tour“, sagte er einmal, dass es ein Nebenwerk mit der subjektiven Bedeutung eines Hauptwerkes sei. Eine „Lange Nacht“ im Deutschlandfunk zu Dylans 70. Geburtstag, die er mit Elan und Freude vorbereitete, konnte er nicht mehr fertigstellen. Uns bleibt, seine „Lange Nacht“ zu Dylans 60. aus dem Jahr 2001 noch einmal anzuhören, mit Amendts Auswahl seltener Songaufnahmen, seinen Analysen der letzten Alben und seiner Satire über einen fiktiven Kongress der Gemeinde der Dylan-Deuter zum Thema „Dylan und die Frauen“. 

An seine selbst verfügte sexualwissenschaftliche Abstinenz hielt sich Günter Amendt mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit, nahm aber zum Glück für uns alle immer wieder Auszeiten. So gewannen wir ihn kurz nach seinem Rückzug für den wissenschaftlichen Beirat unserer neu gegründeten „Zeitschrift für Sexualforschung“; oder er trug als Gutachter eines Bundestagsausschusses entscheidend dazu bei, die Verschärfung der Pornografiegesetzgebung (im Sinne der PorNo-Debatte) scheitern zu lassen, weil er ­darin eine Legalisierung der Zensur sah; oder er hielt vor wenigen Jahren in Zürich – der Stadt, in der er seine schönsten Vorträge hielt – eine Rückschau auf die „Sexfront“, um nur einiges zu nennen. Günter Amendt war ein großer Redner. Ich kenne keinen, der seine Vorträge so akribisch vorbereitete. Sie waren Bühnenauftritte, er übte sie vorher, wie er einmal gestand, um seine Botschaft wirkungsvoll zu vermitteln. Und er hielt manchen praktischen Rat für Kollegen bereit. Mitte der 1980er hielten wir beide Vorträge in Berlin zum Komplex HIV / Aids. Ich gestand ihm, dass ich den Vortrag schon einige Male präsentiert hatte und dass mir das unangenehm sei. Was denn dabei sei, erwiderte er, Bob Dylan singe seine Songs doch auch immer wieder. Ich gewann ein gelassenes Verhältnis zu Wiederholung und Variation. 

Im letzten Jahr dann veröffentlichte er im „Merkur“ einen großen Essay über die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche und den Versuch, die Achtundsechziger dafür dingfest zu machen, ein Follow-up zu „Nur die Sau rauslassen?“. Die Arbeit daran brachte ihn auf die Idee, Volkmar Sigusch und mich zu fragen, ob wir nicht einige unserer Aufsätze zur alten und neuen Missbrauchsdebatte und zum sonstigen Zustand des Sexuellen zu einem Buch zusammenbinden, dies unter dem Titel „Sex tells“ Hermann Gremliza zum 70. Geburtstag widmen und damit zugleich an die legendären „Sexualität konkret“ Hefte der 1970er und 1980er Jahre erinnern sollten. Das haben wir gemacht, und einige Wochen lang eng zusammen gearbeitet. In all der Traurigkeit ist es ein Trost, dass dies noch einmal möglich war. 

Am Nachmittag des 12. März dieses Jahres stand Günter Amendt mit zwei Freunden an einer Fußgängerampel in Hamburg, als ein Auto, dessen Fahrer die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren hatte, ihn und seine Freunde erschlug. 

„Not dark yet, but it’s getting there“? It’s dark now. 

Gunter Schmidt